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Mädchen*Arbeit in der Pandemie „Die Coronazeit hat Versagensängste verstärkt“

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Einladend: Die Fassade der "Schilleria" in Berlin-Neukölln. (Quelle: Schilleria)

Das Interview führte Eda Ağsarlioğlu von der ju:an-Praxisstelle: Antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit.

Was ist die Schilleria, was macht ihr?

Vivien Bahro: Die Schilleria ist ein Mädchen*Treff im Schillerkiez in Berlin-Neukölln. Ich mache die Co-Leitung mit Sinaya Sanchis zusammen und arbeite hier schon seit fünf Jahren. Studiert habe ich Gender Studies und Erziehungswissenschaften. Wir sind ein Mädchen*Treff für Mädchen* und junge Frauen* im Alter von 7-21 Jahren. Die Schilleria ist ein offener Jugendtreff und wir machen vor allem feministische Mädchen*Arbeit, politische und kulturelle Bildungsarbeit.

Sevim Uzun: Ich arbeite in der Schilleria als Erzieherin und studiere nebenbei Erziehungswissenschaften. Ich arbeite seit über sechs Jahren in der Schilleria. Die Schilleria bietet Begleitung ins Berufsleben, Hausaufgabenhilfe und im offenen Bereich passiert alles Mögliche wie kochen, basteln, Betreuung und wir machen auch Ausflüge.

Warum braucht es spezielle Mädchen*Treffs – ist das in Zeiten von Queerness und dem gestiegenen Bewusstsein für Trans*- und Inter*-Identitäten nicht veraltet?

Vivien Bahro: Das Bewusstsein für Trans* und Inter*-Identitäten ist noch nicht überall da. Daran muss auf jeden Fall noch gearbeitet werden, und die Schilleria an sich ist ein offener Treff, auch offen für Trans*-Identitäten. Wir arbeiten aktuell daran, unser Konzept für Queerness zu öffnen, weil wir das wichtig finden. So oder so braucht es aber Mädchen*Treffs, weil Schutzräume einfach gefragt sind. Mädchen* und junge Frauen* brauchen das, um sich frei zu entfalten. Durch die direkte Empowerment-Arbeit unterstützen wir sie genau bei dem, was in einem gemischten Jugendtreff so in der Form nicht gehen würde. Das widerspricht sich nicht mit dem Punkt, dass ein Treff auch offen sein kann für Trans*-Identitäten.

Wie sah der Alltag vor Corona aus, was hat sich verändert?

Sevim Uzun: Es hat sich vieles verändert. Bevor es mit der Pandemie losging, hatten wir in der Schilleria einen vollen Tagesablauf. Wir hatten viele Besucher*innen, mit denen wir auch näher in Kontakt waren und Beziehungsarbeit aufbauen konnten. Fast alle Unternehmungen sind dann ausgefallen. Wir als Einrichtung haben versucht und versuchen es immer noch, unsere Angebote aufrechtzuerhalten, nun aber auf eine andere Art und Weise: Etwa, indem wir Online-Angebote konzipiert haben, Back- oder Bastel-Challenges angeboten haben. Wir können jetzt leider auch nur mit kleineren Gruppen arbeiten, das heißt, wir haben nicht den gesamten gemischten Kiez hier auf einmal auf einem Raum, sondern nur bestimmte Kleingruppen. Das bringt seine Vor- und Nachteile mit sich. Durch die Kleingruppen sind ein intensiverer Austausch und tiefergehende Förderung der Besucher*innen möglich.

Vivien Bahro: Durch Corona haben wir auf jeden Fall ein paar Jugendliche verloren. Mit der Zeit wurden es immer weniger, was auch damit zu tun hat, dass wir nur eingeschränkt arbeiten durften bis gar nicht.

Sevim Uzun: Es sollte auch berücksichtigt werden, dass es sich immer noch um Kinder und Jugendliche handelt, aber die Umstellung auf Online für uns alle neu ist. Selbst Erwachsene haben Schwierigkeiten mit der Umstellung, umso fremder ist es für die Jugendlichen. Zum einen hat nicht jede denselben Zugang auf die Angebote, zum anderen fehlt der persönliche Zugang. Da ist es ganz klar, dass einige Mädchen*, die mit den Online-Formaten nicht klarkommen, untergehen. Wir sind zwar nah dran und versuchen, andere Möglichkeiten zu finden, um an den Mädchen* dran zu bleiben, aber vieles ist eben auch für uns neu und muss neu gedacht werden.

