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Bundesverband Mobile Beratung Wie Rechtsextremismus näher rückt – und was dagegen hilft

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(Quelle: Unsplash)

Extrem rechte Vorfälle an Schulen, der bundesweit erste AfD-Landrat, die Verbote von „Hammerskins“ und „Artgemeinschaft“, Razzien gegen „Reichsbürger“, erstarkender Antisemitismus: Das Thema Rechtsextremismus stand 2023 immer wieder im Fokus der medialen Berichterstattung. Doch was ist jenseits dieser bundesweit viel diskutierten Ereignisse passiert? Wie hat sich die extreme Rechte im vergangenen Jahr entwickelt? Und welche Maßnahmen haben demokratisch Engagierte ergriffen, um Rechtsextremismus entgegenzuwirken? Der Bundesverband Mobile Beratung gibt in seinem Jahresrückblick 2023 Antworten. Der folgende Text ist ein Auszug.

Die Beobachtungen der Mobilen Beratungsteams bundesweit zeigen: Rechtsextremismus ist 2023 spürbar in den Alltag vorgedrungen. Die nachfolgenden Abschnitte beleuchten, welche Akteur*innen und Strategien dabei eine Rolle gespielt haben. Der Text erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Er spiegelt die Erfahrungen der Mobilen Beratung und die Perspektiven zivilgesellschaftlich Engagierter wider.

AfD: Erfolgreich und vernetzt

Die „Alternative für Deutschland“ (AfD) war 2023 der größte und bedeutsamste Akteur innerhalb der extremen Rechten. Die Partei war in nahezu allen Regionen präsent – sei es mit Bürgerbüros, Infoständen, Demonstrationen oder Wahlkampfveranstaltungen – und trat auch in westdeutschen Bundesländern offen rechtsextrem auf. Die völkisch-nationalistischen Kräfte innerhalb der Partei konnten sich weitestgehend durchsetzen. Parteiinterne Auseinandersetzungen drehten sich 2023 meist um die Besetzung von Kandidat*innen-Listen oder um Konkurrenzen zwischen einzelnen Parteivertreter*innen. Während die Gesamtpartei und ihr Jugendverband „Junge Alternative“ (JA) vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall beobachtet wird, stufen die Landesämter für Verfassungsschutz in Thüringen und Sachsen-Anhalt die dortigen AfD-Landesverbände als „gesichert rechtsextremistische Bestrebung“ ein.

Das hat jedoch nicht zur gesellschaftlichen Ächtung der Partei geführt. Im Gegenteil: Die AfD hat im vergangenen Jahr Stimmen dazugewonnen. Bei der Landtagswahl in Hessen stimmten 18,4 Prozent der Wahlberechtigten für die AfD, bei der Wahl in Bayern 14,6 Prozent. In bundesweiten Umfragen liegt die AfD bei etwa 20 Prozent – und hat sich damit zur zweitstärksten Kraft entwickelt. In den ostdeutschen Bundesländern könnte sie laut Umfragen bald stärkste politische Kraft werden, ihre Zustimmungswerte liegen hier mittlerweile bei über 30 Prozent. Rechts von der Union konkurriert die AfD derzeit vor allem auf Landesebene mit so unterschiedlichen Parteien wie den „Freien Sachsen“, dem „Bündnis Deutschland“ in Bremen und den „Freien Wählern“ in Bayern.

Auch auf kommunaler Ebene konnte die AfD 2023 eine Reihe von Erfolgen erzielen: Im Juni wurde in Sonneberg (Thüringen) erstmals ein Vertreter der extrem rechten Partei zum Landrat und damit zum Oberhaupt der Kreisverwaltung gewählt. Nur eine Woche später gewann in Raguhn-Jeßnitz (Sachsen-Anhalt) zum ersten Mal ein AfD-Kandidat die Wahl zum hauptamtlichen Bürgermeister. Gerade im ländlichen Raum fällt es durch die nachbarschaftliche Nähe zu AfD-Vertreter*innen sowie durch den Fokus auf kommunale Themen häufig schwerer als in großen Städten, sich von Personen und Positionen der AfD abzugrenzen.

