Weiter zum Inhalt Skip to table of contents

Reichsbürgerprozess Bobstadt Der angebliche „Personenschützer-Reflex“

Von|
Das Gebäude, das die Familie A., Ingo K. und sein Sohn Marco S. bewohnte, ist während des SEK-Einsatzes in Brand geraten. Bis heute steht die Brandruine in Boxberg-Bobstadt (Baden-Württemberg). (Quelle: Nicholas Potter)

Montag, 31. Juli 2023: Ein psychiatrischer Sachverständiger betritt um 8:38 Uhr den Sitzungssaal 2. Er ist Ende 60, hat weißes Haar, trägt ein blaues Sakko. Wenige Minuten später wird der Angeklagte Ingo K. in den Saal geführt und der Vorsitzende Richter eröffnet die Sitzung. Der Sachverständige schildert, er habe Ingo K. am 2. Februar 2023 in der JVA Schwäbisch Hall (Baden-Württemberg) besucht und ihn – im Auftrag seines Rechtsanwalts Seifert – „über einige Stunden untersucht“. Er berichtet über die Biografie des Angeklagten. Zunächst über seine Eltern. So sei die Mutter in der DDR „nicht systemtreu“ gewesen. Sie sei 1987 ausgereist, er sei 1989 gefolgt. Die Ausreise seiner Mutter sei, so präzisiert der Sachverständige im späteren Verlauf, „abgesprochen“ gewesen. Dann über seine Arbeit, Drogen, Ehen. Über seine Umzüge und seine gemeinsame Zeit mit seinem Sohn Marco S. und der Familie A. in Bobstadt.

„Deprimiert“, aber „glücklich“?

In Bobstadt sei Ingo K. ein „Selbstversorger“, kein „Selbstverwalter“ gewesen. Die Unterscheidung sei dem Angeklagten besonders wichtig gewesen. Ingo K. habe berichtet, sein Sohn sei in der Psychiatrie von einem „Reichsbürger“ vergewaltigt worden. Alleine aus diesem Grund lehne er die „Reichsbürger“-Szene ab. Der Sachverständiger sagt, er habe bereits zwei „Reichsbürger“ begutachtet. Sobald er nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gefragt habe, hätten die beiden angefangen, ihre Ideologie zu verbreiten. Ingo K. hingegen sei „meilenweit“ vom Fanatismus entfernt. Stattdessen habe er bloß mit der Ideologie kokettiert. So glaube er nicht, dass Aliens die USA regieren.

Insgesamt habe der Sachverständige „nicht das Gefühl gehabt“, der Angeklagte verstelle sich. Die Frage des Vorsitzenden Richters, ob Ingo K. über sein Hör- und Sehvermögen geklagt habe, verneint der Sachverständige. Hör- und Sehvermögen seien „unauffällig“ gewesen. In einer Erklärung vom 20. Prozesstag hatte Ingo K. betont, er leide unter Kurzsichtigkeit und einem „schweren Gehörschaden“.

Der Sachverständige berichtet, Ingo K. habe am Vorabend des 20. April 2022 eine Dreiviertel-Flasche Met getrunken und vier bis fünf Joints geraucht. Er sei „deprimiert“, „genervt“ gewesen und zwischen Mitternacht und 1 Uhr ins Bett gegangen. Auf die Frage der Staatsanwältin, ob der Sachverständige den Widerspruch, einerseits sei Ingo K. „deprimiert“, andererseits sei er auf dem Hof „glücklich“ gewesen, hinterfragt habe, verneint er. Am nächsten Morgen habe Ingo K. einen Knall gehört. Sein Sohn hätte, vom Hund geschützt, auf dem Boden gelegen. Im späteren Verlauf erklärt er, seine Erinnerung hätte ausgesetzt, K. habe eine Erinnerungslücke. Rechtsanwältin Combé fragt, wann die Amnesie aufhörte. Der Sachverständige antwortet, K.s Erinnerungslücke habe aufgehört, als er mit einer Waffe in seiner Erdgeschosswohnung stand. Er habe keine Erinnerung mehr, dass er geschossen hat. Gegenüber dem Sachverständigen habe er beteuert, „nicht mit Tötungsabsicht geschossen“ zu haben. Nach Ende der Amnesie habe er sich „nicht mehr gewalttätig verhalten“. Der Sachverständige wird um 10:25 Uhr entlassen.

