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Gedenkstättenarbeit auf TikTok „Ein Video erreicht so viele Menschen, wie uns sonst im ganzen Jahr besuchen”

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Lea Schernirer, Marlene Wöckinger, Tlalit Kitzoni und Moderatorin bei einer Veranstaltung von TikTok in Berlin am 24.01.2023 (Quelle: Belltower.News/Simone Rafael)

Seit zwei Jahren fördert die Social-Media-Plattform TikTok Gedenkstätten, die Erinnerungsarbeit an den Holocaust machen (vgl. zum Start Belltower.News). Bei der „Shoa Education and Commemoration Initiative“ sind 15 Gedenkstätten und Museen aus Deutschland, Österreich und Israel dabei. Sie haben inzwischen 345 Videos gedreht und veröffentlicht, die 11,5 Millionen Menschen angesehen haben. Es sind Videos von jungen Museumspädagog*innen oder Freiwilligen, die offline durch Gedenkstätten führen und das nun auch auf TikTok tun, aber auch Videos mit Überlebenden oder Plattform-typische Challenges, nur dass es hier um das Putzen von Stolpersteinen geht, um das Andenken an Menschen hochzuhalten, die im Holocaust ermordet wurden.

Mit Begleitung auf den Tummelplatz der „Gen Z“

So überzeugend das Ergebnis ist, so arbeitsreich war der Weg zu diesem Ziel. Keine der beteiligten Institutionen hätte sich einfach so auf die Kurzvideoplattform getraut oder diese als Kommunikationsmittel ernsthaft in Erwägung gezogen. „Wer als Historiker*in am liebsten zu jedem Thema 10-Seiten-Dossiers schreibt, für den ist eine Minute wirklich sehr, sehr kurz“, blickt Marlene Wöckinger von der KZ-Gedenkstätte Mauthausen zurück. Mit Videodreh-Coaching, Skript-Beratung, wissenschaftlicher Begleitung durch die Hebrew University of Jerusalem und viel Austausch untereinander erschließen sich die Gedenkstätten und Museen aber doch den digitalen Raum, in dem sie besonders Jugendliche der „Gen Z“ direkt erreichen können.

Und genau die fangen an, den Holocaust als „ferne Geschichte“ ohne Bezugspunkte zum eigenen Leben zu begreifen. Vier von zehn Schüler*innen in Deutschland wissen bereits nichts mehr mit dem Begriff Auschwitz anzufangen, zitiert Yaki Lopez, Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der Botschaft Israels in Deutschland, eine Studie der Körber-Stiftung und sagt: „Es ist gut, Jugendlichen in ihrer Lebensrealität zu zeigen, dass wir weiter Lehren aus Auschwitz ziehen müssen. Das Rezept: Aufklärung plus Menschlichkeit plus Technologie.“

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Die beteiligten Gedenkstätten sind begeistert

So sieht es auch Tobias Ebbrecht-Hartmann von der Hebrew University of Jerusalem, der das Projekt wissenschaftlich begleitet: „Es geht darum, Holocaust-Erinnerung in eine neue Sprache zu übersetzen und neue Wege der Kommunikation zu finden. Die Jugendlichen interessieren sich dafür.“ Das bestätigen auch die Gedenkstätten: 90 Prozent der beteiligten Institutionen finden, dass TikTok gut geeignet ist, um über den Holocaust aufzuklären. Vor einem Jahr waren es noch 60 Prozent. Währenddessen geschahen auch weitere Lernprozesse. „So haben die Gedenkstätten etwa gemerkt, dass es nicht effizient ist, auf TikTok über Hashtags Menschen zu erreichen“, sagt Ebbrecht-Hartmann, „sondern dass es die Interaktionen sind, Reaktionen, Kommentare, auf die die Gedenkstätten antworten können, die Nutzer*innen-Zahlen steigen lassen. Werbung funktioniert natürlich auch, ebenso Zusammenarbeiten zwischen den Accounts.“ Aber natürlich sollen Gedenkstätten nicht in Clickbait verfallen oder auf Views und Likes fixiert sein: Es geht ja um die vermittelten Inhalte. Aber die vermitteln sich eben in Debatten in den Kommentaren oft genauso gut oder besser als Videos.

Marlene Wöckinger ist für die KZ-Gedenkstätte Mauthausen in Österreich auf TikTok aktiv und kann das nur bestätigen: „Es ist wirklich großartig, dass wir durch kleine Häppchen von pädagogischem Content mit den Jugendlichen in Kontakt kommen, sich richtige Dialoge entwickeln. So arbeite ich gern in der Gedenkstätte und auch online. Ich möchte Geschichte nicht einfach erzählen – ich möchte sie erforschbar machen.“ Tlalit Kitzoni von der Gedenkstätte des Yad Mordechai Museums in Israel ergänzt: „Die User interessieren sich für persönliche Geschichten. Sie wollen wissen: Wie ist das passiert? Und wie können wir verhindern, dass es wieder passiert?“ Clementine Smith vom Holocaust Educational Trust aus Großbritannien ergänzt: „Es funktioniert, sobald wir uns klarmachen: Es geht ja nie darum, die gesamte Geschichte in einem Video zu erklären. Wir nehmen einen Anfangspunkt, erklären den, dann lassen wir uns von den Reaktionen weiter inspirieren.“

Anders ist der Ansatz von Lea Schenirer. Sie ist die Tochter der Holocaust-Überlebenden Olga Grossmann. Ihr Mutter ist 84 Jahre alt und war als Kind gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Vera Teil der menschenverachtenden Experimente von Euthanasie-Arzt Dr. Josef Mengele in Auschwitz. Lea Schenirer klärt, auch gemeinsam mit ihrer Mutter, über den Holocaust auf, offline und auf Social Media. Dabei ist Lea ein Perspektivwechsel wichtig: „Menschen möchten nicht immer nur schwere, belastende Inhalte über den Holocaust sehen. Wir können sie mit Leichtigkeit erreichen.“

Mit Leichtigkeit über den Holocaust sprechen? Lea lacht und sagt: „Nein, über die Überlebenden! Sie sind nicht nur Opfer, sie sind vor allem Menschen! Sie lachen, sie leben, sie haben Wünsche und Bedürfnisse – das macht sie nahbar, ihr Schicksal rückt beeindruckend nahe. Meine Mutter hatte das Glück, trotz der Mengele-Versuche noch Kinder bekommen zu können, weil sie erst fünf Jahre alt war. Sie hat Kinder. Sie hat Enkel. Sie hat Urenkel. Das ist ihr Sieg über Hitler.“ Mit den Inhalten realer Menschen, Überlebender, ihrer Kinder, aber auch von Gedenkstätten, könnten verschiedene Formen des Verstehens über TikTok als Plattform vermittelt werden – und damit der Gedanke, dass der Holocaust nie wieder geschehen dürfe.

Die Erfolgs-Video-Formel?

Mit dem Kurzvideoformat haben sich alle Beteiligten längst angefreundet. Es helfe, sich zu konzentrieren, die Inhalte auf ihren Gehalt zu kondensieren. Marlene Wöckinger beschreibt den Prozess so: „Ich brauche ein relevantes Thema. Ich brauche eine Botschaft. Der Anfang muss mitreißend sein, gern persönlich. Sei ehrlich in der Präsentation. Und sorg dafür, dass Dein Equipment funktioniert! Nichts ist ärgerlicher, als das perfekte Video noch mal drehen zu müssen, weil der Ton nicht funktioniert hat!“

Videos zum Thema Gedenken und Holocaust findet ihr unter:

https://www.tiktok.com/tag/gedenkenbildet

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