Für Kommunen, aber auch für die Landes- und Bundesebene gilt: Ob und wie die AfD sich etablieren kann, hängt auch vom Problembewusstsein demokratischer Politiker*innen ab. Genau hier liegt das Problem: Vertreter*innen demokratischer Parteien – insbesondere aus               dem konservativ-bürgerlichen Spektrum – haben die AfD 2023 immer    wieder verharmlost. Statt sich eindeutig von der Partei abzugrenzen und demokratische Antworten auf aktuelle Probleme zu finden, haben einige Politiker*innen    (extrem) rechte Narrative übernommen und damit zu deren Normalisierung beigetragen. Anders gesagt: Sie haben sich von der AfD vor sich hertreiben lassen.

Das Jahr 2023 hat auch und aufs Neue gezeigt, dass die AfD eng mit Akteur*innen und Organisationen der „Neuen Rechten“ vernetzt ist. Dazu gehört vor allem das „Institut für Staatspolitik“ (IfS) in Schnellroda (Sachsen-Anhalt), das als „Kaderschmiede“ der AfD und anderer extrem rechter Akteur*innen gilt. 2023 fanden am IfS mehrere Veranstaltungen statt, bei denen AfD-Politiker*innen aus Ost und West gern gesehene Gäste waren. Am IfS ist regelmäßig auch die „Identitäre Bewegung“ (IB) präsent. Sie hat zwar bundesweit an Bedeutung verloren, doch es gibt noch regionale Gruppen, die auch 2023 mit kleineren Aktionen in die Öffentlichkeit getreten sind. Zudem sind aus der IB heraus zahlreiche Projekte entstanden, die sich an ein junges und gebildetes politisches Vorfeld richten. Dieses IB-Netzwerk dient –  ähnlich  wie das IfS – als Rekrutierungsfeld für die AfD. Auch mit Neonazis ist die AfD, insbesondere ihre Jugendorganisation „Junge Alternative“, vernetzt – zum Teil offen und ohne Versuch, diese Verbindungen zu verstecken.

Corona-Leugner*innen: demokratiefeindlich und themenbeweglich

Corona-Leugner*innen konnten 2023 deutlich weniger Menschen mobilisieren als in den Jahren 2020 bis 2022: Sowohl die Anzahl der Demonstrationen als auch die Anzahl der Teilnehmer*innen war, von regionalen  Ausnahmen abgesehen, stark rückläufig. Dennoch haben sich an vielen Orten – im Osten wie im Westen –          stabile Milieus entwickelt, die den Protest weiterführen und demokratische Politiker*innen und Institutionen angreifen.

Die Pandemie war dabei meist nur noch am Rande Thema. Stattdessen griffen die Demonstrierenden eine ganze Bandbreite verschiedener Themen auf. Dazu gehörten etwa die Rechtfertigung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, die Leugnung des Klimawandels, die Missbilligung der Regierungsparteien – vor allem      der Grünen – sowie rassistische Stimmungsmache. Nahezu jede Krise wurde verschwörungsideologisch umgedeutet. Damit wirkten die Proteste weit über extrem rechte Kreise hinaus.

Sogenannte Mischmilieus, die bereits 2020 im Zuge der Corona-Proteste entstanden sind, haben sich 2023 weiter verfestigt und sind teilweise offen rechtsextrem aufgetreten. Zu diesen Mischmilieus gehörten – je nach Region – Verfassungsleugner*innen, Neonazis, „Reichsbürger“, AfD-Vertreter*innen, Verschwörungsgläubige, rassistische Bürger*innen, Anthroposoph*innen, Esoteriker*innen, christlich-religiöse Rechte und anti-westliche Kriegsgegner*innen.

Die ideologische Klammer dieser Milieus ist der Antisemitismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen sowie die Delegitimierung demokratischer Institutionen und Standards.

Von den Organisator*innen und Teilnehmer*innen wurden die Proteste meist als „bürgerlich“ dargestellt. Tatsächlich aber haben viele Protestierende menschen- und demokratieverachtende Positionen radikal und enthemmt nach außen getragen. Wie schon in den Vorjahren bemühten sich Corona-Leugner*innen auch 2023, „alternative“ Schulstrukturen auf- und auszubauen. In „Freilerner“-Gruppen sollen Kinder dem staatlichen Bildungssystem entzogen und mit häufig esoterisch-völkischen Inhalten beschult werden.

