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Geflüchtete auf Lesbos „Wenn wir Corona eindämmen wollen, dürfen wir die Geflüchteten in Griechenland nicht zurücklassen“

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Die Kampagne #LeaveNoOneBehind will die Corona-Katastrophe verhindern - auch an den Außengrenzen Europas. (Quelle: leavenononebehind.de)

Sie sind derzeit auf der griechischen Insel Lesbos. Mit welcher Intention sind Sie hergekommen?

Ich wollte mir selbst ein Bild machen von der humanitären Notlage im Camp Moria, dem Lager für Geflüchtete, dass Platz für 3.000 Menschen bieten sollte und in dem nun über 20.000 Menschen untergebracht sind. Ich kam am 25. Februar 2020 nach Lesbos, und dann überschlugen sich die Ereignisse: Der türkische Präsident Erdogan verkündete, die Grenzen für Geflüchtete zu öffnen. Es wurde offenkundig, dass das dahinterliegende Problem tiefer ist: Die EU-Mitgliedsstaaten haben die katastrophalen Zustände in den Geflüchtetencamps an der EU-Außengrenze lange toleriert und mitgetragen, weil sie es als Teil ihrer Abschreckungsstrategie verstanden haben. Nun haben sie eine weit offene Flanke voller ungelöster Probleme.

Wie war die Stimmung auf Lesbos, als die Grenzöffnung bekannt wurde?

Die Reaktion lässt sich als nackte Panik beschreiben – sowohl bei den Einheimischen als auch bei den Geflüchteten. Die griechische Regierung verwendete ein Bürgerkriegs-Rhetorik, die vor Ort sofort in Gewalt umschlug, sowohl durch Soldaten und Polizisten als auch durch die Anwohner*innen, die auf diese Stimmungsmache reagieren und sich mit den Problemen Europas auch alleingelassen fühlen. Das Ergebnis ist eine pogromartige Stimmung, die die griechische Regierung anfacht, indem sie Geflüchtete gegen andere arme Gruppen in Griechenland ausgespielt.

Mit der Grenzöffnung wurde die schwierige, ungelöste Situation im Camp deutlich verschärft. Es gibt – fortlaufend, bis heute – Gewalt gegen Schutzsuchende und  Gewalt gegen Helfer*innen, die versuchen, die Geflüchteten zu unterstützen. Inzwischen wird die Lage noch durch die Bedrohung mit Corona verschärft. Das Camp ist derzeit ein Pulverfass. Die Spannungen nehmen zu, die Hilfe wird immer weniger. Die Menschen, die im Camp leben, haben Schreckliches durchgemacht und fühlen sich schon wider in einem Überlebenskampf wieder. Damit wird die Situation immer unkontrollierbarer.

Wie geht es den Menschen im Camp, haben Sie mit Ihnen Kontakt?

Ja, ich spreche viel mit ihnen. Die meisten sind trotz der schwierigen Situation sehr ruhig und gefasst. Obwohl sie nichts haben, sind sie gastfreundlich, versuchen, trotzdem schöne Situationen zu schaffen. Es gibt viel Solidarität in der gemeinsamen Zwangslage. Die Geflüchteten sind alle Individuen mit eigenen Wünschen und Träumen. Was sie derzeit aber traurigerweise eint, ist das Gefühl, auf Lesbos entmenschlicht zu werden. Das ist ihre Situation nun, da sie in der EU sind.

Dann kamen auch noch deutsche und auch europäische Rechtsextreme nach Lesbos. Was hat das bewirkt?

Interessanterweise waren es ja vor allem sehr viele rechtsextreme YouTuber und rechtsradikale „Influencer“, aus Deutschland aber auch aus Großbritannien und Frankreich, die versuchten, Livestreams zu machen, sich als „Helden“ zu zeigen. Antifaschistische Kräfte in Griechenland haben ihnen allerdings deutlich gezeigt, dass sie auf Lesbos nicht erwünscht sind. Mich selbst haben über Antifa-Recherchegruppen diverse Drohungen aus rechtsextremen deutschen Telegram-Gruppen erreicht, die gegen mein Engagement hetzen. Das ist dann schon ein mulmiges Gefühl, wenn man das liest und wenige Tage später die entsprechenden Rechtsextremen auf der Insel trifft.

