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Broschüre „Eine Waffe im Informationskrieg“ Narrative zu Krieg und Propaganda

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Wladimir Putin bei der Prozession des „Unsterblichen Regiments“ mit dem Bild seines Vaters, am 9. Mai 2015.

 

Das Erbe der Sowjetunion

Kremlnahe, prorussische Erzählungen und Ereignisdeutungen, die spätestens seit dem 24. Februar 2022 auch in Deutschland laut werden, drehen sich größtenteils um den Krieg gegen die Ukraine. Thematisiert werfen die vielfältigen, globalen Auswirkungen sowie die vermeintlichen Gründe, die hinter der Invasion und dem Fortdauern der Kampfhandlungen stehen. Falschmeldungen sollen oftmals Argumente gegen eine russische Kriegsschuld untermauern. Zweifelsohne ist die Rechtfertigung des Überfalls auf die Ukraine wesentliches Ziel des russischen Informationskrieges. Im europäischen Kontext gesellt sich hierzu noch die Agitation gegen Waffenlieferungen und Sanktionspolitik sowie der Versuch, liberale Demokratien zu destabilisieren.

Dennoch greift ein rein instrumentelles Verständnis der russischen Propagandamaschinerie zu kurz. Die Propaganda und auch der Angriffskrieg selbst gründen in einer Weltanschauung und einer eigenwilligen Deutung der jüngsten Geschichte, die – wie es scheint – von weiten Teilen der russischen Elite geteilt wird. Dabei verfügt der Kreml über kein einheitliches Ideologiegebäude. Dennoch lassen sich ideologische Versatzstücke festhalten, die den Hintergrund für die propagandistischen Narrative bilden, die momentan im Umlauf sind.

Historischer Ausgangspunkt ist der Zusammenbruch der Sowjetunion, den Putin 2005 „als größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“ bezeichnete. Das Auseinanderfallen des Riesenstaates unter russischer Vorherrschaft war begleitet von einem ökonomischen Kollaps, schwindender geopolitischer Bedeutung und dem Verlust der sowjetisch-kommunistischen Ideologie als Orientierungsanker und Grundlage einer gemeinsamen Identität. Menschen wie der einstige KGB-Agent Putin begegnen diesen für sie traumatischen Ereignissen mit verschwörungsideologischem Eifer. Für sie ist klar: Die Schuld daran tragen „der Westen“ und insbesondere die USA, die eine unipolare Weltordnung errichten wollen und deshalb auch heute noch Russlands Feinde sind.

In ihrer Suche nach einer neuen gemeinsamen Identität und einer „nationalen Idee“ für den modernen russischen Staat besinnen sich die mittlerweile tonangebenden patriotisch-konservativen Kreise nicht nur auf die Sowjetunion, sondern auch auf den russisch-orthodoxen Glauben und das einstige Zarenreich. Diese durchaus unterschiedlichen Konzepte verbindet die Vorstellung von Russland als Zentrum einer eigenständigen Zivilisation, die nicht nur geografisch von Europa und „dem Westen“ geschieden ist, der als bedrohlich und antirussisch erscheint.

Die traditionell-konservativen Werte, die die russische Politik und das Bildungssystem propagieren, treten ebenfalls als Gegenteil der westlich konnotierten liberal-modernen Werte auf, die von queerfeindlichen Propagandist*innen im Staatsfernsehen als „degeneriert“ und dem Untergang geweiht denunziert werden. Die Bewunderung, die weite Teile der „Neuen Rechten“ in Deutschland und Europa für Putins Russland hegen, speist sich ebenfalls aus der geteilten Gegnerschaft zum Liberalismus, zu den USA und der westlichen Moderne.

Ultrarechte Demagog*innen wie der „Eurasier“ Alexander Dugin erachten den Angriff auf die Ukraine als längst überfällige Rückeroberung urrussischer Territorien. Sie schwadronieren von der Wiederauferstehung des russischen Imperiums. Auch der Kreml glaubt augenscheinlich an unverrückbare Einflusszonen und beansprucht die Vorherrschaft über das gesamte Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Das belegt nicht zuletzt das propagandistische Argument von der existenziellen Bedrohung Russlands durch die NATO-Osterweiterung, das auch bei „Putin-Versteher*innen“ in Deutschland bereits seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 prominent ist. Staatsnahe russische Medien behaupteten damals fälschlicherweise, das westliche Militärbündnis hätte den Bau eines Stützpunktes auf der Krim geplant, was man durch die „Rückholung“ der Halbinsel verhindert hätte. Bei genauerer Betrachtung postuliert Russland mit diesem Argument ein natürliches Recht auf die Wahrung des eigenen Einflussgebiets. Das Recht auf nationale Selbstbestimmung der übrigen postsowjetischen und osteuropäischen Staaten fällt dabei unter den Tisch. Dass ein NATO-Beitritt der Ukraine (und Georgiens) bis zum 24. Februar 2022 quasi ausgeschlossen schien, ist genauso nebensächlich wie Michael Gorbatschows Bemerkung, dass es nie ein explizites westliches Versprechen gegen eine Osterweiterung der NATO gegeben habe.

