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Nach Halle und Hanau Der öffentliche Raum als Ort der Ermächtigung der Opfer von Rassismus und Antisemitismus

In den Tagen rund um den 19. März, ein Monat nach dem rassistischen Massaker in Hanau, tauchten vielerorts Plakate mit den Gesichtern und Namen der Toten auf. #saytheirnames ist das Motto, das dazu aufruft, die Ermordeten als konkrete Personen zu erinnern. Schon einen Monat nach dem Anschlag drohten die Getöteten, vergessen zu werden, weil die Coronapandemie alles überschattet. Am 19. März dauerte es vielfach bis in den Abend, bis die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten überhaupt einen Beitrag zu dem rassistischen Anschlag vor genau einem Monat brachten.

 
Plakate im Andenken an die Opfer des rechtsterroristischen Attentats von Hanau im öffentlichen Raum in Berlin, März 2020. (Quelle: KA)

Es waren überwiegend Migrant*innenselbstorganisationen, antirassistische Initiativen und zivilgesellschaftliche Organisationen, die Hanau in den Sozialen Medien ins Gedächtnis zurückholten. Genauso wichtig ist die Repräsentation der Opfer im materiellen öffentlichen Raum, auf Straßen und Plätzen, durch die Plakataktionen in vielen Orten bundesweit. Es geht nicht nur um Sichtbarkeit für andere Zielgruppen, sondern konkret um die Präsenz im Raum: Diejenigen, denen die Existenz genommen wurde, erhalten wieder einen Platz. Diejenigen, die auf Grund rassistischer und rechtsextremer Haltungen bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein keinen Ort ‚hier‘ und ‚bei uns‘ haben sollen, werden zurückgeholt. Der öffentliche Raum, das ist die res publica, die öffentliche Sache, der Raum des Politischen, in dem der*die Einzelne zum gesellschaftlichen Wesen und frei und gleich Teil eines Wir wird.

Dabei fanden die Plakatierungen an einem Wochenende statt, an dem es schon geboten war, sich nicht mehr im öffentlichen Raum aufzuhalten, jedenfalls nicht zu mehreren. Dass sich dennoch Menschen zusammenfanden, um zu plakatieren und sich den Raum zu nehmen, zeigt gerade an, wie essenziell die Öffentlichkeit für die rassistisch Diskriminierten und Ausgegrenzten ist. Sie überwinden die Grenze.


Bericht: Ausstellung im Internet –  Fotograf porträtiert die Überlebenden von Halle
https://www.rbb24.de/kultur/beitrag/2020/03/video-ausstellung-portraets-anschlag-auf-synagoge-in-halle-benyamin-reich-alexander-ochs.html


Der öffentliche Raum bleibt hingegen einer Ausstellung über Überlebende von Halle weitestgehend verschlossen: Die erste, wie es heißt, „Geisterausstellung“ wurde am 19. März in Berlin ohne Publikum eröffnet. Sie zeigt Foto-Portraits einiger der Menschen, die am 9. Oktober letzten Jahres in Halle in der Synagoge waren, die von einem rechtsextremen Täter mit Maschinengewehr angegriffen wurde. Sie überlebten nur, weil die Holztür Stand hielt. Eine Passantin wurde jedoch erschossen, ebenso ein Besucher des nahe gelegenen Imbiss‘ „Kiez-Döner“, den der Täter als nächsten Zielort aussuchte.

Der Künstler Benyamin Reich war am Yom Kippur nur zufällig nicht selbst in der Synagoge und fühlt sich den Überlebenden des terroristischen Anschlags sehr nahe. Ähnlich wie Plakate sind Fotografien ein Medium, um den Menschen Gesicht und Namen zu geben, und genauso stellt eine Ausstellung einen öffentlichen Raum dar, der den designierten Opfern zurückgegeben wird. Es ging dem Fotografen ähnlich wie den Plakatierer*innen darum, eine öffentliche Präsenz herzustellen und damit dem schnellen Vergessen des antisemitischen Anschlags entgegenzuwirken. Eventuell lässt sich die Ausstellung individuell besuchen (https://www.alexanderochs-private.com/private/benyaminreich-halleimaginefamily/), aber eine angemessene Repräsentation in der Öffentlichkeit lässt sich so nicht herstellen – und mediale Aufmerksamkeit auch nicht.

Die Corona-Pandemie nimmt gerade denjenigen den Raum, die ihn sich ohnehin erst erobern müssen. Umso mehr müssen Wege gefunden werden, den öffentlichen Raum zu besetzen, gerade auch bei Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverboten und anderen Maßnahmen, die den Raum des Politischen gerade für diejenigen, die meist eh an den Rand gedrängt sind, noch stärker einzugrenzen drohen.

 

Rosa Fava leitet die ju:an-Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit der Amadeu Antonio Stiftung.

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