Wie ist die Situation aktuell, mit Corona?

Die Zustände im Camp sind katastrophal. Alles , was zur Vorbeugung empfohlen wird – Händewaschen, soziale Distanz – ist hier schlichtweg unmöglich. Die griechische Regierung kündigt Kriegsschiffe in der Ägäis an, um damit Geflüchtete fernzuhalten, die Corona nach Griechenland brächten. Die Geflüchteten wiederum fürchten sich vor der griechischen Bevölkerung, die sie in das menschenunwürdige Camp gesteckt haben. Nun haben sie Angst, dass die sie auch noch mit Corona infizieren. Bisher gibt es keinen Corona-Fall im Camp Moria, auch nicht auf ganz Lesbos. Das ist aber, ehrlich gesagt, Glück, und es wird nicht für immer anhalten. Deshalb ist es wichtig, im Kampf gegen das Coronavirus, das sich nicht für Herkunft, Hautfarbe oder Religion interessiert, entschlossen zusammenzustehen, und keine Menschen egoistisch zurückzulassen – auch die Geflüchteten nicht.

Was müsste nun am dringendsten getan werden?

Wenn wir nicht schnellmöglich evakuieren, zumindest auf das griechische Festland, kommt es hier in kürzester Zeit zur Katastrophe. Hier könnte man nicht einmal eine Quarantäne für Corona-Verdachtsfälle einrichten. Damit es nicht falsch verstanden wird: Es geht nicht darum, dass alle in die soziale Distanz gehen, nicht mehr reisen können und Geflüchtete bekommen Bewegungsfreiheit, wie es rechte Gruppen nun kolportieren. Natürlich müssen die Geflüchteten von den Inseln auch in eine 14-tägige Quarantäne als Schutzmaßnahme  – aber wenigstens in einzelnen Zelten, in denen das möglich wäre. Das wäre eine pragmatische Antwort, um die aktuelle Gefahrensituation zu bewältigen. Gerade in der aktuellen Situation müssen wir europaweit dafür kämpfen, dass nicht Egoismus und Missgunst das Ruder übernehmen.

 

Jetzt unterstützen:

Erik Marquardt hat mit Mitstreiter*innen die Aktion #LeaveNoOneBehind ins Leben gerufen – eine Onlinebewegung, die mit einer Petition startet und dazu aufruft, auch in der Krise anständig und würdig miteinander umzugehen: „Wir wollen niemanden zurücklassen, auch nicht Geflüchtete in überfüllten Lagern an der Außengrenze.“

 

Zur Petition:

http://leavenoonebehind.de

https://www.change.org/p/alle-menschen-leavenoonebehind-jetzt-die-corona-katastrophe-verhindern-auch-an-den-au%C3%9Fengrenzen

Die Botschaft von #LeaveNoOneBehind:
Wer jetzt nicht handelt, macht sich für die Katastrophe mitverantwortlich, die für Menschen in Not droht. Wir sagen: Wir lassen niemanden zurück. Diese Herausforderung bewältigen wir gemeinsam. Wir tun alles Mögliche, um das Unmögliche zu schaffen. Wir wollen Geflüchtete unterstützen, aber auch alle anderen Menschen in Not.  Die Zivilgesellschaft wird zeigen, dass wir aus dieser Krise gestärkt hervorgehen. Der Aufruf ist keine übliche Petition, sondern ein Startschuss, um gemeinsam an vielen Orten mit vielen kleinen oder großen Dingen gegen Egoismus und Kleinstaaterei ein starkes Signal der Solidarität zu setzen.

Erik Marquardt auf Twitter: https://twitter.com/ErikMarquardt

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