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Judenhass Underground „Antizionismus gibt ein Gefühl von Widerstand“

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Der Internationalist Queer Pride in Berlin fordert "No Pride in Apartheid" und meint damit Israel. (Quelle: Stefan Lauer)

Niemand will Antisemit sein. Erst recht nicht in Subkulturen und Bewegungen mit einem progressiven, emanzipatorischen Selbstbild. Judenhass geht aber auch underground – ob Rapper gegen Rothschilds, DJs for Palestine oder Punks Against Apartheid. BDS, die Boykottkampagne gegen den jüdischen Staat, will nahezu jedes Anliegen kapern, von Klassenkampf bis Klimagerechtigkeit. Altbekannte Mythen tauchen in alternativer Form wieder auf, bei Pride-Demos, auf der documenta oder beim Gedenken an den Terror von Hanau. Und viele Jüdinnen*Juden fragen sich, wo ihr Platz in solchen Szenen sein soll.

Darum geht es in Judenhass Underground, einem Sammelband, den Nicholas Potter und Stefan Lauer herausgegeben haben. Beide sind Redakteure bei Belltower.News. Das Buch besteht aus drei Teilen: Theorie, Praxis und Dialog. Heute veröffentlichen wir einen Auszug aus dem Dialogteil. Hengameh Yaghoobifarah und Rosa Jellinek führen ein Gespräch über queeren Antisemitismus und linke Bündnisse.

Hengameh Yaghoobifarah ist Redakteur*in bei Missy Magazine, schrieb von 2016 bis 2022 die taz-Kolumne „Habibitus“, 2021 erschien Hengamehs Debütroman Ministerium der Träume. Rosa Jellinek ist Vorsitzende des queer-jüdischen Vereins Keshet Deutschland und war zuvor im LGBTQI*-Referat der Jüdischen Studierendenunion Deutschland aktiv.

„Palestine is a queer issue“, so gefühlt die Parole der Stunde in Teilen der queeren Community. Der Kampf für queere Emanzipation wird auf den Nahostkonflikt projiziert. Und nicht selten mündet das in offenen Antisemitismus. Warum eigentlich?

Hengameh Yaghoobifarah: Fast alle internationalen queerfeministischen Figuren, ob Theoretiker*innen, Aktivist*innen oder Popmusiker*innen, supporten mehr oder weniger offiziell BDS. Aber ich würde den Blick erweitern und nicht nur auf die queere, sondern die internationale linke Szene schauen. Gerade die queere Community ist vor allem in Berlin eine sehr internationale. Das sind viele Leute, die nicht in Deutschland oder Österreich sozialisiert sind. Es gibt überhaupt nur in den beiden Ländern eine bedeutende nichtjüdische prozionistische Linke. Dazu der Austausch mit verschiedenen anderen Ländern oder Leuten, die jetzt nicht oder überhaupt nicht hier wohnen.

Rosa Jellinek: Social Media ist auch bei der Verbreitung dieser Narrative immens wichtig, und das gilt nicht nur für die queere Szene. Instagram und Co. Werden immer mehr zur primären Informationsquelle. Viele Dinge werden zu sehr runtergebrochen, sie werden nicht eingeordnet. Der Nahostkonflikt ist komplex. Aber Leute schauen sich lieber Infografiken mit eindeutigen Antworten an, statt sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Hinzu kommt: In vielen antirassistischen Bewegungen ist Antisemitismus unsichtbar oder es gibt einen starken Mangel an Sensibilität für das Thema. Das hat damit zu tun, dass Antisemitismus oft als Teil von Rassismus verstanden wird, was so nicht zutrifft. Antisemitismus wird als durchgekautes, irgendwie abgehaktes Thema betrachtet, mit dem man sich nicht mehr auseinandersetzen muss.

Hengameh: Viel Wissen aus Social Media zu beziehen, führt in der jüngeren, aber nicht ausschließlich jüngeren Generation von Linken dazu, dass sie kein großes Theoriewissen haben und deswegen eine bestimmte Art, Antisemitismus zu analysieren, einfach nicht drin ist. Der Wissensbezug aus Social Media statt aus linker Theorie hat fundamentalen Einfluss darauf, dass gewisse Basics nicht mehr vorhanden sind.

Woran liegt der internationale Erfolg von BDS in linken Bewegungen?