Neonazis: Weniger sichtbar, aber aktiv

Die Neonazi-Szene ist seit dem weitgehenden Zerfall der bundesweiten Kameradschaftsstrukturen stark fragmentiert – und besteht vor allem aus regionalen (Klein-)Gruppen, Vereinen sowie Kleinstparteien wie „Die Heimat“ (ehemals NPD), „Die Rechte“ und „Der III. Weg“.

Im öffentlichen Raum waren Neonazis 2023 dennoch sichtbar – wenn auch weniger als in den Vorjahren. Eigene öffentlichkeitswirksame Demonstrationen gab es v.a. in Ostdeutschland. Zu nennen sind hier u.a. die „Trauermärsche“ in Dresden und Demmin sowie die rassistischen Proteste der „Freien Sachsen“ – einer regionalen Neonazi-Partei, die mit ihren Demos auch für ressentimentgeladene Bürger*innen ein „Angebot“ geschaffen hat. Auch in Schleusingen (Thüringen) waren Neonazis maßgeblich an der Organisation von Demos gegen Geflüchtete beteiligt. Darüber hinaus haben Neonazis vielerorts an rassistischen Kundgebungen teilgenommen, die sie zwar nicht selbst organisiert, aber für die sie mit mobilisiert haben – etwa in Upahl (Mecklenburg-Vorpommern). Zudem haben Neonazis versucht, mit Flugblättern, „Mahnwachen“, Graffitis und Stickern sichtbar zu bleiben.

Die Aktionsformen der Szene scheinen sich aber zunehmend „nach innen“ zu richten. So haben organisierte Neonazis 2023 vielerorts Wanderungen, Schulungen, Liederabende14 und Netzwerktage durchgeführt, um den Zusammenhalt der Szene zu stärken.

Im subkulturellen Bereich gibt es ein flächendeckendes Netzwerk von Szene-Unternehmer*innen. Dazu gehören Inhaber*innen von Kleidungsgeschäften, Internetversänden, Musiklabels und Tattoo-Studios.

Für nicht-organisierte rechte Kund*innen bieten diese Geschäfte und Dienstleistungen einen niedrigschwelligen Zugang zur Szene. Für gefestigte Neonazis wiederum sind sie Teil einer rechtsextremen „Parallelwelt“, die es ihnen ermöglicht, selbst bei Alltagsangelegenheiten innerhalb der Szene zu bleiben.

Auch im Sport waren Neonazis präsent, vor allem im Kampfsport: Hier traten Neonazis mitunter als aktive Sportler auf, betrieben eigene Kampfsportstudios und richteten Events aus. Zudem trafen sich Neonazis  zum             gemeinsamen Training  in Fitnessstudios – sowohl in solchen, die sich an Neonazis richten, als auch in tatsächlich oder vermeintlich unpolitischen Studios sowie in Räumen, die nach außen nicht als Fitnessstudio erkennbar sind.

Darüber hinaus haben Neonazis im vergangenen Jahr an mehreren Orten scheinbar unpolitische Partys und Konzerte veranstaltet, um Geld zu verdienen. Zum Teil haben sie damit auch nicht-rechte Konsument*innen erreicht.

Das Bundesinnenministerium hat im September 2023 die Neonazi-Organisationen „Hammerskins“ und „Artgemeinschaft“ verboten. Daraufhin meldeten mehrere Neonazi-Gruppierungen, dass sie sich selbst aufgelöst     hätten – vermutlich, um Repressionen zu entgehen. Wie sich die Verbote langfristig auswirken werden, ist aus Sicht der Mobilen Beratung noch nicht absehbar. Bisherige Erfahrungen mit Verboten entsprechender Gruppen zeigen, dass deren Mitglieder zwar ausgebremst, aber nicht gestoppt wurden.

„Reichsbürger“: Expansionsversuche des „Königreichs Deutschland“

Mit sogenannten „Reichsbürgern“ ist eine unübersichtliche Zahl verschiedener Gruppierungen und Organisationen gemeint, welche die Bundesrepublik nicht anerkennen, sondern versuchen, sich staatlichen Gesetzen und Regelungen zu entziehen. „Reichsbürger“ lassen sich zwei Strömungen zuordnen: Die erste Strömung umfasst Neonazis und Reichsideolog*innen, die zweite pseudostaatliche Fantasiegebilde und sogenannte Königreiche.

