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Reichsbürgerprozess Bobstadt Mein Nachbar, der freundliche „Reichsbürger“

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Am 5. April 2023 begann vor dem Oberlandesgericht Stuttgart der Strafprozess gegen Ingo K. aus Boxberg-Bobstadt (Baden-Württemberg). Der „Reichsbürger“ soll am 20. April 2022 versucht haben, 14 Polizist*innen zu töten. (Quelle: SWR)

Montag, 19. Juni 2023: Um 9:16 Uhr wird eine Zeugin in den Sitzungssaal 2 begleitet, dann wird der Angeklagte Ingo K. mit Hand- und Fußfesseln in den Saal geführt. Der Staatsschutzsenat trifft ein, der Vorsitzende Richter eröffnet die Sitzung und begrüßt die Zeugin. Claudia S. ist Anfang 50, sie trägt ein weißes Hemd und hat blondiertes, lockiges Haar. Der Vorsitzende Richter fragt, wann und wo die Zeugin den Angeklagten kennengelernt habe. Sie antwortet, Ingo K. und seine Mutter hätten einige Jahre in ihrer Nachbarschaft in Niederstetten-Rüsselhausen (Baden-Württemberg) gewohnt. Ingo K. zog Ende 2021 von Rüsselhausen nach Bobstadt. Er soll im April 2022, als die Polizei eine Waffe des „Reichsbürgers“ einziehen wollte, geschossen und mehrere SEK-Beamt*innen verletzt haben. Claudia S. berichtet, erst mit der Erkrankung seiner Mutter habe sie den Angeklagten kennengelernt. Die Zeugin, die selbst einen Hund besitzt, habe angeboten, mit dem Hund der Mutter Gassi zu gehen. Später, als die Mutter gestorben war, ist Claudia S. mit Ingo K., seinem Sohn und den Hunden rausgegangen. Der „Reichsbürger“, der an Runen und der germanisch-nordischen Mythologie interessiert ist, nannte seinen Hund „Runa“.

Masken und Würmer

Claudia S. erzählt, sie seien fast täglich Gassi gegangen. Mal 15, mal 30 Minuten, mal länger. Der Vorsitzende Richter fragt, ob die Zeugen den Angeklagten näher kennengelernt habe. Sie antwortet: „Man unterhält sich schon“. Mit Blick auf die Bluttat vom 20. April 2022 sagt sie: „Ich habe ihn so nicht kennengelernt.“ Auf die Frage, was Ingo K. während der Spaziergänge gesagt habe, erzählt die Zeugin eine Geschichte über einen angeblichen 5G-Masten. Um den Mobilfunkstandard kursieren allerlei Verschwörungserzählungen. So habe Ingo K. gesagt, die Strahlung sei gesundheitsschädlich. Als Ingo K. während eines Spaziergangs einen im Bau befindlichen Masten sah, habe er gesagt, das müsse ein 5G-Mast sein. Daraufhin habe Claudia S. geäußert, dieser Masten sei definitiv kein 5G-Mast und habe ein Foto eines echten 5G-Masten gezeigt. Der Vorsitzende Richter thematisiert eine Geschichte über Masken. In ihrer polizeilichen Vernehmung soll die Zeugin gesagt haben, Ingo K. sei überzeugt gewesen, in den Masken, die vor Covid-19 schützen sollten, sei „irgendwas drin“. Claudia S. schildert, er habe gesagt, in den Masken seien Würmer. Als die Zeugin gefragt hat, warum Würmer in den Masken sein sollten, habe er „nur mit den Schultern gezuckt“.

„In verschiedenen Welten gelebt“

Ein Sachverständiger – der die Psyche des Angeklagten beurteilen soll und an der Sitzung teilnimmt – fragt, welche Funktion die Würmer hätten. Die Zeugin antwortet, angeblich würden die Würmer in die Atemorgane eindringen und die Menschen krankmachen. Ingo K. sei wohl zu viel in Telegram gewesen und habe „zu viel Zeug angeguckt“, kommentiert sie. Später schildert sie gar, die beiden hätten „in verschiedenen Welten gelebt“. Die Videos, die Ingo K. verbreitete, seien für ihn schlüssig, für sie unschlüssig gewesen. Nichtsdestotrotz sei er ein „sehr ruhiger Mensch“. Die Zeugin habe die Tat „komplett geschockt, weil ich ihn einfach so nicht kenne“. Der Vorsitzende Richter fragt nach der Waffe des Angeklagten. Claudia S. sagt, sie habe gewusst, dass er eine Waffe habe. Der Vorsitzende Richter will wissen, ob Ingo K. über die Waffe gesprochen habe. Sie berichtet, er habe erwähnt, dass er die Waffe abgeben müsse. Warum? Das ließ er unerwähnt. Stattdessen habe er eines Tages erzählt, er habe versucht, die Waffe abzugeben. Aber: Niemand in der Waffenbehörde habe die Abgabe bestätigen wollen. Die Zeugin schildert, sie habe „komisch“ gefunden, „dass man keine Unterschrift kriegt“. Es gibt bisher keinen Beleg, dass er die Waffe abgeben wollte.