Hengameh: BDS macht einfach sehr gute Kampagnen. Es ist ja meistens nicht so, dass eine queere Party von sich aus einen offenen Brief startet, sondern sie werden von BDS-Unterstützer*innen angeschrieben. Ich wurde 2018 für #DJsforPalestine angefragt, mit einem vorformulierten Statement in einem langen Brief – „Apartheid“, „weißer Kolonialstaat“ und so weiter. Das klingt vor allem dann plausibel, wenn du dich damit nicht auseinandergesetzt hast. Das politische Wissen von Leuten ist ein Paket aus unterschiedlichen Fragmenten. Innerhalb der queerfeministischen Bewegung existieren unbestrittene Wahrheiten: Zum Beispiel, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt oder dass es Rassismus gibt, aber nicht gegen Weiße. Die palästinensische Sache ist ganz oft automatisch Teil dieses Pakets, ohne dass das hinterfragt wird. Kritisches Denken fehlt. Und dann gibt es namhafte Theoretiker*innen wie Angela Davis, die ein bestimmtes Narrativ vertreten. Davis verknüpft in Freedom is a Constant Struggle die amerikanische Antirassismus-Bewegung mit dem Kampf der Palästinenser*innen. Untertitel: „Ferguson, Palestine, and the foundation of a movement“. Black Lives Matter hat sich mit BDS oder anderen propalästinensischen antizionistischen Bewegungen solidarisiert.

Und in Berlin punktet dieses Narrativ besonders? 

Hengameh: Meine Theorie: Sowohl für junge rassifizierte Menschen als auch für weiße Linke mit dem Wunsch nach Entlastung durch das Pushen einer antirassistischen Gruppe spielt Migrantifa eine wichtige Rolle, auch wenn es bei manchen Demos wie dem 1. Mai eine längere Tradition von Antizionismus und BDS gibt. Die Gruppe ist dezentral organisiert und hat sich nach dem rechtsterroristischen Anschlag in Hanau gegründet. Und die Berliner Ortsgruppe ist sehr klar antizionistisch. Sie mobilisiert extrem gut in sozialen Medien: Die Demovideos und Mobiclips sind richtig nice – und effektiv. Sie bringen viele Menschen auf die Straße, ob Frauenkampftag, revolutionärer 1. Mai, Pride oder der Hanau-Gedenktag. Und überall steht Antizionismus im Vordergrund.

Israelbashing als antirassistischer Klassenkampf. Wo kommt das her?

Hengameh: Sowohl weiße als auch nichtweiße Deutsche haben, wenn sie sich aus einer linken Position heraus antizionistisch positionieren, ein Gefühl von Widerstand gegen die deutsche Dominanzgesellschaft. Das liegt an der Staatsräson, Zionismus wird mit der Springerpresse assoziiert oder mit CDU-Politiker*innen, mit rassistischen Schwulen, die sonst auch nicht unbedingt coole Positionen vertreten. Manche fühlen sich edgy, wenn sie sagen: „Wir machen bei der konservativen bis liberalen Israelsolidarität nicht mit.“ Das betrifft wahrscheinlich am ehesten Leute, die in Deutschland sozialisiert worden sind. Die fühlen sich mit antizionistischen Positionen als Avantgarde im Widerstand gegen den angeblichen deutschen Mainstream und Rassismus.

Rosa: Da schwingt auch immer das Narrativ mit: „Wir sind auf der Seite der Unterdrückten.“ Israelis werden als weiße, „supermächtige Juden“ gesehen, die die Palästinenser*innen unterdrücken würden. Und dieses Narrativ macht dann einen angeblich antirassistischen Klassenkampf daraus. Eigentlich verbirgt sich dahinter aber das klassische antisemitische Muster des mächtigen, reichen, bösen Juden.

Hengameh: Und dass rechte Argumentationsmuster oder Rhetorik benutzt werden, ist ja kein Zufall, sondern Teil der Strategie. Es gibt Feindeslisten: Wer ist mit BDS solidarisch und wer nicht. Also, die einzigen Listen, auf denen ich bisher geführt wurde, sind die von Querdenkern und Nazis. Ich kenne keine Feminist*innen, die so eine Liste mit Feinden und Freunden führen. Dazu muss man sagen, und zwar ohne irgendwas davon zu verharmlosen: Auch Antideutsche benutzen rechte Methoden, wenn sie andere Leute mobben, Adressen leaken oder doxxen.