2023 hat insbesondere das „Königreich Deutschland“ (KRD) – eine sektenähnliche Gruppe innerhalb der zweiten Strömung – versucht, seinen Einfluss auszubauen und ein eigenes Behörden-, Wirtschafts- und Sozialwesen zu etablieren. Mit dem Erwerb von Immobilien und dem Angebot von Seminaren zum „Systemausstieg“ zielt das KRD darauf ab, eigene Infrastrukturen aufzubauen. In mehreren Bundesländern zeigte das KRD 2023 Interesse am Kauf neuer Immobilien.

Auch die erste Strömung der „Reichsbürger“ aus Neonazis und Reichsideolog*innen hat 2023 versucht, Einfluss zu nehmen und sich bundesweit zu vernetzen – allerdings weniger erfolgreich als das KRD. Eine Ausnahme ist der „Vaterländische Hilfsdienst“ (VHD), der bundesweit mit zahlreichen Ortsgruppen in Erscheinung getreten ist. Der VHD hat im Corona-Protest-Milieu neue Anhänger*innen gefunden und versucht seither, eigene Strukturen aufzubauen.

Vertreter*innen beider „Reichsbürger“-Strömungen verursachen einen hohen Arbeitsaufwand in Behörden, indem sie Ämter mit Anträgen und Klagen überhäufen oder sich weigern, Steuern zu zahlen. Wie in den Vorjahren auch kamen Verwaltungsmitarbeiter*innen 2023 vielerorts an ihre Grenzen.

Rechtsextreme Frauen und Kinder

Auf der politischen Bühne waren extrem rechte Frauen 2023 in der Minderzahl. Ausnahmen sind die  rechtsesoterische Szene und die verschwörungsideologischen Corona-Proteste: Hier waren Frauen deutlich wahrnehmbar – bei den Corona-Protesten sowohl als Teilnehmerinnen als auch als Rednerinnen und Organisatorinnen. Auch bei den Initiativen für „freie Lerngruppen“ spielten Frauen eine aktive Rolle.

Eine besondere Rolle kommt rechtsextremen Frauen weiterhin im häuslichen und sozialen Bereich zu: In der eigenen Familie sind sie unterstützende Ehefrauen und Mütter, die das rechtsextreme Bewusstsein in der nächsten Generation festigen. Nach außen – in der Nachbarschaft,  in der Schule, im Beruf – sorgen sie für die Akzeptanz von demokratiefeindlichen Positionen.

Kinder, die in rechtsextremen Familien leben, werden zum Teil bereits in der zweiten und dritten Generation in eine völkische Parallelwelt hineingeboren: Sie wachsen mit menschenverachtender Musik auf, nehmen an szeneinternen Treffen teil und werden mit rassistischen Bildern sozialisiert, bis sie als Jugendliche und junge Erwachsene ggf. selbst politisch aktiv werden. Mit Kindern aus rechtsextremen Familien sind zunehmend auch Institutionen wie Kitas, Schulen und Sozialarbeiter*innen konfrontiert. Besonders problematisch wird es, wenn Rechtsextreme – beispielsweise     als Kita-Erzieherin – Gelegenheit bekommen, Kinder in  demokratischen Räumen zu beeinflussen.a

Rechtsterrorismus: Gefahr für Anschläge bleibt hoch

2023 gab es glücklicherweise keine rechtsterroristischen Anschläge, bei denen Menschen ums Leben gekommen sind – jedenfalls keine, die öffentlich bekannt wurden. Die Gefahr für solche Anschläge ist aber weiter hoch. So sind viele Rechtsextreme im Besitz von Waffen. Zudem haben die bundesweiten Razzien gegen „Reichsbürger“ Ende 2022 gezeigt, dass rechte Umsturzpläne durchaus real sind. Das tatsächliche Ausmaß rechtsterroristiascher Strukturen – insbesondere der „Lone Wolf-“ und der „Incel-Terrorismus“ – bleibt der demokratischen Zivilgesellschaft jedoch weitgehend verschlossen.