„Die russische Welt“

Die Frage der Identität greift der Kreml ebenfalls explizit auf. Seit 2006 spricht Putin von einer „russischen Welt“ unter der Schirmherrschaft Moskaus. Gemeint ist damit ein Kollektiv, zu dem die russischsprachigen
Menschen weltweit gehören sollen – auch die in Deutschland und der Ukraine. Am 5. September 2022 erhob die russische Regierung den Schutz dieser „russischen Welt“ sogar zur offiziellen außenpolitischen Doktrin: Man wolle den „Landsleuten“ im Ausland dabei helfen, ihre kulturelle Identität zu bewahren. Seit Jahren fördert Moskau weltweit das „unsterbliche Regiment“ – Gedenkmärsche am 9. Mai für Kämpfer*innen der Roten Armee, die auch in deutschen Städten stattfinden.

In Deutschland zeigte sich bereits im Jahr 2016 am „Fall Lisa“ die problematische Seite dieser Politik. Russische Staatsmedien verbreiteten Falschmeldungen über die erfundene Vergewaltigung einer minderjährigen Spätaussiedlerin durch syrische Geflüchtete. Die deutsche Polizei rekonstruierte zwar, dass die 13-Jährige nicht entführt und vergewaltigt worden war, sondern bei einem Freund übernachtet und sich, eventuell wegen Schulproblemen, nicht nach Hause getraut hatte.

Dennoch inszenierte sich der russische Außenminister Sergej Lawrow als Schutzherr der Russlanddeutschen und warf deutschen Behörden Versagen vor. Der Kreml verfolgte hier offensichtlich das Ziel, Menschen mit Migrationshintergrund an den russischen Staat zu binden und ihr Vertrauen in die deutsche Demokratie zu erschüttern. Seit Kriegsbeginn verbreiten kremlnahe Medien deshalb verstärkt Falschmeldungen über Anfeindungen gegen Russischsprachige.

Insbesondere in der Ostukraine nutzt Russland die Idee der „russischen Welt“ seit 2014 darüber hinaus zur Rechtfertigung der eigenen Gewaltanwendung. Demnach schütze man die russischsprachigen Menschen des Donbas vor der Gefahr, die von Kyiv ausgeht.

Der Propaganda kommt hierbei die Aufgabe zu, durch Falschmeldungen über die Unterdrückung der russischen Sprache oder gar einen vermeintlichen Genozid eine dramatische Bedrohungslage darzustellen. Dabei ist eine von Russland unabhängige und prowestliche Ukraine mehr noch als Georgien oder die Staaten des Baltikums Moskau ein Dorn im Auge. Bereits 2021 teilte Putin in einem Essay seine Sicht auf die verwobene Geschichte beider Länder. Russland, Belarus und die Ukraine seien demnach ein „drei-einiges Volk“, die Ukraine als eigenständiger Staat eine bedauerliche Erfindung der Sowjetzeit. Die heutige Ukraine, die sich – anders als das diktatorisch regierte Belarus – vom russischen Einfluss lösen will, habe sich laut Putin als „willige Geisel“ westlicher Interessen zu einem „Anti-Russland“ entwickelt. In einer vielbeachteten Rede unmittelbar vor Kriegsbeginn wiederholte Putin am 21. Februar 2022 diese Einschätzung. Die Ereignisse des Euromaidan, als Ukrainer*innen für eine proeuropäische Politik und gegen den kremltreuen Präsidenten Wiktor Janukowytsch auf die Straßen gingen, seien demnach ein „Staatsstreich“ gewesen, finanziert von der US-Botschaft. Seitdem greife in der Ukraine ein Nationalismus um sich, der sich zu „aggressiver Russophobie und Neonazismus“ gesteigert habe. Unter Zutun ihrer „westlichen Herren“ könnte die Ukraine laut Putin gar Atomwaffen erhalten. Vor dem Hintergrund dieser existenziellen Bedrohung präsentierte der Kreml wenig später die „militärische Spezialoperation“ als notwendigen Verteidigungsakt.

Die Publikation

Weitere Teile der Broschüre „Eine Waffe im Informationskrieg“ – Demokratiefeindliche Narrative in Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine der Amadeu Antonio Stiftung erscheinen in den nächsten Tagen.

Aus dem Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung
2. Worauf zielt Desinformation?
3. Narrative 
3.1 Was steht hinter Krieg und Propaganda?
3.2 Russische Propaganda: Zwischen Desinformationskampagne und Verschwörungsideologie
3.3 Feindbild Ukraine
3.
4 Der Westen als Feind
4. Grenzüberschreitende Desinformationskanäle auf Russisch
4.1 Russische Propaganda als deutsches Problem
4.2 Quellen der Desinformation in Russland
5. Wie wird in Deutschland kremlnahe Desinformation verbreitet?
5.1 „Alternative Medien“
5.2 Social Media
5.3 Putin-Freund*innen in der Politik
6. Handlungsempfehlungen
6.1 Strategische Überlegungen zum Umgang mit
kremlnaher Propaganda und Desinformation
6.2 Handlungsempfehlungen

Die Broschüre als PDF zum Download finden Sie hier:

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