Rosa, du bist jüdisch. Wie findest du es, dass diese Identität auf vielen intersektionalen Demos immer wieder ausgeblendet wird?

Rosa: Mein Gefühl ist, dass Antisemitismus regelmäßig nicht gesehen wird. Vor antirassistischen Demos stellt sich für mich ganz oft die Frage: Was ist jetzt für mich wichtiger? Gehe ich dorthin, weil mir das Thema wichtig ist und ich dafür auf die Straße will? Andererseits weiß ich aber auch, was ich dort hören werde. Ich muss mich entscheiden. Wie wichtig ist mir gerade mein Jüdischsein? Deswegen vorher der Check: Wer organisiert das? Wer spricht dort? Das bestimmt viel von meinem politischen Alltag.

Wie gehst du mit antizionistischen und israelfeindlichen Parolen um?

Rosa: Die Frage ist immer: bleiben oder gehen? Und ich bemerke regelmäßig, dass diese Form von Antisemitismus anscheinend keinen stört. Würde jemand auf so einer Demo irgendwas Rassistisches auf dem Lauti sagen, würde das eine ganze Menge Leute stören, und es gäbe zu Recht Krawall. Bei antisemitischen Aussagen passiert das nicht, sondern es gibt vielmehr noch Zustimmung.

Hengameh: Das Problem auf diesen Demos ist nicht nur, dass antisemitische Parolen gerufen werden und unkritisiert bleiben, sondern – und das soll nicht verharmlosen – dass zumindest ein Teil der Leute, die da sind, nicht verstehen, was daran antisemitisch ist. Wenn die „from the river to the sea“ rufen, verstehen sie nicht, dass das bedeutet, Israel soll ausgelöscht werden – komplett. Sondern sie denken, es ginge nur um die Freiheit der Palästinenser*innen. Und wer ist schon gegen Freiheit? Da findet keine Auseinandersetzung statt, da gibt es kein Wissen – und das soll keine Entschuldigung sein, aber es ist der Ist-Zustand.

Es gibt aber auch einige queere jüdische Menschen in Berlin – viele von ihnen aus den USA, Großbritannien oder Israel –, die antizionistische Positionen vertreten und BDS und Co. Lautstark unterstützen …

Rosa: Ich glaube, dass es mit dem Sicherheitsgefühl im eigenen Land und der jüdischen Identität vor Ort zu tun hat. Nicht, dass etwa die USA keine Probleme mit Nazis, Rassist*innen und Antisemit*innen hätten. Aber dort gibt es für Jüdinnen*Juden ein leichteres Selbstverständnis. Sie können sagen: Ich bin jüdisch und es interessiert keinen – auf eine positive Art und Weise. In Deutschland ist das nicht so. Schon die Geschichte verhindert, dass man sich hier als jüdische Person sicher fühlt. Dadurch ist bei vielen jüdischen Menschen in Deutschland im Hinterkopf: Wenn es ganz schlimm wird, dann gibt es immer noch Israel. Und das ist bei jüdischen Amerikaner*innen oft nicht so, was dazu führt, dass manche BDS unterstützen. Und diese werden dann in queeren und antirassistischen Bündnissen rumgereicht und tokenized, als Kronzeug*innen und Feigenblätter, damit man Antisemitismusvorwürfe von sich weisen kann.

Du bist Co-Vorsitzende von Keshet Deutschland, einem Verein, der sich für die jüdische LGBTQI*-Community in Deutschland einsetzt. Wie verhaltet ihr euch in diesen Situationen? Müsst ihr euch positionieren?

Rosa: Wir erleben häufig, dass von uns eine Positionierung erwartet wird. Dabei ist das ja eigentlich gar nicht unser Thema. Wir sind ein Verein, der eine Community und Safer Spaces, also sicherere Räume, für queere jüdische Menschen schaffen will. Nur weil wir jüdisch sind, müssen wir uns nicht in irgendeiner Art zu israelischer Politik äußern. Als Verein haben wir aufgrund der Erwartungshaltung, und um die Pluralität unserer Mitglieder repräsentieren zu können, eine interne Positionierung erarbeitet, die in etwa bestimmt, dass wir uns zu Landespolitischem nicht äußern, außer, wenn das Thema queere (jüdische) Menschen betrifft. Aber wir stehen zu hundert Prozent hinter dem Existenzrecht des jüdischen Staates Israel.