Darüber hinaus kam es 2023 zu unzähligen rechts, rassistisch und antisemitisch motivierten Straftaten. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: KZ-Gedenkstätten berichten von einer Zunahme rechtsextremer Vorfälle, darunter Hakenkreuz-Schmierereien und Beschädigungen von Informationstafeln. In den ersten drei Quartalen 2023 registrierten Behörden 1.515 Angriffe gegen Geflüchtete und ihre Unterkünfte. Seit   dem Angriff der Hamas auf Israel ist die Zahl antisemitischer Vorfälle stark gestiegen. Beratungsstellen für Betroffene arbeiten am Limit und auch die Mobilen Beratungsteams erhalten mehr Anfragen als vorher: von Schulen, die sich fragen, wie sie Antisemitismus im Klassenzimmer begegnen können, oder von zivilgesellschaftlichen Bündnissen, die um Positionen zum Nahostkonflikt ringen, die weder Antisemitismus noch Rassismus schüren.

Ermüdet und doch aktiv: Die Zivilgesellschaft als Gegenwind

Seit mehr als 20 Jahren unterstützt die Mobile Beratung Menschen und Organisationen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren wollen –       aus der Überzeugung, dass eine starke Zivilgesellschaft die beste Prävention gegen das Problem ist. Egal, ob Nachbarschaftsbündnisse, Vereine oder Schulen: Es sind die Menschen und Institutionen vor Ort, die die Bedrohungen durch Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus und Verschwörungserzählungen als Erste zu      spüren  bekommen – und die gemeinsam überlegen können, was sie in ihrer Stadt oder ihrem Dorf dagegen tun wollen.

Vor welchen Herausforderungen stehen Engagierte?

Die Aktivitäten der extremen Rechten, aber auch der politische Umgang mit dem Thema haben demokratisch Engagierte 2023 vor eine Reihe von Herausforderungen gestellt. Die Liste ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, womit die Zivilgesellschaft tagtäglich zu kämpfen hatte:

  • Viele Engagierte berichten, dass sie 2023 zunehmend im persönlichen Umfeld mit ausgrenzenden und menschenverachtenden Äußerungen konfrontiert waren, etwa in der eigenen Familie oder am Arbeitsplatz. Auch Schulen, andere Bildungseinrichtungen sowie Träger der Kinder- und Jugendhilfe mussten sich stärker als in den Vorjahren mit Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus auseinandersetzen.
  • Menschen, die sich 2023 gegen Rechtsextremismus eingesetzt haben, wurden wie in den Vorjahren auch wegen ihres Engagements bedroht und angefeindet – sei es mit Hasskommentaren im Netz, rechten Schmierereien an der Hauswand oder Morddrohungen per E-Mail.
  • Viele Engagierte fühlen sich von der Politik nicht ernst genommen, sondern allein gelassen. Das gilt vor allem für Regionen, in denen Entscheidungsträger*innen Rechtsextremismus nicht als Problem erkennen, sondern verharmlosen. Oft sind es die gleichen Regionen, in denen demokratische Parteien die viel beschworene „Brandmauer“ zur AfD eingerissen haben – durch vertraute Gespräche auf dem Flur, ein Bier in der Kneipe oder gemeinsame Abstimmungen im Parlament.
  • In öffentlichen Debatten über Rechtsextremismus wird oft auf die Extremismustheorie verwiesen. Demnach seien Rechtsextremismus und Linksextremismus ähnlich gefährliche Phänomene, die gleichermaßen bekämpft werden müssten. Wie in den Vorjahren hatte die Extremismustheorie auch 2023 für zivilgesellschaftlich Engagierte fatale Folgen: Ihr Engagement wurde von extrem rechten, aber auch staatlichen Akteur*innen wie Versammlungsbehörden oder der Polizei immer wieder als Linksextremismus diskreditiert – frei nach dem Motto „Wer sich gegen Rechts engagiert, kann nur gefährlich links sein“. Bei vielen Engagierten hat das Verunsicherung ausgelöst.
  • Erschwerend hinzu kommt, dass vielerorts die Zahl demokratisch engagierter Menschen abnimmt. In manchen Regionen – insbesondere, aber nicht nur in Ostdeutschland – gibt es kaum noch Personen, die sich gegen Rechtsextremismus einsetzen wollen. Das hat verschiedene Gründe: Zum einen trauen sich viele Engagierte wegen der oben genannten Bedrohungen nicht, aktiv zu werden. Zum anderen sind im Zuge der Corona-Pandemie zivilgesellschaftliche Bündnisse eingeschlafen oder ganz weggebrochen, viele sind ermüdet. Zudem führen steigende Belastungen im (Arbeits-)Alltag dazu, dass immer weniger Menschen es sich zeitlich leisten können, ehrenamtlich aktiv zu werden. Diejenigen, die sich trotzdem engagieren, berichten von Gefühlen der Vereinzelung und Ohnmacht.

