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Jugendliche Roma in Berlin „Sie wünschen sich Bildung und finden Antiziganismus“

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Das waren noch Zeiten: Die Pandemie macht das traditionelle Hederlezi-Straßenfest, das Amaro Foro organisiert, unmöglich. Bis es wieder geht, werden digitale Wege gesucht. (Quelle: Amaro Foro auf YouTube)

Das Interview mit Georgi Ivanov und Eileen König von Amaro Foro e. V. führte Rosa Fava, Leiterin der ju:an-Praxisstelle Antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit der Amadeu Antonio Stiftung.

Wer oder was ist Amaro Foro?

Eileen König: Amaro Foro ist ein transkultureller Jugendverband von und für Roma und Nicht-Roma. Wir haben drei Schwerpunkte: Antidiskriminierungsprojekte, soziale Beratungen und Jugendarbeit. Zur Jugendarbeit gehören lokale und internationale politische und historisch-politische Jugendbildungsarbeit, Bildungs- und Berufsberatung. Die Jugendlichen lernen bei den Begegnungen hier oder im Ausland neue Perspektiven und andere Lebensrealitäten direkt kennen. Transkulturell heißt: Wir kommen aus unterschiedlichen Ländern und sprechen verschiedene Sprachen, etwa aus Bulgarien, Rumänien, Deutschland, Kroatien, Nordmazedonien. Manche sind aus Roma-Familien, manche nicht.

Georgi Ivanov: Unser Bundesverband heißt Amaro Drom, wir sind die Berliner Gliederung. Amaro Foro bedeutet auf Romanes „Unsere Stadt“. Es gibt uns seit 2010 in Berlin. Wir bieten auch Sozialberatung für Erwachsene an, weil Elternarbeit nicht aus Jugendarbeit wegzudenken ist. Wir machen viel im Bereich Soziale Arbeit, das ist etwas anders als an anderen Orten, in denen Amaro Drom aktiv ist. In der Jugendarbeit ist die Hauptmotivation, junge Roma in ihrer Identität zu stärken, ohne ihnen ein Bekenntnis anzutragen. Bei den Aktivitäten kommen die verschiedenen Jugendlichen quasi als Minigesellschaft zusammen. Gemeinsam arbeiten sie an Themen zur Geschichte der Sinti und Roma oder Antiziganismus. Dies sensibilisiert auch die Nichtroma. Das ist leider notwendig: In Nachbarschaften kommt es manchmal zu Konflikten, da ist es gut, über Hintergründe aufzuklären.

Eileen König: Ich erinnere mich an einen Austausch, da haben wir über Privilegien gesprochen. Nichtromajugendliche haben dann gesagt: „Wir fühlen uns auch diskriminiert, denn Romajugendliche kriegen extra Stipendien.“ Darüber zu diskutieren, neue Perspektiven zu bekommen, da findet dann Lernen, Kennenlernen und Begegnung statt.

Wie erreicht ihr eure Zielgruppen?

Georgi Ivanov: Über die Beratungsstelle kommen viele zu uns. Die gesamte rechtliche Situation vieler der Jugendlichen ist komplex und der Alltag von sozialem Druck geprägt. Wenn zum Beispiel eine Familie von Amts wegen ständig die Unterkunft wechseln muss, und die Jugendlichen sich immer neu eingewöhnen müssen, fehlt es ihnen an Langzeitperspektiven. Es fehlt das Gefühl, in Berlin angekommen zu sein und nun den Horizont erweitern zu können. Vielleicht müssen sie morgen aus der Unterkunft raus und sitzen auf der Straße. Es gibt auch viele Jugendliche, die bei den Anliegen ihrer Eltern unterstützen müssen.

Eileen König: Bei der Bildungs- und Berufsberatung geht erst einmal um andere Themen: Wo bekomme ich einen Schulplatz, welche Schulformen gibt es? Wie kann ich mich für eine Ausbildung bewerben? Oder: Ich will nicht in die Schule, da werde ich diskriminiert. Die Jugendlichen müssen immer wieder neu anfangen, so bleibt wenig Zeit für außerschulische Aktivitäten.

Gibt es typische Probleme oder Anliegen, die Roma*Romnja haben?

Georgi Ivanov: Erstmal haben Romajugendliche genau dieselben Probleme und Herausforderungen wie alle anderen Jugendlichen, mit ihrer Rolle in der Gesellschaft, mit ihrem sozialen Status. Dann gibt es Jugendliche, die rassistisch gemobbt oder diskriminiert werden. Es gibt auch Romajugendliche, die mehrdimensional diskriminiert werden. Homophobie spielt auch eine große Rolle.