Fühlt ihr euch von manchen Bündnissen dennoch ausgeschlossen? 

Rosa: Das hat unterschiedliche Dimensionen. Einerseits werden wir manchmal einfach gar nicht mitgedacht oder nicht gefragt, ob wir teilnehmen wollen. Aber es gibt auch genügend Situationen, in denen wir wissen, wer dabei ist, welche Diskussionen höchstwahrscheinlich kommen werden und dann aus diesen Gründen von uns aus nicht teilnehmen. Erst kürzlich wieder: Ich wusste, wer da ist, was für Aussagen kommen werden und dass ich das nicht auf mir sitzen lassen kann. Ich habe das Bündnistreffen abgesagt, weil ich nicht die Kapazitäten und Kraft hatte, mich damit auseinanderzusetzen. Denn ich sitze dann alleine damit da und bin eine von wenigen Personen, die bestimmte Aussagen kritisieren. Das ist manchmal nicht so leicht.

Pinkwashing oder Homonationalismus sind inzwischen Buzzwords in Teilen der queeren Community. Eine problematische Entwicklung?

Hengameh: Ich bin ambivalent. Dass Israel nach außen die queere Community fördert und hintenrum böse Sachen macht, ist ein antisemitisches Narrativ. Und so verwende ich den Begriff auch nicht. Aber Phänomene wie Homonationalismus haben wir auch in Europa. Rechte und Rechtspopulisten behaupten, es müsse was gegen den Islam getan werden, um Homosexuelle zu beschützen. Oder wenn ich auf dem CSD Regenbogenflaggen sehe, die in die Deutschlandfarben übergehen, würde ich durchaus von Homonationalismus sprechen. In Sachen Pinkwashing würde ich das, was Antiimps Israel vorwerfen, genauso zurückgeben: Antizionistische Gruppierungen wie BDS oder Palästina Spricht, die Slogans in die Welt setzen wie „Palestine is a queer issue“, betreiben doch genau damit Pinkwashing.

Inwiefern?

Hengameh: Diese Gruppierungen tun so, als böten sie einen Safer Space für queere Leute, als ob es gerade queere Leute wären, die sich von Israel nicht „instrumentalisieren“ lassen und die Bewegung tragen. Aber Fakt ist: Das sind nicht nur Queers, die da auf die Straße gehen. Wie zuletzt bei der internationalistischen Queer Pride in Berlin zu sehen war: Das sind auch todesviele Heten, die ein Ventil für ihren Antisemitismus suchen. Außerdem wird so getan, als seien nicht nur Palästina an sich, sondern auch die Veranstaltungen, Gruppen, Demos, alles, was hier stattfindet, per se ein sicherer Ort für queere Leute: Das stimmt ja auch nicht. Da kann man auch sagen, es ist Pinkwashing.

In der queeren Community wird viel und lautstark über Israel und den Nahostkonflikt gesprochen. Aber selten über die sehr realen Gefahren für queere Menschen im Gazastreifen oder in der Westbank, ganz zu schweigen von anderen Ländern in der Region.

Rosa: Kritik daran wird oft als Whataboutism dargestellt und die Leute nehmen schnell eine ganz empfindlich defensive Position ein. Und das ist interessant, weil es ein ganz ähnlicher Reflex ist wie Rechtsaußen: „Das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen“ wird zu „Man wird ja wohl noch Israel kritisieren dürfen“.

Hengameh: Das wird zum westlichen Narrativ erklärt. Denn in Europa oder Deutschland gebe es ja auch Gewalt gegen Queers, so die Argumentation. Und das ist verharmlosend. Wenn du zu genau hinschaust, wird dir racial obsession vorgeworfen. Man würde damit suggerieren, alle in Südwestasien seien homo- und transfeindlich. Dabei geht es überhaupt nicht darum, irgendwas über „alle“ zu behaupten. Es gibt einfach Zahlen, eine noch größere Dunkelziffer und Fakten. Ja, Deutschland ist extrem misogyn. Trotzdem kann man das aus einer feministischen Perspektive nicht mit dem Iran vergleichen, wo misogyne Incelkultur und Homofeindlichkeit fester Bestandteil eines Terrorregimes sind.