Demonstrationen und Reichsfahne

Die Zeugin wird um 11:28 Uhr entlassen. 20 Minuten später wird Matthias S., ihr Ehemann, in den Saal begleitet. Der Zeuge ist Ende 40, er trägt Bart, Pferdeschwanz und reichlich Tätowierungen. Der Vorsitzende Richter fragt, wie der Kontakt zwischen ihm und Ingo K. gewesen sei. Der Zeuge stellt fest, die beiden hätten keine Freundschaft gehabt, weil sie keine Interessen teilten. Nicht zuletzt habe Ingo K. auch „keine Gelegenheit ausgelassen, seine politischen Ansichten zu äußern“. Nie habe er ein „normales Gespräch“ mit ihm führen können. Das berichtete der Zeuge in seiner polizeilichen Vernehmung. Nun sagt der Zeuge, Ingo K. habe offenbar das Bedürfnis, die Infos, die er aus dem Netz sauge, zu teilen. Einen Teil der Informationen werde der Angeklagte geglaubt haben, vermutet er. Der Vorsitzende Richter fragt, welche Demonstrationen der „Reichsbürger“ besucht habe. Der Zeuge nennt die „Querdenken“-Demonstrationen. In seiner polizeilichen Vernehmung sagte er, einmal sei Ingo K. mit einer schwarz-weiß-roten Fahne von einer Demonstration nach Hause gekommen. Auf die Frage einer Richterin, ob Ingo K. eine Abneigung gegen die Bundesrepublik habe, antwortet der Zeuge, das „würde ich so nicht sagen“. Der Angeklagte sei bloß „nicht einverstanden, wie der Staat geführt wird“.

„Weil er weiß, ich bin loyal“

Der Vorsitzende Richter fragt den Zeugen, ob er Kenntnisse über Heiko A. habe. Heiko A. ist Reichsbürger und der Vermieter von Ingo K.. Die beiden sind Mitglieder eines regionalen Motorradclubs. Der Zeuge berichtet, Heiko A. habe, nachdem er aus der Haft entlassen wurde, ihn angerufen und um Hilfe gebeten. Daraufhin habe er Geld für Kleidung und Zigaretten im Motorradclub gesammelt. Denn die Familie A. habe nach dem Brand „gar nichts mehr“ gehabt. Der Zeuge betont, für ihn sei die Sammlung eine Selbstverständlichkeit gewesen. Auf die Frage eines Richters, warum Heiko A. ausgerechnet den Zeugen angerufen habe, antwortet er, „vielleicht, weil er weiß, ich bin loyal“. Die Zeugin Claudia S., seine Ehefrau, hat in ihrer Vernehmung ausgesagt, er habe am Tattag eine Nachricht von Heiko A. erhalten. In der Nachricht habe A. geschrieben, die Polizei sei da. Sie habe das Haus gestürmt und das Feuer eröffnet. „Mehr oder weniger“. Der Vorsitzende Richter fragt den Zeugen, was die Familie A. über die Tat gesagt habe. Matthias S. erzählt, nach Überzeugung der Familie sei „alles ganz anders“. So habe Bianca A., als sie nach ihrer Festnahme im Polizeitransporter saß, beobachten können, wie ein Polizist einen Holzstapel am Haus anzündete. Sie habe gesagt, „sie wollen uns allemachen“. Rechtsanwältin Combé fragt, ob der Zeuge heutzutage Kontakt zu Heiko A. habe. Der Zeuge antwortet, er habe kaum Kontakt. Zwar sei A. bis heute Mitglied im Motorradclub. Allerdings sei er nicht mehr aktiv. Der Zeuge wird um 13:16 Uhr entlassen.