In der Anlaufstelle ist es außerdem schwierig, Jugend- und Familienthemen zu trennen. Es geht um die Wohnsituation, um Krankenversicherung, oft auch um Schulden. Nicht selten waren Familien verschuldet, weil die Jugendlichen ohne Ticket zur Schule gefahren sind. Seit zwei Jahren gibt es das kostenlose Schulticket, aber das muss beantragt werden. Das größte Problem ist die Bildungssituation, besonders für diejenigen, die mit 16/17 Jahren nach Berlin kommen. Es gilt keine Schulpflicht, und die Jugendlichen müssen eine Schule finden, die sie nimmt, auch ohne Deutschkenntnisse. Manche können nichts tun, als sich den ganzen Tag zu langweilen oder gleich in die Arbeitswelt einzusteigen. Zum Sprachkurs können sie auch nicht, wenn die Familie nicht im Leistungsbezug ist, sonst müssen sie selbst den Kurs bezahlen und viele Familien haben das Geld nicht. Die Jugendlichen wollen dann arbeiten, landen ohne (anerkannte) Abschlüsse aber im Niedriglohnsektor. Schon einen Ausbildungs- oder Praktikumsplatz zu finden ist schwierig. Mobbing, Diskriminierung kommt dann sehr oft hinzu.

Eileen König: Viele möchten nicht zur Schule gehen, weil sie dort Mobbing oder Rassismus erleben, oder weil sie nicht aus den Willkommensklassen herauskommen. Die Übergänge sind schwierig ohne Abschlüsse und mit wenig Deutschkenntnissen. Während der Pandemie ist dazugekommen, dass viele nicht die technische Ausstattung haben, die man braucht, um die Ausbildung digital weiterzuführen. Sie haben vielleicht nur ein Smartphone, und auch das haben nicht alle. Darauf können sie nicht richtig am Homeschooling teilnehmen oder einen Lebenslauf schreiben. Und sie wissen oft nicht, wo sie hingehen können, um kostenfrei einen Laptop oder PC zu benutzen.

Aber sind das nicht Probleme, die auch beispielsweise auf jugendliche Geflüchtete aus afrikanischen oder arabischen Ländern zutreffen?

Georgi Ivanov: Es ist nicht ok, migrantische Gruppen zu vergleichen, die Hintergründe sind immer sehr verschieden. Es besteht aber die verbreitete Annahme, dass die Menschen aus der EU es hier sehr leicht hätten. Das stimmt nicht, sie haben zwar das Privileg, sich frei zu bewegen, die Freizügigkeit, aber der Status ist nicht unbedingt besser. Sobald die Jugendlichen als Roma wahrgenommen werden, geht der Antiziganismus los. Ein Beispiel: Wenn ein Kind auf eine weit entfernte Schule verwiesen wird und nicht so weit fahren kann, sagt eine Direktorin den Eltern: „Sie arbeiten eh nicht, Sie können ihr Kind fahren.“ Ohne Nachfrage besteht sofort die Annahme, dass Roma nicht arbeiten. Dann werden die Jugendlichen oft mit dem „Z*******“-Schimpfwort beleidigt. Oder es heißt „Bei dir gebe ich mir nicht so viel Mühe, du wirst eh heiraten im nächsten Jahr.“ Es gibt spezifische Punkte, es ist aber sehr komplex, um das kurz zu beschreiben. Es gibt auch positive Zuschreibungen, romantisierende Vorstellungen, aber der Antiziganismus ist da. Auch eine rumänische Zahnärztin, ein bulgarischer Rechtsanwalt, auch sie bekommen zu hören, sie seien allein zum Zweck des Leistungsempfangs gekommen.

Eileen König: Ich habe auch schon von anderen Projektförderern gehört: „Aber sie können nicht gut Deutsch, die anderen Gruppen können das besser.“

Georgi Ivanov: Es gibt nichts Schlimmeres, als wegen Krieges zu fliehen. Aber die Menschen aus Bulgarien, Rumänien, auch Serbien, Bosnien leben dort oft unter sehr schlechten Bedingungen, erleben brutalen Rassismus und Antiziganismus. Sie haben strukturelle Benachteiligung erlebt, wenig Bildungsmöglichkeiten, Angriffe und Gewalt, sie haben Menschen verhungern sehen. Dann kommen sie nach Deutschland und haben die Vorstellung, hier müsse alles besser sein. Vor allem gäbe es gute Bildung. Doch dann geht es hier sehr schlimm für sie weiter. Nichts ist einfach, sie fühlen sich nicht willkommen. Der Antiziganismus etwa ist hier ja auch sehr ausgeprägt. Aus der EU zu kommen, ist oft kein Privileg, auf keinen Fall.