Die fehlende Kritik ist aber doch bemerkenswert, weil ja mit Tel Aviv immer wieder auch eine queer geprägte Metropole von Terrorangriffen getroffen wird.

Hengameh: Diese Widersprüche könnten die Leute dann nicht mehr koordinieren. Kürzlich kursierte das Video einer Predigt von einem Vorbeter in der al-Aqsa-Moschee: Es dürfe in Palästina keinen einzigen Homosexuellen geben, sagte er. Das wurde unter den Queers for Palestine nicht kritisch rezipiert. Es wird ausgeblendet, weil sonst das Narrativ shaky wird und man Nuancen zulassen müsste.

Rosa: Es geht gar nicht um die Menschen vor Ort. Der Schluss aus Queers for Palestine müsste doch eigentlich sein, etwas dafür zu tun, dass es den Menschen in palästinensischen Gebieten unmittelbar besser geht. Sei es, dass sie dort rauskommen, sei es, dass sich ihrer Situation verändert. Aber das passiert ja nicht.

Hengameh: Genau, es geht nie darum, wie es den Leuten vor Ort geht. Alle Israelis sind entweder gesilencete Linke oder krasse Colonizer. Es gibt nichts dazwischen. Es wird quer durch die gesamte Gegend pauschalisiert.

Beim israelbezogenen Antisemitismus geht es ja auch nicht um die Situation vor Ort. Es geht um Antisemitismus in der Debatte drumherum, und wie er sich auf der Straße und woanders zeigt. Es geht um den Konflikt um den Konflikt.

Rosa: Es ist auch einfach sehr bemerkenswert, wie dieses Thema instrumentalisiert wird, von allen Seiten. Weiß-christlich sozialisierte Deutsche, aber auch alle anderen, sollten hinterfragen, warum es ihnen so wichtig ist, sich zu diesem Thema zu äußern – und ob tatsächlich genügend Expertise dafür da ist. Das heißt nicht, dass man erst Expert*in sein muss, bevor man mitreden darf. Aber wenn man zum Thema Nahost und Antisemitismus keine Ahnung hat und sich nicht mit einem sehr komplexen Problem auseinandersetzen will, besteht auch die Möglichkeit, dazu nichts oder wenig zu sagen. Niemand muss sich auf verkürzte, runtergebrochene Parolen einlassen, die irgendwo auf Instagram gepostet werden.

Hengameh: Außer bei Israel–Palästina gibt es bei wenigen Themen so einen Positionierungsdruck, selbst wenn man keine Ahnung hat. Bei vielen anderen politischen Themen habe ich nicht das Gefühl, dass es diesen Druck gibt. Ich finde nämlich auch: Man muss dazu nicht unbedingt eine Meinung haben. Ich persönlich äußere mich nicht groß zum Thema Israel–Palästina. Ich sage was zu Ressentiments, die innerhalb der Debatte entstehen, ob das jetzt antisemitische oder rassistische sind. Ich bin kein*e Nahostexpert*in. Und das ist der Grund, warum ich keine 50 Infoslides am Tag poste, sobald Raketen fliegen.

Hengameh, du hast deine eigene Perspektive und Position geändert, in Bezug auf israelbezogenen Antisemitismus und den Nahostkonflikt. Wie ist es dazu gekommen?

Hengameh: In den Anfängen meiner linken Politisierung war Antisemitismus oder Nahost gar nicht Thema. Aber ich hatte tendenziell eher eine antideutsche Sozialisierung – dadurch, dass ich so viel Audiolith gehört habe und in der Nähe von Hamburg aufgewachsen bin. Erst nachdem ich 2015 nach Berlin gezogen war, hatte ich mehr mit nichtweißen Queers, linken Queers aus Israel sowie Künstler*innen aus anderen Ländern zu tun. Und die waren antizionistisch. Deswegen war für mich zu dieser Zeit Queerness antizionistisch. Ich habe zwar nie BDS supportet, aber meine Haltung war schon: BDS ist nicht dasselbe wie „Kauft nicht bei Juden“. Ich dachte: Kann man jetzt gar nicht mehr Israel kritisieren? Dafür wurde ich auf Twitter von supervielen weißen cis-heterosexuellen Typen mit gehässigen, ekelhaften Kommentaren attackiert: Ich wurde pauschal als islamistisch und antisemitisch bezeichnet. Aber so pauschal, dass ich nicht wusste, was genau antisemitisch ist. Damals dachte ich, Antisemitismus sei das Subgenre von Rassismus. Dass die Dimension weit darüber hinausgeht, „was gegen Juden zu haben“, musste ich erst mal begreifen.

