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Rezension Veronika Kracher über Incels und ihre Ursprünge in der patriarchalen Gesellschaft

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In ihrem neuen Buch untersucht Veronika Kracher die frauenfeindliche Incel-Subkultur. Wie die Autorin selber schreibt: „Irgendeine muss es ja tun“. (Quelle: Nicholas Potter)

Kaum ein Schlagwort ist im Kontext diverser Terrorakte der letzten Jahre so oft gefallen wie „Incel“. Dabei handelt es sich meist um junge Männer, die nach eigenen Angaben unfreiwillig keinen Geschlechtsverkehr hätten, weil ihnen dieser verwehrt werde und sie die Schuld darin bei Frauen, Jüdinnen und Juden, People of Colour und Migrant*innen sehen. Veronika Kracher hat kürzlich mit „Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults“ das weltweit erste und überaus lesenswerte Buch über die oftmals als „verrückte Außenseiter“ abgestempelte Bewegung veröffentlicht. Darin macht sie deutlich, dass das Fundament ihrer menschenverachtenden Ideologie tief in unserer Gesellschaft verwurzelt ist. Hierfür hat sie sich durch zahlreiche Incel-Foren und „Manifeste“ einschlägiger Attentäter wie Elliot Rodger gewühlt – damit wir es nicht müssen.

Dass Incels für Außenstehende auf den ersten Blick wie „verrückte Außenseiter“ einer noch kruderen Internet-Blase wirken, ist mit Blick auf ihre Ideologie und Sprache zunächst naheliegend. Um diese zu verstehen, ist ein Blick auf das Selbstbild der Community nötig. Incel (Kurzform für „involuntary celibate“) bedeutet im Deutschen so viel wie „unfreiwillig im Zölibat lebend“ – unfreiwillig deshalb, weil die sich so bezeichnenden Personen einem Bild hegemonialer Männlichkeit anhängen und davon ausgehen, dass ihnen als Männer eigentlich weibliche Körper zur sexuellen Verfügung stehen müssten. Frauen, die ihnen dieses vermeintlich naturgegebene Recht verwehren, weil sie selbst bestimmen, ob und mit wem sie schlafen möchten, werden in dieser Logik zum zentralen Hassobjekt. Der Feminismus, der wie bei „klassischen“ rechtsextremen Ideologien als eine „jüdische Erfindung“ imaginiert wird, so Kracher, nimmt dabei die Rolle einer Verschwörungserzählung ein. Hierbei sehen Incels ihre (äußerst fragliche) Männlichkeit und letztlich männliche Hegemonie an sich gefährdet.

Verstärkt wird dieser Verschwörungsglaube durch die sogenannte „Blackpill“-Ideologie: Bei dieser handelt es sich um eine nihilistische Zuspitzung der maskulinistischen „Redpill“-Ideologie – eine Anspielung auf den Film The Matrix (1999), in dem das Schlucken einer roten Pille dem Protagonisten verspricht, hinter den Schleier einer falschen Wirklichkeit zu blicken und die reale Welt so zu sehen, wie sie ist. Im Fall der Incels wäre das wohl die Existenz einer Männer unterdrückenden „Femokratie“. Die „Blackpill“, so Kracher, geht allerdings noch weiter und propagiert einen radikalen Fatalismus: Frauen, die sowieso alle hypersexuell und manipulativ seien, würden deshalb nicht mit Incels schlafen wollen, weil letztere einfach optisch viel zu unansehnlich seien. Aus diesem Grund wählen Frauen (die Incels meist als „Stacys“ bezeichnen) ausschließlich attraktive, hypermaskuline Männer („Chads“) – und davon ihrer Ansicht nach sehr viele, schließlich sei der Sex mit möglichst vielen (oft nicht-weißen) „Chads“ das Lebensziel aller Frauen.

Mit diesem Verhalten würden sexuell aktive Frauen und Männer Incels ganz bewusst mit deren Sexlosigkeit konfrontieren, um diese dadurch systematisch zu erniedrigen und zu „entmännlichen“ – zumindest behaupten das Incels. Im Alltag kann also schon ein sich in der Öffentlichkeit küssendes Paar dafür sorgen, dass ein Incel sich seiner Männlichkeit beraubt („cucked“) fühlt. Hier offenbart sich Kracher zufolge das wahre toxische Potenzial der „Blackpill“-Ideologie: Incels betrachten Frauen nicht nur als Ursache und Projektionsfläche für ihre sexuelle Frustration und Unsicherheit, sondern vielmehr als von Grund auf böse Wesen. Die Möglichkeit, dass eine Frau aufrichtiges Interesse an ihnen zeigt, ziehen sie gar nicht erst in Betracht und werten dieses direkt als Koketterie und Provokation.

Dieser Umstand zeigt sich vor allem in Krachers ausführlicher Analyse des „Manifests“ Elliot Rodgers, der im Mai 2014 an der Universität im kalifornischen Santa Barbara sechs Menschen ermordete und vierzehn weitere verletzte. In seinem Text verdeutlicht der zur Tatzeit 22-Jährige, wie er im Laufe seiner Jugend ein paranoides Verhältnis zu seiner und vor allem der weiblichen Sexualität entwickelt. Weil ihm weibliche Zuneigung und Sex verwehrt blieben und er dies als entmännlichenden Affront betrachtete, griff der junge Mann zur Waffe – um die erlittene Schmach durch Gewalt „wiedergutzumachen“. Bis heute glorifizieren Incels Rodger deswegen weltweit als Ikone. Einen jungen Mann, in dessen „perfekter“ Welt Sex verboten sei und Frauen in Konzentrationslagern ermordet würden, wie es in seinem Manifest heißt.

