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Warum sollen wir dein Buch lesen? „Pädagogisches Personal verstrickt sich schnell in antisemitische Narrative“

Symbolfoto (Quelle: Unsplash)

In dieser Reihe stellen wir Neuerscheinungen vor, die wir für Fachkräfte der Offenen und anderer Jugendarbeit interessant und wichtig finden. Dabei sollen die Autor:innen die Leser:innen selbst davon überzeugen, das Buch für das Team anzuschaffen und zu lesen. Die Bücher sind aber auch für andere Interessierte eine bereichernde Lektüre! Diesmal mit Christoph Wolf, Autor von Wie Politiklehrkräfte Antisemitismus denken und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Didaktik der Demokratie an der Universität Hannover.

Das Interview führte das Team der ju:an-Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit.

ju:an: Was genau hast du mit Offener Jugendarbeit zu tun – oder gar nichts?

Christoph Wolf: Meine Praxiserfahrungen liegen in der außerschulischen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung, da bin ich beruflich sozialisiert. Ich habe dreieinhalb Jahre in der Akademie Frankenwarte, einer politische Bildungsstätte in Würzburg, gearbeitet und war freier Mitarbeiter bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Ich habe meistens mit Jugendlichen, aber auch Erwachsenen zu vielen unterschiedlichen Themen gearbeitet, zum Beispiel zu Rechtextremismus, Europa oder Demokratie. Das waren Formate wie Partizipationsprojekte, Zeitzeugengespräche, Workshops, Ausstellungen und Seminare. Es ging da aber selten spezifisch um Diskriminierung. Und ich war ein paar Jahre Mitglied in der Kommission Jugendbildung des Arbeitskreises Deutscher Bildungsstätten. Seit 2014 arbeite ich an der Universität Hannover am Institut für Didaktik der Demokratie. Eine Kernaufgabe des Instituts ist die Ausbildung von Politiklehrkräften, wir sind aber recht groß und koordinieren auch viele (internationale) Projekte, einige davon berühren auch die politische Jugendarbeit. Ich biete außerdem regelmäßig ein Seminar zur Einführung in die non-formale politische Jugend- und Erwachsenenbildung an. Das ist ein sehr unübersichtliches, komplexes und für viele gleichzeitig unbekanntes Arbeitsfeld. Es geht mir dabei darum, Studierende mit diesem Feld bekannt zu machen. Standardmäßig mache ich mittlerweile in dem Seminar auch einen größeren Themenblock zu Rassismus und- Antisemitismuskritik.

Warum sollte man dein Buch lesen?
Als ich überlegt habe, womit ich mich im Rahmen meiner Promotion beschäftigen will, ist mir aufgefallen, dass die pädagogischen Konzepte zu Antisemitismus meistens junge Menschen im Fokus haben. Glücklicherweise gibt es hier mittlerweile auch Veränderungen, da man gemerkt hat, dass das pädagogische Personal nicht außer Acht gelassen werden darf. Ihr Umgang mit dem Thema, die Art, wie Fachkräfte die Lernumgebung in einem Jugendhaus oder einer Bildungsstätte gestalten, ist nicht weniger wichtig. Deshalb habe ich für meine Forschung bewusst einen Fokus auf Politiklehrkräfte, genauer in Niedersachsen, gelegt und diese u.a. gefragt: Welche Vorstellungen und Konzepte haben sie von Antisemitismus? Inwiefern spielt Antisemitismus in ihrem Unterricht eine Rolle, beobachten sie ihn und wie gehen sie gegebenenfalls dagegen vor? Jüdische Lehrkräfte waren übrigens nicht darunter, ich habe bewusst mit Lehrkräften aus der so genannten Mehrheitsgesellschaft gesprochen.

Was ist dabei rausgekommen?
Allgemein gilt das pädagogische Personal, gerade in der Politischen Bildung, ja eher als unverdächtig und aufgeklärt. Tatsächlich – und das kann ich gut zeigen – verstrickt es sich aber auch selbst schnell in antisemitische Narrative, Zwar nicht im Sinne eines geschlossenen Weltbildes, das ist mir in den Interviews nicht untergekommen, durchaus aber fragmentarisch. Wenn zum Beispiel Jugendliche antisemitische Stereotype äußern, werden diese nicht erkannt oder sogar von den Lehrer:innen legitimiert. So wird sich natürlich keine wünschenswerte pädagogische Auseinandersetzung ergeben. Drastische und offen antisemitische Aussagen stellen hier eigentlich kein Problem dar, aber die feinen und subtilen, latenten Kommunikationsformen werden oft nicht erkannt. Und generell fehlt es an Instrumenten und Skills, um mit Jugendlichen über Antisemitismus zu kommunizieren und das Thema zu vermitteln. Die Interventionen sind oft belehrend und regen bei den Jugendlichen keine Auseinandersetzung mit dem Gegenstand an. Oder der antisemitische Vorfall bzw. die antisemitische Aussage wird weggebügelt, wenn es nicht gerade Hauptthema im Gespräch ist.