Gab es einen bestimmten Wendepunkt?

Hengameh: Prozionistische jüdische und nichtjüdische Friends sind ins Detail gegangen und haben mir mehr erklärt. So habe ich mir das Wissen peu à peu erarbeitet, um diese antisemitischen Mythen zu debunken und aus dem nicht nuancierten Denken rauszukommen. Mit der Zeit wuchs mein kritisches Bewusstsein gegenüber antisemitischen Standpunkten, die unter Queers oder Linken normalisiert wurden. Es war wie nach einer Clubnacht, wenn man in den Morgenstunden runterkommt und auf einmal weniger verzaubert auf die direkte Umgebung schaut und sich fragt, wo zur Hölle man gerade ist. Ich konnte immer mehr für mich feststellen, dass gewisse Aussagen nicht tragbar sind.

Und dann kam 2018 die Kampagne #DjsForPalestine …

Hengameh: Genau, ich wurde angefragt, habe den Brief gelesen, für mich entschieden, dass ich ihn nicht supporte und mich nicht geäußert. Aber ich war schon verblüfft, dass fast jede Person, die auflegt, mit der ich auf Facebook befreundet war, die Kampagne unterstützt hat und keine kritische Auseinandersetzung damit stattfand. Als Reaktion habe ich einen – nicht sonderlich radikalen – Post auf meiner privaten Facebookseite veröffentlicht. Ich schrieb, dass ich noch nie eine nichtjüdische oder nichtpalästinensische Person – „Nichtbeteiligte“ sozusagen – getroffen habe, die BDS unterstützt und auch wirklich mal was gegen Antisemitismus gemacht hätte. Wenn weiße Leute sagen, sie sind antirassistisch, will man ja auch Receipts sehen: Auf welcher Demo warst du? Was hast du gelesen? Wo spendest du was hin? Was macht dich zu einer Antirassist*in?

Was waren die Reaktionen auf den Post?

Hengameh: Daraus ist eine riesige Diskussion entstanden. Viele Leute haben die Freundschaft auf Facebook beendet. Andere haben mir privat geschrieben und sich bedankt, dass ich das gesagt habe, weil sie sich selbst nicht trauen. Ein paar von diesen Leuten waren jüdisch und äußern sich einfach gar nicht zu dem Thema.

Spielen diese Konfliktlinien auch eine Rolle für die Missy, wo du Redakteur*in bist?

Hengameh: Wir hatten 2018 ein Dossier zu Antisemitismus im Heft. Da gab es auch Kritik an israelbezogenem Antisemitismus und Missy wurde in bestimmten Lagern – auch weil ich dabei bin – als antideutsch bezeichnet. Was ja totaler Bullshit ist, weil viele Leute, die wir featuren, BDS supporten. Wir boykottieren niemanden. Das ist aber bei uns auf jeden Fall ein nicht durchdiskutiertes Thema: Würden wir Judith Butler oder Angela Davis gar nicht mehr featuren? Oder würden wir sie vielleicht nur zu diesem Thema nicht featuren? Mir wäre wichtig, das dann eben auch kritisch einzuordnen. Aber da ist ja auch schon Doppelmoral im Spiel. Es gäbe niemals eine nicht Schwarze Person auf dem Missy-Cover, die verteidigt, das N-Wort zu sagen. Es wären auch keine TERFs auf dem Cover oder Comedians, die Fatsuits anziehen und sich über Dicke lustig machen.

Wird Antisemitismus zu leicht verziehen?

Rosa: In einem meiner Uni-Seminare sollte ein Buch mit den Wörtern „Decolonizing Feminism“ im Titel gelesen werden. Ich, als vermeintlich übersensible, jüdische, linke Person, hab mir angeschaut, wen wir da lesen, und fand sofort drei oder vier Autor*innen, die BDS supporten und zum akademischen Boykott von jüdischen und israelischen Wissenschaftler*innen und Unis aufrufen – unter anderem in diesen Texten. Ich hab das bei der Dozentin und im Seminar angesprochen und mir ist wieder mal aufgefallen, wie wenig es Leute gestört hat – und zwar gerade auch im universitären Kontext. Aber auch, dass es kein großes Problem zu sein scheint. Ich frage mich dann immer: Würden wir über eine*n rassistische*n Autor*in – jemanden, der sich jetzt, aktuell, rassistisch äußert – genauso sprechen? Dessen Rassismus sogar Teil der Texte ist, die wir im Seminar lesen? Der Großteil der Teilnehmenden würde gehen und es gäbe zu Recht einen Skandal. Und bei Antisemitismus? Das scheint nicht so ein krasses Problem zu sein, gerade wenn es um israelbezogenen Antisemitismus geht.