Welche Strategien waren wirksam?

Trotz der oben genannten Herausforderungen haben demokratisch Engagierte 2023 eine Reihe von Strategien umgesetzt, um gegen Rechtsextremismus aktiv zu werden. In vielen Fällen ist es ihnen gelungen, extrem rechte Krisendeutungen und Eskalationen zurückzuweisen sowie demokratische Werte zu verteidigen. Die Mobilen Beratungsteams haben dabei oft als Starthilfekabel fungiert: Sie haben Bündnisgründungen angestoßen, Initiativen begleitet und bei Konflikten    moderiert.

Gegenprotest organisieren: laut und sichtbar Seit Jahrzehnten gehört es zum „Brot- und Buttergeschäft“ der demokratischen Zivilgesellschaft, sich extrem rechten Veranstaltungen öffentlich und lautstark entgegenzustellen, z.B. mit Gegendemos oder Kundgebungen. Diese Veranstaltungen zählten auch 2023 zum wichtigsten zivilgesellschaftlichen Repertoire gegen Rechts.

Darüber hinaus haben Engagierte versucht, extrem rechte Veranstaltungen im Vorfeld zu verhindern und einer Vernetzung der Beteiligten vorzubeugen. Dafür haben sie Vermieter*innen von Veranstaltungsräumen angesprochen und auf potenzielle Anmietungsversuche durch extrem rechte Akteur*innen hingewiesen. Oder sie haben an geschichtsträchtigen Daten eigene Kundgebungen angemeldet, um neonazistische Demonstrationen zu unterbinden.

Breite Bündnisse schließen

Als besonders schlagkräftig in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus haben sich breite zivilgesellschaftliche Bündnisse     erwiesen – also Zusammenschlüsse von möglichst vielen Akteur*innen einer Stadt- und Dorfgesellschaft, darunter Parteien, Nachbar*innen, Schulen, Feuerwehrvereine, Kirchen und viele mehr. 2023 waren bundesweit zahlreiche solcher Bündnisse aktiv. Sie konnten mitunter große Teile der örtlichen Gesellschaft erreichen und damit dem Gefühl der Vereinzelung entgegenwirken. In einigen Fällen sind Städte und Dörfer durch die Arbeit gegen Rechtsextremismus enger zusammengerückt.

Zivilgesellschaftliche Bündnisse waren 2023 vor allem dann wirksam, wenn sie wichtige Multiplikator*innen wie z.B. Bürgermeister*innen einbezogen haben. Auch wichtig waren persönliche Treffen. Zwar haben viele Engagierte im Zuge der Corona-Pandemie Onlineformate etabliert. Doch die Erfahrungen zeigen: Erfolgreiches Engagement gegen Rechtsextremismus braucht den persönlichen Austausch, zwangloses Plaudern und manchmal auch Spaß.

Über extrem rechte Akteur*innen informieren und Einflussnahme verhindern

Auch die Aufklärung über extrem rechte Akteur*innen und Strategien war 2023 eine wichtige zivilgesellschaftliche Antwort auf Rechtsextremismus. So haben Engagierte an vielen Orten in Deutschland Informationsveranstaltungen zur AfD und anderen extrem rechten Akteur*innen organisiert. Nicht selten konnten die Organisator*innen damit erreichen, dass extrem rechte Personen aus Gremien, Kleingartenvereinen, Sportverbänden und anderen Strukturen ausgeschlossen wurden, bevor sie dort  Einfluss nehmen konnten.

Besonders effektiv war die Aufklärungs- und Informationsarbeit dann, wenn es um Akteur*innen ging, die von einer Nicht-Thematisierung profitieren. Dazu gehören z.B. „völkische Siedler“, die oft unwidersprochen in ganzen Dörfern die Stimmung prägen, aber auch Neonazis in Betrieben, die ihren Arbeitsplatz nicht verlieren wollen.