Du willst mit deinem Buch zeigen, dass es auch anders geht?
Mein Buch soll als Hilfestellung für Lehrkräfte und anderes pädagogisches Personal der Politischen Bildung dienen und zeigen, wie sie sensibel auf Antisemitismus reagieren können und wie sie das Thema im Unterricht oder im Seminar verankern können. Ich zeige Wege der Fort- und Weiterbildung auf, um verinnerlichte Formen bei sich selbst kritisch zu reflektieren. Denn nur, wenn Reflexionsprozesse durchlaufen werden, sind Menschen in der Lage, Informationen anders zu bewerten, neues Wissen anzunehmen und zu verinnerlichen. Dies gilt vor allem bei komplexen Themen wie dem israelbezogenem Antisemitismus. Neben dem Thema an sich geht es hier nämlich auch um die Lehrer:innenrolle und das pädagogische Selbstverständnis, sich selbst als lernende Person zu betrachten. Ich konnte schon beobachten, dass Fortbildungen als ein Art Informationsvortrag durchgeführt werden, in denen die Thematik, beispielsweise der Nahostkonflikt, frontal und faktenzentriert abgehandelt wird. Prozesse der Selbstdistanzierung oder -reflexion kamen da gar nicht vor. So können eigentlich gar keine Bildungsprozesse stattfinden, in denen eigene Ressentiments aufgedeckt werden.

Was hat dich motiviert, das Buch zu schreiben?
Das ist zu einem Teil biografisch fundiert: meine Sozialisation als Teenager blieb, wie so oft in diesem Alter, häufig unreflektiert. Ich habe mich stets klar als antirassistisch verstanden, aber trotzdem auch sehr seltsame Äußerungen von mir gegeben. Aus heutiger Sicht erscheinen mir zum Beispiel Äußerungen im Ethikunterricht in Bezug auf den Israel-Palästina-Konflikt als sehr befremdlich. Für meine Generation vielleicht typisch ist die Erfahrung der islamistischen Anschläge in den USA am 11. September 2001. Auch aus meinem Umfeld kamen da sehr viele Äußerungen, die ich fragwürdig fand, was dazu geführt hat, dass ich mich verstärkt mit dem Thema Antisemitismus befasst habe.

Mit dem Wechsel an die Uni Hannover 2014 kam natürlich die Frage auf, mit welchen Themen ich mich vertiefend in meiner Dissertation beschäftigen will. Da habe ich mich auch mal gründlicher mit der Frage „Wie ist es mit mir selbst?“ befasst, schließlich kam ich damals direkt aus der Praxis der außerschulischen Politischen Bildung. Meine Kolleg:innen aus dieser Zeit haben tolle pädagogische Arbeit gemacht. Oft ist mir aber aufgefallen, dass teilweise kein Problembewusstsein für Antisemitismus bestand. Einige haben beispielsweise nicht verstanden, warum das Gedicht „Was gesagt werden muss“ von Günther Grass so problematisch ist. Oder für Vorträge wurden „israelkritische“ Expert:innen eingeladen, ohne zu reflektieren, welche antisemitischen Positionen die da eigentlich vertreten. So habe ich mich dann 2014 als wissenschaftlicher Mitarbeiter erst einmal auf die Frage fokussiert „Was haben wir als Lehrkräfte, als pädagogische Fachkräfte, als politische Bildner:innen selbst für ein Bild von Antisemitismus?“.

Was findet sich nur in deinem Buch und nirgendwo anders?
Neben der allgemeinen Analyse der Interviews mache ich vier Einzelfallanalysen, in denen ich detailliert nachzeichne, wie sich bei pädagogischen Personal der Politischen Bildung antisemitische Fragmente zeigen können. Hier werden Zusammenhänge zwischen diesen Fragmenten und die möglichen Auswirkungen auf die Praxis sichtbar. Beispielsweise stellte sich bei einer befragten Lehrkraft die Sichtweise „Jede Aktion bewirkt eine Gegenreaktion“ heraus, woraus er schlussfolgert, dass das ständige Erinnern an den Holocaust als Reaktion natürlich Antisemitismus verursache. Das ist tatsächlich seine subjektiv schlüssige Erklärung für Antisemitismus, wodurch eine Täter-Opfer-Umkehr stattfindet. Jemand, der so denkt, erkennt Schuldabwehr-Antisemitismus nicht, wenn dieser auftritt. Im Gegenteil: Er wird Jugendliche bestätigen.