Rodgers perfide Weltanschauung ist keine Ausnahme in der Incel-Szene: Wer sich in den einschlägigen Online-Foren der Subkultur ein eigenes Bild davon machen möchte, muss ein dickes Fell haben. Denn die Umgangsform, Kultur, Ideologie und entmenschlichende Sprache gegenüber Frauen und LGBTQ sind dermaßen hasserfüllt, gewaltverherrlichend und nihilistisch, dass Kracher Incel-Foren getrost als einen der toxischsten Orte des Internets bezeichnet. Kein Wunder, denn neben extremen misogynen und rassistischen Gewaltdarstellungen und Memes, Vergewaltigungsphantasien und nicht selten sogar pädosexuellen Inhalten zieht sich die gegenseitige Abwertung wie ein roter Faden durch sämtliche Posts und Threads. Hier genügt in den Augen der Community schon ein dünnes Handgelenk, um hässlich und damit jeder Liebe durch eine andere Person unwürdig zu sein.

Bei diesen extremen Formen des Frauen- und Selbsthasses sowie pathologischen Opferdenkens ist es kaum verwunderlich, dass die meisten Incels sich selbst als depressiv und suizidal bezeichnen. Ein Ausstieg aus diesem toxischen Strudel aus Selbsthass, Gewalt und Fatalismus, in dem man die gesamte Welt nur als einzigen nihilistischen Witz begreift, gestalte sich laut Kracher dementsprechend schwierig.

Um zu verstehen, warum Incels so denken und handeln, greift die Autorin auf sozialpsychologische Ansätze von Klaus Theweleit und Rolf Pohl zurück. Hierbei legt sie überzeugend dar, dass der Schlüssel hierfür im wechselseitigen Verhältnis von Männlichkeit und Gewalt liegt: Männliche Sozialisation, so Kracher in Bezug auf Theweleit und Pohl, zeichne sich vor allem durch ein (unlösbares) Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach weiblicher Zuneigung und Aufmerksamkeit einerseits und gleichzeitiger Abwehr alles „Anderen“ beziehungsweise „Nicht-Männlichen“ andererseits aus – was sowohl gegen nichtmännliche Personen als auch unter Jungen und Männern selbst mit Gewalt beantwortet werde. Gewalt ist damit, so Kracher, ein Mittel zur Mannwerdung. Die daraus abgeleitete Logik, männliche Gewalt gegen Frauen sei daher nur „Notwehr“ in einer von Frauen kontrollierten Welt, findet sich auch in Bezug auf antisemitische Gewaltakte wieder.

An dieser Stelle wird deutlich, dass die misogyne und hasserfüllte Ideologie der Incels kein genuines Produkt einer dunklen Ecke des Internets ist. Vielmehr sind viele ideologische Voraussetzungen bereits in der kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaft selbst angelegt – eine Gesellschaft, die ständige (vor allem körperliche) Selbstoptimierung propagiert sowie Frauen nicht nur systematisch benachteiligt und unterdrückt, sondern auch aktiv Gewalt gegen diese ausübt und toleriert.

Neben Deplatforming – also dem gezielten Schließen einschlägiger Incel-Foren und Accounts – fordert die Autorin vor allem gendersensible Pädagogik, kritische Jungenarbeit sowie eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Männlichkeit. Arbeit, die in Deutschland aktuell kaum von staatlichen, sondern primär zivilgesellschaftlichen Akteur*innen geleistet wird. Veronika Krachers Buch verdeutlicht diesen Umstand insofern besonders gut: Einerseits, weil es ihr als erster gelingt, eine Vielzahl an wissenschaftlichen Theorien und Ansätzen zu einer kompakten und doch detaillierten Analyse der Incel-Subkultur heranzuziehen. Andererseits ist die Autorin eine Person, die gerne und leidenschaftlich feministisch streitet und für diesen Umstand schon – gelinde gesagt – viel Gegenwind erfahren hat. Das wird wohl auch mit diesem Buch nicht ausbleiben, aber wie heißt es so schön: Getroffene Hunde bellen eben.

Veronika Kracher – Incels: Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults
Ventil Verlag, Mainz 2020
280 Seiten, 16,00 €(D)
ISBN 978-3-95575-130-2

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Im Gespräch: Die Autorin Veronika Kracher

Interview mit Veronika Kracher „Incels sind die Spitze des patriarchalen Eisbergs“

„Incel“ steht für „involuntary celibate“ – zu Deutsch „unfreiwillig zölibatär“. So heißt eine globale Online-Community, in der Zehntausende frustrierte junge Männer ihrem grassierenden Frauenhass freien Lauf lassen. Die Autorin Veronika Kracher hat die Szene in ihrem am 6. November 2020 erscheinenden Buch „Incels: Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults“ genauer untersucht. Im Gespräch mit Belltower.News erzählt sie, warum Antifeminismus die Einstiegsdroge in rechtsradikales Denken ist, Incels oft an Selbsthass leiden und die Incel-Szene lediglich die Spitze des patriarchalen Eisbergs ist.

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