Arbeit und Schützenverein

Nach einer Mittagspause wird ein weiterer Zeuge in den Saal begleitet. Markus S. ist Anfang 50, er trägt Pferdeschwanz und Tätowierungen. Der Zeuge ist mit den ehemaligen Nachbar*innen des Angeklagten, Claudia und Matthias S., verwandt. Im Mittelpunkt der Vernehmung stehen die Arbeit und der Schützenverein. Denn der Zeuge ist ehemaliger Arbeitgeber und der Vorsitzender des Schützenvereins, in dem auch von Ingo K. Mitglied war. Der Vorsitzende Richter fragt, wie häufig der Angeklagte im Schützenhaus gewesen sei. Der Zeuge schätzt, etwa zehnmal. Er habe dort mit einer Glock trainiert. Mit der Waffe, die am 20. April 2022 eingezogen werden sollte. 

Die Einziehung der Waffe habe Ingo K. nicht angesprochen. Auf die Frage, ob Ingo K. während der Corona-Pandemie geschossen habe, antwortet der Zeuge, einmal habe er schießen wollen. Allerdings habe K.er keine Maske gehabt. Daher habe er ihn weggeschickt. Er „war halt Coronaleugner“, kommentiert der Zeuge und habe. Zwar habe er allerlei Verschwörungserzählungen verbreitet. Die Erzählungen habe er ernstgemeint. Dennoch sei er „verlässlich“, „freundlich“, „aufgeschlossen“. Man „kann nichts Negatives sagen“. Der Zeuge wird entlassen. Um 15:05 Uhr ist die Sitzung beendet.

Geschosse und „Geschossfragmente“

Dienstag, 20. Juni 2023: Ein Sachverständiger mit schwarzem Anzug und Aktentasche betritt um 9:15 Uhr den Sitzungssaal 2. Im Anschluss wird der Angeklagte Ingo K. in den Saal gebracht. Der Vorsitzende Richter eröffnet die Sitzung und grüßt den Waffensachverständigen des LKA Baden-Württemberg. Man wolle seine Untersuchungsberichte über Waffen und Munition besprechen. Zunächst nennt der Vorsitzende Richter einen Bericht zur Ausrüstung der verletzten SEK-Beamten Nr. 10 und 16. Der Sachverständige erklärt, er habe „ballistische Einwirkungen“ in der Ausrüstung – Bekleidung, ballistische Schutzwesten, Schild, Ramme, Helm – festgestellt. Die Beschädigungen seien teils durch „nahezu vollständige Geschosse“, teils durch „Geschossfragmente“ entstanden. Er erläutert, dass ein Geschoss, das Glas durchbreche, „deformieren“ und „fragmentieren“ könne. Je größer und schwerer ein „Geschossfragment“, desto größer die kinetische Energie und die Beschädigung. Der Vorsitzende Richter zeigt Fotos der Einschüsse an den beiden SEK-Fahrzeugen, danach Grafiken einer polizeilichen 3D-Vermessung. Die Grafiken veranschaulichen, aus welchen Richtungen die Schüsse auf die SEK-Fahrzeuge kamen.

1.400 Schuss pro Minute

Nach einer Mittagspause spricht der Waffensachverständige über die Schussverletzungen der SEK-Beamten Nr. 10 und 16. Er schildert, ein Beamter habe einen Durchschuss im Oberschenkel erlitten. Dann thematisiert der Vorsitzende Richter den Untersuchungsbericht zu den Waffen. Der Bericht beginnt mit zwei Maschinengewehren. Sie tragen die Bezeichnungen „Maschinengewehr M53 Zastava mit Patronengurt“ und „Maschinengewehr HK G3 mit linksseitig montiertem Laserzielpunktgerät“. Beide Gewehre sind Vollautomaten und mehr noch: Kriegswaffen. Der Staatsanwalt fragt später, wie viel Munition das Maschinengewehr M53 in einer Minute verschießen könne. Die Antwort: bis zu 1.400 Patronen. Der Sachverständige erklärt, man müsse zwischen halb- und vollautomatischen Waffen unterscheiden. Ein Vollautomat könne mit einer Betätigung hunderte Schuss pro Minute abgeben. Innerhalb weniger Sekunden sei das Magazin leer. Neben den Maschinengewehren nennt der Bericht insgesamt sechs Maschinenpistolen, zahlreiche Selbstladepistolen, Schalldämpfer und Zielgeräte, Magazine und Munition. Um 14:21 Uhr wird der Sachverständige entlassen und die Sitzung ist beendet.

 

Die vorigen Prozessberichte finden Sie hier:

 

 

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