Der Begriff Antiziganismus ist ja umstritten, warum verwendet ihr ihn?

Georgi Ivanov: Wie verwenden ihn bewusst, auch wenn er umstritten ist. Es geht nicht darum, wie es uns dabei geht, sondern darum, was genau das Problem, das Phänomen und die Ideologie bezeichnet. Diese Form von Rassismus betrifft nicht nur Sinti und Roma, sondern auch diejenigen, die als solche wahrgenommen werden. Das hat nichts mit den Realitäten der Menschen an sich zu tun. Es geht darum, was die Dominanzgesellschaft produziert. Viele kritisieren den Begriff, weil er die Bezeichnung „zigan“ in sich trägt. Aber wie sollen wir Rassismus bekämpfen, wenn wir das Problem nicht benennen? Die Ersatzbegriffe sind auch schwierig: „Rassismus gegen Sinti und Roma“ – was ist mit den Menschen, die keine Sinti oder Roma sind, aber als Roma behandelt werden? Es gibt bulgarische Türken, die größte Minderheit in Bulgarien, viele sprechen auch Romanes und sind auch Roma, aber sie verstecken sich quasi hinter den bulgarischen Türken, weil die besser angesehen sind. „Gadje-Rassismus“ ist auch problematisch und klingt so, als wären die Gadje die Betroffenen. Gadje ist auch ein Fremdwort, keine Selbstbezeichnung. Gadje heißt „die Fremden /die Anderen“ und ist durchaus auch negativ besetzt. Antiziganismus ist die beste Bezeichnung, es geht dabei nicht um Anti-Ziganismus, weil es keinen Ziganismus gibt, sondern um Antizigan-ismus, eine Ideologie, eine Zuschreibung und die damit verbundene Bewertung. Der Begriff löst auch intern immer wieder Diskussionen aus. Jeder kann benutzen, was er will – aber ich auch.

Hat sich durch die Pandemie bei den Jugendlichen oder bei eurer Arbeit viel verändert?

Eileen König: In der Jugendarbeit ja, wir haben keine eigenen Räume, sondern arbeiten immer mit Partner*innen zusammen, beispielsweise Jugendfreizeiteinrichtungen oder Gemeinschaftsunterkünfte. Das geht nun nicht mehr. Wie halten wir den Kontakt, wie können wir trotzdem Projekte machen? Gerade in der Pandemie ist es wichtig, dass es weiterhin für Jugendliche Angebote gibt. Viele haben Die Kommunikation lief sehr viel über Handy und WhatsApp. Teilweise konnten wir uns mit einzelnen Jugendlichen treffen. Dann gab es in Berlin Berichte über vermeintliche Vorfälle, dass viele Menschen sich in sogenannten „Romahäusern“ angesteckt hätten. Da hatten viele Jugendliche Angst, rauszugehen und etwas falsch zu machen oder angegriffen zu werden.

Georgi Ivanov: Es wurden auch Dienstleistungen in der Nachbarschaft dieser Häuser verweigert, wie uns vertraulich erzählt wurde. Es hieß, Roma halten sich nicht an Regeln. Deswegen waren auch plötzlich Polizeiautos als Bewacher vor den Häusern, was in anderen Wohnobjekten, in denen mehr als ein Haushalt in Quarantäne war, nicht der Fall war. Und das vermittelt in der Nachbarschaft und gesamtgesellschaftlich das Bild: „Die halten sich nicht an die Regeln“.

Homeschooling war natürlich ein großes Thema. Die technische Ausstattung ist eine Sache, aber eine andere Sache ist die Wohnsituation. Wenn zum Beispiel eine fünfköpfige Familie in einem Zimmer untergebracht ist in einer Unterkunft, wo soll das Kind, wo sollen die Kinder lernen? Auch in einer normalen Wohnung fehlt es oft an Rückzugsraum, auch zum Erholen. Oft müssen Jugendliche andere Aufgaben in Familie übernehmen, wenn die Kitas zu sind.

Da sind ganze Strukturen weggefallen, auch der Zugang zu Freund:innen und Mitschüler:innen, oder wenn Jugendliche angebunden waren an außerschulische Angebote – das war auf einmal alles weg. Für Romajugendliche ist das genau so ein Problem wie für alle Jugendlichen. Aber es verschärft sich bei denjenigen, die Probleme haben, die wegen Beratungsbedarfs zu uns kommen.