Ebenso besteht viel Angst und Unsicherheit bei Pädagog:innen im Umgang mit dem Nahostkonflikt, wodurch Auswirkungen auf dessen Wahrnehmung und Umsetzung in der Politischen Bildung entstehen. Nicht selten werden dann antiisraelische Ressentiments reproduziert. Hier mache ich auch konkrete Vorschläge für den Politikunterricht.

Und was noch?
Ich arbeite in meinem Buch systematisch heraus, was die subjektiven Vorstellungen von Antisemitismus sind, die sich gut für Bildungsprozesse nutzen lassen. Beispielsweise sind bestimmte Alleinstellungsmerkmale des Antisemitismus, wie zum Beispiel die Idee vom mächtigen Juden, häufig nicht im Bewusstsein. Antisemitismus gilt weitläufig einfach als Rassismus gegen Juden:Jüdinnen. Über die Weltverschwörungsmetapher kann man Teilnehmer:innen beispielsweise gut verdeutlichen, dass es bestimmte Merkmale gibt, die es ausschließen, Antisemitismus nur als eine Unterform von Rassismus zu verstehen. Verschwörungsmythen sind mehr oder weniger bekannt, oft herrscht aber kein Bewusstsein darüber, dass sie spezifische Ressentiments gegen Juden:Jüdinnen bedienen.

Außerdem konnte ich mit meinen Interviews die Bedeutungslosigkeit des Themas Antisemitismus in der Politischen Bildung belegen, d.h. Antisemitismus wird — wenn überhaupt — oft nur oberflächlich behandelt, beispielsweise als ein Aspekt von Extremismus. Durch die Analyse meiner Interviews kann ich zeigen, dass die Auseinandersetzung mit Antisemitismus strukturell nicht so verankert ist, wie man meinen und es sich eigentlich wünschen würde. Dem stelle ich konkret einige Ideen entgegen, wie Antisemitismus in der Politischen Bildung thematisiert werden kann.

Warum gelingt Jugendarbeit besser, wenn man die Idee aus deinem Buch verfolgt?
Meine Studie nimmt das pädagogische Personal in den Blick. Konzepte für die Jugendarbeit funktionieren dann am besten, wenn die Fachkräfte entsprechende Kompetenzen haben. Erst vor wenigen Tagen konnte ich miterleben, was passieren kann, wenn das nicht der Fall ist: Während einer mündlichen Prüfung haben wir auch über Rassismuskritik gesprochen und der Student hatte das Konzept überhaupt nicht verstanden. Er betonte, „nichtdeutsche“ Personen würden ihn ständig beleidigen, und das fände er nicht ok. Wenn dieser Student dann irgendwann in die pädagogische Praxis geht, kann das fatale Auswirkungen nach sich ziehen. Pädagogisches Personal muss unbedingt gut ausgebildet sein. Dazu gehört die Fähigkeit, die eigenen Bilder und Vorstellungen zu hinterfragen und damit auch Konzepte wie Rassismuskritik oder Antisemitismuskritik überhaupt verstehen zu können. Mein Buch gibt Hinweise, wie das gelingen kann.

Etwas, was du noch loswerden möchtest?
Die antisemitismuskritische Bildung, die Beschäftigung mit Antisemitismus, sollte selbstverständlicher werden. An vielen Stellen wird hier schon sehr viel gemacht. Vor ein paar Tagen erst habe ich aber mit einer Professorin der Sozialen Arbeit gesprochen, die das Thema als „total exotisch“ empfand. Es muss eine stärkere Selbstverständlichkeit diesem Thema gegenüber in der Ausbildung und auch in der Umsetzung entstehen, speziell in der Politischen Bildung. Hierzu kann man mich jederzeit kontaktieren, ich tausche mich sehr gerne aus: wolf@idd.uni-hannover.de

Christoph Wolf, Wie Politiklehrkräfte Antisemitismus denken – Vorstellungen, Erfahrungen, Praxen.  310 Seiten, 69,99 Euro. Hier bestellen.

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