Neonazis in der Nachbarschaft? Verbündete suchen

Seit einigen Jahren sind Engagierte zunehmend auch im persönlichen Umfeld durch die extreme Rechte herausgefordert – etwa, wenn im Haus nebenan ein Neonazi wohnt. Als wirksame Strategie hat sich hier die Vernetzung mit der Nachbarschaft erwiesen, z.B. durch gemeinsame Feste oder durch Messenger-Gruppen, in denen sich Anwohner*innen schnell und unkompliziert beistehen können. In einigen Fällen hat die Vernetzung Menschen davon abgehalten, sich aus Angst zurück- oder ganz wegzuziehen.

Rechtsextremismus an Schulen? Thematisieren und sensibilisieren

Nach extrem rechten Vorfällen an einer Schule in Burg (Brandenburg) wurde 2023 viel über den Umgang mit Rechtsextremismus an Schulen diskutiert. Zwar sind entsprechende Vorfälle kein neues Phänomen. Doch die öffentliche Debatte hat viele Schulen veranlasst, sich stärker mit dem Thema zu befassen. Zuletzt waren viele Lehrkräfte durch antisemitische Vorfälle und rassistische Äußerungen herausgefordert und mussten sich positionieren.

Für Beschäftigte an Schulen waren Fachgespräche im Kollegium hilfreich. Dort konnten sie gemeinsam vereinbaren, wie sie bei rechten Vorfällen in der Schule vorgehen wollen. Zudem hat es Lehrkräften wie Schüler*innen geholfen, die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse im Blick zu behalten. Zwar gelingt es lautstarken Einzelpersonen in Klassenchats und auf dem Schulhof immer wieder,               das Klima zu vergiften –               doch in den allermeisten Fällen ist die Mehrheit der Schüler*innen nicht rechtsextrem. Das zu thematisieren, konnte vielerorts die gefühlte rechte Hegemonie brechen und war Grundlage dafür, ein demokratisches Miteinander im Klassenraum zu vereinbaren und umzusetzen.

Was jetzt zu tun ist

Das Jahr 2023 hat aufs Neue gezeigt, wie groß die Gefahren durch Rechtsextremismus und Ideologien der Ungleichwertigkeit sind – und wie sehr das Problem in den Alltag vieler Menschen vorgedrungen ist. Gleichzeitig hat das Jahr gezeigt, wie wichtig zivilgesellschaftliches Engagement ist: An vielen Orten in Deutschland sind Menschen und Organisationen auf die Straße gegangen, um gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren. Sie haben Veranstaltungen organisiert, um über extrem rechte Akteur*innen aufzuklären, und konnten damit deren Einfluss einschränken. Sie haben breite Bündnisse geschlossen und zum Teil ganze Dorf- und Stadtgemeinschaften näher zusammenrücken lassen.

Diese Lichtblicke dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, in welch prekärem Zustand sich die Zivilgesellschaft         befindet: Viele Engagierte sind ausgebrannt, fühlen sich allein und von der Politik im Stich gelassen. In einigen Landstrichen sind sie die einzigen, die sich engagieren, werden bedroht und angefeindet. Das sind düstere Vorzeichen mit Blick auf das Wahljahr 2024, in dem die extrem rechte AfD vielerorts Gewinne einfahren könnte. Diese Gewinne werden auf Kosten aller Demokrat*innen gehen, allen voran auf die von ohnehin marginalisierten Gruppen. Migrant*innen und Geflüchtete z.B. sind schon jetzt die Leidtragenden einer politischen Debatte, die Migration als „Problem“ und „Bedrohung“ darstellt.