Vor Corona war generationsübergreifendes gemeinsames Lernen möglich. Falls eine ältere oder eine andere Besucherin den Stoff schon in der Schule behandelt hatte, wurde untereinander sehr viel Unterstützung geleistet. Mädchen* und junge Frauen* aus unterschiedlichen Klassen  und Schulen saßen teilweise zusammen an einem Tisch und haben sich gegenseitig unterstützt.

Vor Corona wurde der selbstverwaltete Samstag von Besucher*innen ab 14 Jahren genutzt, um vom Alltag abzuschalten. Sie hatten einen Raum, den sie so nutzen konnten, wie sie wollten. Sei es tanzen, kochen, Filme schauen oder einfach chillen. Viele unserer älteren Besucher*innen haben während der Corona-Zeit mit ihrem Abitur angefangen. Unsicherheiten und Ängste vor dem Versagen, die vorher schon von bestanden, wurden während dieser Zeit verstärkt. Der Samstag wurde von einem Chilltag zu einem Schulstoff-Nachhol-Tag. Während es uns zur Anfangszeit möglich war, am Samstag selbst unseren verzweifelten Besucher*innen Mut zuzusprechen und sie bei einzelnen Aufgaben zu unterstützen, brach der Kontakt nach den stärkeren Verschärfungen der Maßnahmen immer mehr ab.

Welche Bedeutung hat Hausaufgabenhilfe oder auch andere Unterstützung in Sachen Schule bei euch?

Vivien Bahro: Das hat eine ganz große Bedeutung in der Schilleria. Wir haben den Nachhilfe-Montag, wo die Mädchen* sich heutzutage anmelden müssen, wobei die maximale erlaubte Besucher*innenzahl bei fünf liegt. In den Jahren, seitdem ich hier arbeite, braucht einfach jedes Mädchen* in der Schule Unterstützung, und da ist dieser Montag ganz unheimlich wichtig. Für die Älteren haben wir einen extra Nachhilfe-Tag donnerstags, an dem eine ehrenamtliche Frau kommt und die Mädels* unterstützt. Auch in 1:1-Betreuung.

Welche Erfahrungen gibt es mit Homeschooling?

Sevim Uzun: Die Kinder brauchen viel mehr Unterstützung als vorher. Sie müssen sich vieles selbständig erarbeiten und erschließen. Die, die das nicht können, bleiben auf der Strecke. Wir versuchen, das durch Online-Angebote zu unterstützen. Aber das ist auch wieder Online. Es hilft auf jeden Fall, aber viele Kinder sind eher dafür, dass sie Präsenz-Unterstützung bekommen.

Was wären Erkenntnisse, die ihr aus eurer Arbeit zieht und gerne weitergeben wollt?

Sevim Uzun: Wenn wir Besucher*innen befragen würden, was sie alles in dieser Einrichtung lernen und mitnehmen können, würde auffallen, dass dies woanders nicht möglich wäre. Dazu gehören soziale & persönlichkeitsstärkende Kompetenzen, die Förderung der schulischen und politischen Bildung und der Kreativität durch künstlerische Workshops, auch hauswirtschaftliche Kompetenzen Genau deshalb ist es wichtig, dass es eben Jugendeinrichtungen für Mädchen* und junge Frauen* gibt, an die sich die Jugendlichen wenden können, falls sie Unterstützung benötigen. Diese Anlaufstellen entlasten die Jugendlichen enorm. Ich bin dafür, dass in noch mehr Kiezen und Orten mehr Einrichtungen ausgebaut werden. Wir kommen leider nicht an alle Mädchen* und Jugendlichen ran und haben nicht die Kapazität, mit allen intensiv zu arbeiten. Wenn man möchte, dass sich etwas verändert, dann muss man auch handeln.

Vivien Bahro: Ich denke, dass man mit kritischer politischer Bildung viel früher anfangen sollte. In der Schule sollte auch viel mehr passieren. Es sollte mehr gegen Rassismus und Diskriminierung gearbeitet werden. Da passieren  manchmal problematische Dinge in der Schule  und die Mädels* kommen dann zu uns, um das aufzuarbeiten. Einige Mädels* berichteten davon, dass es Lehrer*innen gibt, die ihrer Meinung nach eher „deutsch“ aussehende Schüler*innen im Unterricht bevorzugen. Die Eltern müssen ebenfalls sensibilisiert werden. Alltagsrassistisches Denken fängt oft in der Familie an und wird unbewusst weitergegeben. Es wäre gut, wenn es mehr kritische Workshops und Beratungsstellen für Eltern und Lehrer*innen geben würde, die sich mit Themen rund um Rassismus und Diskriminierungserfahrungen beschäftigen. Ein Ansatz ist da schon einmal die Kooperation zwischen Familie-Schule-Mädchen*Treff.