Könnt ihr noch erläutern, was jenseits der Pandemie eure Empowerment-Angebote sind?

Eileen König: Wir haben viele Partnerorganisationen in südosteuropäischen Ländern und organisieren regelmäßig Jugendbegegnungen mit ihnen. Wir setzen uns dabei mit der Geschichte von Roma und Sinti auseinandergesetzt oder probieren Empowerment-Methoden aus. Zum Bespiel haben wir Theaterstücke oder Musikprojekte umgesetzt.  In Berlin haben wir jedes Jahr die Gedenkstätten Sachsenhausen und Ravensbrück besucht und uns mit dem Genozid im Nationalsozialismus beschäftigt. Wir haben jetzt auch in der Pandemie historische Bildungsprojekte online durchgeführt, etwa mit den Gedenkstätten Dachau und Ravensbrück. Das geht auch, aber wenn man sich mit Themen wie dem Nationalsozialismus und Verfolgung auseinandersetzt, kann man im Online-Format vieles bei Jugendlichen nicht auffangen. Es fehlen die Gespräche zwischendurch und die anderen Aktivitäten, wie das gemeinsame Essen. Wir haben ein Fanzine, das sich mit Rassismus und Empowerment beschäftigt, das alle paar Monate erscheint. Wir organisieren auch das jährliche Hederlezifest, ein Straßenfest in Neukölln.

Georgi Ivanov: Weil wir das Fest das zweite Jahr hintereinander nicht durchführen konnten, haben wir gerade ein Video dazu zusammengestellt mit Erinnerungen, dass auf YouTube zu sehen ist.  Das Fest wird am 6. Mai vor allem in den Balkanländern gefeiert, es gibt viele Mythen zum Fest, aber es ist ein Frühlingsfest. Bei der Zusammenstellung des Videos war ich sehr fasziniert: Es zeigt, wie die Jugendlichen, Roma und Nichtroma aus verschiedenen Ländern mit verschiedenen Nationalitäten, ethnischen, religiösen Hintergründen zusammenkommen, mehrere Bühnenauftritte auf die Beine stellen und sich nebenbei austauschen, wie sie das Fest aus ihrem Land kennen. Da lernen alle voneinander, während sie Neues schaffen in ihrer neuen Heimat.

Mehr zu Amaro Foro im Internet:

https://amaroforo.de


ju:an goes Belltower.News

Auf Belltower.News veröffentlicht die ju:an-Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit Beiträge, in denen sie Stimmen von Expert*innen zu einem Thema rund um Rassismus, Antisemitismus und Corona einholt.

  • Den Start macht Jenny Hübner, eine Mitbegründerin der Landesarbeitsgemeinschaft Offene Kinder- und Jugendarbeit Berlin: Was ist überhaupt digitale Jugendarbeit, welche Herausforderungen gibt es und wo kommen ungleiche Voraussetzungen zum Tragen?
  • Weiter geht es mit Teresa Fischer und Micky Patock, Straßensozialarbeiter:innen bei Gangway e.V. zu dem Problem: Wenn Jugendliche von Racial Profiling betroffen sind.
  • Kimiko Suda von korientation e.V. stellt das Projekt Media Empowerment für German Asians vor, das zum Ziel hat, Asiatische Communities in Deutschland sichtbarer zu machen und Jugendliche in ihrem Selbstaustdruck zu stärken.
  • Yael Michael und Yonatan Weizman von „Shalom Rollberg“ stellen ihr Projekt vor, das sich der Arbeit gegen Rassismus und Antisemitimus im Kontext von Freizeitangeboten, Hausaufgabenhilfe und Aktivitäten für Austausch und Begegnung in einem überwiegend von Muslim:innen bewohnten Kiez widmet.
  • Mit Georgi Ivanov und Eileen König sprechen wir über Amaro Foro, eine Organisation von Roma:Romnja und Nicht-Roma:Romnja, über Empowerment von Jugendlichen und ihre Beratungs- und Unterstützungarbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen.
  • Jouanna Hassoun von Transaidency e.V. berichtet von den rassistischen Diskriminierungen, die viele Familien nicht nur unter Pandemiebedingungen in der Schule erfahren.
  • Über die Bedeutung der Mädchen*arbeit gerade in Zeiten, in denen der öffentliche Raum beschränkt wird, unterhalten wir uns mit Vivien Bahro und Sevim Uzun aus der Schilleria.
  • Marina Chernivsky stellt die Arbeit der Beratungsstelle für Betroffene antisemitischer Gewalt OFEK vor und geht auch darauf ein, welche Veränderungen im Antisemitismus in der Pandemie sofort sichtbar wurden.

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