Wir appellieren daher an die Politik: Stärken Sie zivilgesellschaftliches Engagement gegen Rechtsextremismus und stellen Sie sich an die Seite derjenigen, die sich für die Demokratie einsetzen. Wir fordern:

  • Demokratische Parteien – ob auf Bundes-, Landes- oder kommunaler Ebene – müssen sich klar von der AfD abgrenzen. Das heißt: Sie müssen die extrem rechten Positionen und Narrative der Partei als solche benennen, statt sie zu verharmlosen und zu relativieren – schnell, öffentlich und eindeutig. Denn die Erfahrungen zeigen: Die Übernahme und Teilerfüllung rechtsextremer Forderungen sind kein Mittel gegen Rechtsextremismus. Im Gegenteil: Sie stärken Rechtsextreme und gefährden die Demokratie.
  • Die Mitglieder von Stadträten und Kreistagen müssen sich besser für den Umgang mit der AfD aufstellen. Sie sind schon jetzt damit konfrontiert, dass Mandatsträger*innen der AfD in Begleitausschüssen oder Beiräten sitzen – und damit über das Programm des Stadttheaters, die Bücher in der Bibliothek oder das Demokratieprojekt im Ort mitbestimmen. Diese Entwicklung wird sich verschärfen, wenn die AfD bei den Kommunalwahlen 2024 weitere Mandate erhält.
  • Politiker*innen müssen demokratische Antworten auf die Probleme unserer Zeit finden, statt „Lösungen“ anzubieten, die gesellschaftliche Gruppen gegeneinander ausspielen. Eine härtere Migrationspolitik hilft weder im Kampf gegen Armut und soziale Ungleichheit noch gegen die Inflation. Stattdessen spiel sie der AfD in die Hände – und entmutigt diejenigen, die progressiv für die Gesellschaft einstehen wollen.
  • Entscheidungsträger*innen in Sicherheitsbehörden, Justiz und Politik müssen demokratisch Engagierte ernstnehmen, unterstützen und schützen – auch und vor allem marginalisierte zivilgesellschaftliche Gruppen wie Migrant*innen oder queere Menschen. Für Sicherheitsbehörden bedeutet das: Sie müssen Ansprechstrukturen für Menschen einrichten, die von Rechts bedroht werden, und Betroffene an spezialisierte Beratungsstellen vermitteln. Für die Justiz heißt es, rechtsextreme Straftaten besser und schneller aufzuklären. Politiker*innen wiederum müssen zi vilgesellschaftliches Engagement stärker wertschätzen und würdigen. Zudem sollten sie in Debatten über Rechtsextremismus und zivilgesellschaftlichen Gegenprotest auf die Extremismustheorie verzichten: Sie führt regelmäßig dazu, dass demokratisch Engagierte als „linksextrem“ diffamiert und kriminalisiert werden.
  • Die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus muss finanziell und personell abgesichert werden. Dazu muss die Ampelkoalition endlich das versprochene Demokratiefördergesetz auf den Weg bringen. Was zunächst nach einer Forderung in eigener Sache klingt, ist weitaus mehr als das. Denn die Unterfinanzierung und Dauerbefristung der Beratungsteams ist ein Problem für alle Beteiligten: Die Berater*innen können viele Anfragen nicht zeitnah bedienen, Engagierte müssen mitunter lange Wartezeiten in Kauf nehmen. Zudem wechseln viele Berater*innen den Job. Dadurch geht immer wieder Expertise und personelle Kontinuität verloren. Dabei ist Beratungsarbeit Vertrauensarbeit: Engagierte brauchen verlässliche Ansprechpartner*innen vor Ort, die auch im nächsten Jahr noch da sind.
  • Engagierte und Verantwortliche, aber auch die Mobilen Beratungsteams müssen dabei unterstützt werden, sich selbst, ihre Büros und ihre Mitarbeiter*innen zu schützen – in Form von Geld, um etwa Alarmanlagen finanzieren oder juristische Angriffe von Rechts abwenden zu können, aber auch in Form von erleichterten Auskunftssperren im Melderegister.
  • Entscheidungsträger*innen in Politik und Verwaltung sollten vermeiden, in der Arbeit gegen Rechtsextremismus Doppelstrukturen zu schaffen. Der Demokratie ist nicht geholfen, wenn jedes Jahr neue Leuchtturmprojekte an den Start gehen, die nach zwei bis drei Jahren eingestellt werden. Besser wäre es, neue Fördergelder in bestehende (Beratungs-)Strukturen zu investieren, damit diese ihre Angebote ausbauen können. Andernfalls entsteht nicht nur Koordinations- und Vernetzungsaufwand bei den bestehenden Strukturen, sondern auch Verwirrung und Verunsicherung bei den Menschen, die Unterstützung brauchen.

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