Hengameh: Wenn es heißt, die Person ist antisemitisch oder äußert sich antisemitisch, dann will man erst mal wissen: Welche Art von Antisemitismus? Sprechen wir von israelbezogenem Antisemitismus, NS-Verherrlichung oder Echsenmenschen? Da wird dann noch mal abgewogen.

Hengameh, du plädierst dafür, Antisemitismus und Rassismus nicht gegeneinander auszuspielen und gemeinsam zu bekämpfen. Aber dieser Ansatz scheitert immer wieder. Warum? Und was tun?

Hengameh: Dieses Gegeneinander-Ausspielen passiert ja nicht nur in kleinen Communitys, sondern auf staatlicher Ebene. Wenn weiß-christliche Antisemitismusbeauftragte nach Asylrechtsverschärfungen rufen. Oder wenn vom importierten Antisemitismus gesprochen wird, als wären Deutsche nicht für den Holocaust verantwortlich. Da sind Leute aus einer antirassistischen Community erstmal in Abwehrhaltung und sollen sich verteidigen. Das ist ein dead end. Wir brauchen beides: Leute, die sich gegen Antisemitismus und Rassismus engagieren. Es muss selbstverständlich sein, sich mit beiden Phänomenen auseinanderzusetzen – zunächst separat und dann zusammen gedacht. Dabei müssen beide Seiten Eingeständnisse machen und Selbstkritik üben. Das bedeutet, nicht mehr Leute aus den eigenen Lagern zu verteidigen, die sich antisemitisch oder rassistisch äußern. Weil genau das aktuell passiert. Und es ist nicht wie bei der Fahrerlaubnis: Wenn du Autofahren kannst, kannst du auch Roller fahren. Auch Nuancen müssen wieder erlaubt werden. Aktuell ist es allzu oft das eine oder das andere – und nichts dazwischen. Jene, die sich differenziert zum Thema äußern, werden in eines der beiden Lager sortiert.

Rosa: In der Öffentlichkeit und in den Medien gibt es relativ wenig Platz für Antidiskriminierungsthemen, gerade was Rassismus oder Antisemitismus angeht. Dadurch entsteht eine Konkurrenz, wo eigentlich gar keine sein sollte. Es gibt wenig Möglichkeiten sich zu äußern, Sachen ernsthaft zu verändern, und dann entscheidet man sich eben für das eigene kleine Team. Mir fällt da als Gegenbeispiel Marco Linguri vom Liberal-Islamischen Bund ein, dem als einem von wenigen nichtweißen und nichtchristlichen Organisationen Redezeit auf dem Frankfurter CSD 2022 gewährt wurde. Und dennoch hat er Keshet Deutschland und noch einer weiteren Gruppe Redezeit angeboten, sodass wir alle auf die Bühne kommen und ein Statement setzen konnten.

Hengameh: Antisemitismus und Rassismus sind beides dringliche Probleme. Und es gibt sie im linken Spektrum. Aber es gibt sie beide auch extrem gewalttätig von rechts: Neonazis, die Terroranschläge verüben, White Supremacy in den USA und Europa, die Attentäter von Hanau bis Christchurch oder der NSU. Die sind ja nicht nur rassistisch, die sind auch antisemitisch. Es ist total verblendet, das gegeneinander auszuspielen. Die Künstlerin Hito Steyerl hat kürzlich gesagt: „Ich lebe im Land von Halle und Hanau, nicht Halle oder Hanau und erst recht nicht Halle gegen Hanau.“


Judenhass Underground – Antisemitismus in emanzipatorischen Subkulturen und Bewegungen, Hentrich & Hentrich, 252 Seiten, ISBN: 978-3-95565-615-7, 22,00 Euro. Hier bestellen.

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