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Lagebild Antisemitismus Krisen mit antisemitischen Bauplänen

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Die Erzählung eines "grünen Morgenthau-Plans" auf einer rechtsextremen Website, Juli 2022 (Quelle: BTN/Screenshot)

 

Varianten des antisemitischen Bauplans

Meist wird eine mächtige Elite, die einen Geheimplan schmiede und Böses im Schilde führe, für die Krise verantwortlich gemacht. So war in der sogenannten Migrationskrise vom „Großen Austausch“, in der Coronakrise vom Great Reset“ die Rede und der Ukraine-Krieg wurde als Ablenkung zur Einführung der allgemeinen Impfpflicht interpretiert. Mittlerweile werden die Erzählungen mit den Themen Klimakatastrophe und Energieversorgungskrise verbunden. So behauptete der AfD-Bundestagsabgeordnete Karsten Hilse in einer Rede im Juni 2022: „Allerdings hängen Sie [die anderen Parteien, Anm.] wie Marionetten an den Strippen der Windkraft Lobby und den Planern des Great Reset.“ Die Windkraftlobby, so Hilse weiter, flüstere den anderen Parteien ein, was sie machen sollten. Damit spielt er auf das alte Bild „des Juden“, der im Hintergrund die Strippen ziehe,
an. Das Bild besagt, „der Jude“ würde das Weltgeschehen
lenken und die Politiker*innen in Deutschland steuern. Deswegen, so Hilse, würden die „Altparteien“ eine „zerstörerische Energiepolitik gegen das eigene Volk“ betreiben.

Henry Morgenthau und die Klimakrise

Im August versuchte das rechtsextreme Magazin Compact, zur Erklärung der Energie- und Versorgungskrise eine Verschwörungserzählung aus dem 20. Jahrhundert aufzufrischen. Das Magazin titelte in der Ausgabe vom August 2022: „Der Kaltmacher. Morgenthaus williger Vollstrecker“. Das Cover zeigt das Gesicht des deutschen Energie- und Wirtschaftsministers Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen). Compact spielt sowohl auf den Titel des Buches „Hitlers willige Vollstrecker“ (1996) von Daniel Jonah Goldhagen als auch auf einen Titel des Magazins Der Spiegel vom Juni 2022 an. Der Spiegel hatte
das Gesicht des russischen Autokraten Wladimir Putin
auf dem Cover. Die Headline lautete: „Der Kaltmacher“. Bis heute ist Henry Morgenthau (1891–1967) in der extremen Rechten der Bundesrepublik ein Feindbild. Morgenthau stammte aus einer deutsch-jüdischen Familie. Seine Großeltern waren jüdische Immigrant*innen aus Mannheim (heute: Baden-Württemberg). Morgenthau wurde 1933 zum Staatssekretär im US-Finanzministerium ernannt. Er war von 1934 bis 1945 der US-amerikanische Finanzminister. Henry Morgenthau war nicht „nur“ Amerikaner und Jude, sondern auch Urheber des „Morgenthau-Plans“ (1944). Er schlug vor, den deutschen Staat nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu deindustrialisieren und zu demilitarisieren, damit Deutschland nie wieder zu mächtig werden würde. Zwar lehnte der US-Präsident Franklin D. Roosevelt den Plan ab. Aber die NS-Propaganda nutzte Morgenthaus Vorschlag, um den antisemitischen Verschwörungsmythos vom „Weltjudentum“, das die Deutschen versklaven wolle, zu verbreiten. Noch heute wird der „Morgenthau-Plan“ bemüht, um die angebliche Herrschaft und Macht der US-amerikanischen Juden zu belegen. Immer wieder wird behauptet, es gebe Bestrebungen geheimer Mächte und ihrer Marionetten, den Plan in die Tat umzusetzen. Das Beispiel des Compact-Magazins offenbart: Eine Marionette soll Robert Habeck sein. Wer wohl in dieser Geschichte die Strippen zieht?

Der Compact-Autor Federico Bischoff schreibt im Artikel „Morgenthaus williger Vollstrecker“ über die (angebliche) Deindustrialisierung der Bundesrepublik. Damals, unmittelbar nach 1945, und heute, im Kontext des Ukraine-Krieges. Im Block zur Geschichte suggeriert Bischoff, die praktizierte Rationierung der Lebensmittel in den Monaten nach Kriegsende sei Teil einer systematischen Umsetzung des „Morgenthau-Plans“ gewesen.
Bischoff zitiert den kanadischen Geschichtsrevisionisten James Bacque
(1929–2019). Bacque behauptet: „Weit über 60 Millionen Menschen wurden mit voller Absicht an den Rand des Todes durch Verhungern getrieben.“

Die Behauptung des Geschichtsrevisionisten deutet an, die US-amerikanische Regierung habe einen Genozid an den Deutschen forciert. Tatsächlich haben die Alliierten die Bundesrepublik überhaupt erst wiederaufgebaut und wirtschaftlich dermaßen unterstützt, sodass das Wirtschaftswunder möglich werden konnte. Das beschreibt Ulrike Hermann im Buch „Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen“ (2019).

… und immer wieder der Code George Soros

Im Block zur Gegenwart beschreibt Bischoff, die Bundesregierung strebe mit der „grünen Energiepolitik“ den „Zusammenbruch der Industriebasis“ und somit die Deindustrialisierung an6. Weil die „Robustheit des produzierenden Sektors“ nur unter Beteiligung von Bündnis 90/Die Grünen an der Bundesregierung gebrochen werden könne, habe der „Super-Globalist“ George Soros die Partei „maßgeblich gefördert“. So wird Soros – ein Shoah-Überlebender, US-amerikanischer Jude und wohlhabender Philanthrop – zum Bestandteil einer antisemitischen Verschwörungserzählung.

Das ist keineswegs neu. Soros ist seit Jahren ein zentrales Feindbild der extremen Rechten. Nicht zuletzt des rechtsextremen Compact-Magazins. In der sogenannten Migrationskrise wurde er zum Treiber eines angeblichen „Großen Austausches“ erklärt. Der Name Soros wurde selbst zum antisemitischen Code, der in einer Reihe mit Rothschild und Rockefeller genannt wird. Das aktuelle Beispiel veranschaulicht eindrücklich, wie rechtsextreme Akteur*innen wie das Compact-Magazin die Schlagworte antisemitischer Verschwörungsmythen verknüpfen, um das gegenwärtige Weltgeschehen
zu verklären, und damit neue, gefährliche Verschwörungserzählungen in
die Welt setzen.

 

Dieser Artikel erschien zuerst im Lagebild Antisemitismus 2022  der Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung.

Aktionwochen gegen Antisemitismus

Das Programm der Bildungs- und Aktionswochen 2022 finden sie hier:

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