Sevim Uzun: Durch Elternarbeit wäre viel möglich, was jetzt nicht passiert. Das fehlt leider auch bei uns in der Einrichtung, vor allem wegen Personalmangel. Aber genau so fehlt es an den Schulen. Ich würde mir wünschen, dass es eine stärkere Kooperation zwischen Schulen und Jugendeinrichtungen gibt. Letztlich haben wir alle zum Ziel, dass die Mädchen* und jungen Frauen* ein selbstbestimmtes Leben führen.

Vivien Bahro: Es gibt eine Stellungnahme von dem Arbeitskreis Mädchenarbeit. (link) Die Arbeitsgruppe plant einen runden Tisch mit den Entscheidungsträgern*innen einzuberufen, bei dem auch unsere Mädchen* zu Wort kommen können. Ob wir eine freiwillige Besucherin* finden werden, ist noch unklar, aber wir sind dabei, Videostatements von den Mädels* einzusammeln, warum für sie die Schilleria wichtig ist, was sie sich an der Schule wünschen und was sie sich zuhause mehr wünschen. Die ersten Statements können schon auf Facebook angeguckt werden:

 

Zur Reihe:

Eda Ağsarlioğlu arbeitet in der ju:an-Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit, einem Projekt der Amadeu Antonio Stiftung. Ju:an bietet Beratungen und Fortbildungen zu den Themenfeldern Antisemitismus und Rassismus für Jugendarbeiter*innen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit an und entwickelt Projekte für und mit Jugendlichen. Mit einer Reihe von Blogeinträgen bei Belltower.News will ju:an einen Blick auf die Jugendarbeit werfen und von der aktuellen Praxis  berichten. Im Mittelpunkt stehen Fragen rund um Anti-/Diskriminierung und den Umgang damit.


ju:an goes Belltower.News

Auf Belltower.News veröffentlicht die ju:an-Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit Beiträge, in denen sie Stimmen von Expert*innen zu einem Thema rund um Rassismus, Antisemitismus und Corona einholt.

  • Den Start macht Jenny Hübner, eine Mitbegründerin der Landesarbeitsgemeinschaft Offene Kinder- und Jugendarbeit Berlin: Was ist überhaupt digitale Jugendarbeit, welche Herausforderungen gibt es und wo kommen ungleiche Voraussetzungen zum Tragen?
  • Weiter geht es mit Teresa Fischer und Micky Patock, Straßensozialarbeiter:innen bei Gangway e.V. zu dem Problem: Wenn Jugendliche von Racial Profiling betroffen sind.
  • Kimiko Suda von korientation e.V. stellt das Projekt Media Empowerment für German Asians vor, das zum Ziel hat, Asiatische Communities in Deutschland sichtbarer zu machen und Jugendliche in ihrem Selbstaustdruck zu stärken.
  • Yael Michael und Yonatan Weizman von „Shalom Rollberg“ stellen ihr Projekt vor, das sich der Arbeit gegen Rassismus und Antisemitimus im Kontext von Freizeitangeboten, Hausaufgabenhilfe und Aktivitäten für Austausch und Begegnung in einem überwiegend von Muslim:innen bewohnten Kiez widmet.
  • Mit Georgi Ivanov und Eileen König sprechen wir über Amaro Foro, eine Organisation von Roma:Romnja und Nicht-Roma:Romnja, über Empowerment von Jugendlichen und ihre Beratungs- und Unterstützungarbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen.
  • Jouanna Hassoun von Transaidency e.V. berichtet von den rassistischen Diskriminierungen, die viele Familien nicht nur unter Pandemiebedingungen in der Schule erfahren.
  • Über die Bedeutung der Mädchen*arbeit gerade in Zeiten, in denen der öffentliche Raum beschränkt wird, unterhalten wir uns mit Vivien Bahro und Sevim Uzun aus der Schilleria.
  • Marina Chernivsky stellt die Arbeit der Beratungsstelle für Betroffene antisemitischer Gewalt OFEK vor und geht auch darauf ein, welche Veränderungen im Antisemitismus in der Pandemie sofort sichtbar wurden.

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