„Brauner Rotz“ und „Reichsbürger-Scheiße“

Nach einer Pause betritt ein Zeuge, der im LKA Baden-Württemberg arbeitet, den Saal. Er ist Ende 20, hat braunes Kurzhaar, trägt ein hellblaues Sakko. Der Vorsitzende Richter sagt, der Zeuge habe den SEK-Beamten Nr. 13 vernommen. Der Zeuge sagt aus, Nr. 13 sei mit Nr. 1 und 11 in der Reserve und somit rund 100 Meter vom Wohnhaus entfernt gewesen. Erst in seiner zweiten Position habe Nr. 13 einen guten Blick auf das Haus gehabt. Eine Frau, die im Zuge der Signale (Blaulicht, Martinshorn, „Polizei“-Rufe) aus dem Dachfenster geschaut habe, hätte die Polizei „zweifelsfrei erkennen müssen“. Die Schüsse seien zum einen „laute Schläge“, zum anderen „kleine Erbsen“ gewesen. Laut Zeuge habe sich Nr. 13 aufgrund seiner Distanz zum Haus „hilflos gefühlt“. Drei Kolleg*innen seien am Haus festgesteckt und konnten erst durch den Einsatz von Nebelhandgranaten evakuiert werden. Der Zeuge wird um 11:14 Uhr entlassen.

Der Vorsitzende Richter bittet die Zeugin Sandra T. in den Saal. Sie ist Ende 40, hat braunes, lockiges Haar, trägt einen schwarzen Pullover. Die Zeugin arbeitete mit Ingo K. im Sicherheitsdienst. Sie berichtet, sie habe im Frühjahr 2022 nur zwei bis drei Monate in der Firma gearbeitet. Mit Ingo K. sei sie im Kurpark Bad Mergentheim und Schloss Weikersheim auf Streife gewesen. Währenddessen habe er „lauter verrücktes Zeug“ erzählt. K. habe die Zeugin gefragt, ob sie bei McDonalds esse, und habe behauptet, „die Juden“ würden Kinder schlachten und deren Fleisch dort verkaufen. Für Ingo K. seien „die Juden“, so habe die Zeugin in ihrer polizeilichen Vernehmung angemerkt, „an allem Schuld“. Die Zeugin betont, er sei von seinen Ansichten „extrem überzeugt“ gewesen. Sie habe ihm gesagt, das sei „brauner Rotz“ und „Reichsbürger-Scheiße“. Er habe „einen an der Waffel“. Daraufhin sei er „richtig sauer“ und „wütend“ gewesen. Als sie ihre Chefin, die am 16. Prozesstag aussagte, auf seine „Reichsbürger“-Ideologie ansprach, seien die Reaktionen gewesen: „Der meint das nicht ernst“, „der ist halt so“, „der schwätzt nur“. Die Zeugin habe entgegnet, es sei „nicht nur Schwätzen“. Um 12:00 Uhr ist die Vernehmung beendet.

„Etliche Polizisten“ im Freundeskreis

Nach der Pause setzt der Vorsitzende Richter die Sitzung mit der Vernehmung eines psychiatrischen Sachverständigen fort. Der Sachverständige ist Anfang 60 und Facharzt für forensische Psychiatrie in Tübingen. Er habe – im Auftrag der Bundesanwaltschaft – zwei Gespräche mit Ingo K. geführt. Der Sachverständige beginnt mit dem ersten Gespräch und der Frage, wie Ingo K. die Haftzeit erlebe. Der Angeklagte habe geäußert, er sei durchaus „positiv überrascht“. Er sitze, als das Gespräch stattgefunden hat, in einer Doppelzelle der JVA Schwäbisch Hall und sei 23 Stunden in der Zelle, eine Stunde im Hof. Die Trennung von seinem Sohn Marco S. sei die „größte Belastung“. Bis zur Inhaftierung habe Ingo K. ein „glückliches Leben“ geführt. Mit seinem Sohn und der Familie A. habe er in einer „großen Familie“ gelebt. Noch heute sei er ein „Familienmitglied“. Die Familie halte ihm – trotz Brand – die Treue. Ingo K. wisse nicht, wie er seine Dankbarkeit gegenüber der Familie zum Ausdruck bringen solle.

Der Sachverständige setzt mit der Lebensgeschichte von Ingo K. fort. Über die Ausreise seiner Mutter sagt er, es sei ein „plötzliches Verschwinden“ gewesen. Laut Sachverständigem sei unklar geblieben, ob er von der Ausreiseabsicht der Mutter wusste. Als Ingo K. im Westen angekommen ist, habe er einen „Kulturschock“ erlebt und überlegt, in die DDR zurückzukehren. Der Sachverständige referiert über Arbeit, Drogen, Ehen. Der Angeklagte habe nicht nur Joints geraucht, sondern auch Ecstacy, Kokain und Speed genommen. Es seien sieben bis acht Jahre „exzessiver Drogenkonsum“ gewesen. Bis zum „bösen Erwachen“. Seine Insolvenz habe er auf die Drogen zurückgeführt. Der Sachverständige habe K. nach seinen positiven und negativen Eigenschaften gefragt. Positiv: sein Sinn für und sein Streben nach Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit. Zudem: Er sei bereit, seine Interessen hintan zu stellen und sich für andere Menschen zu opfern. Negativ: Drogen und Unordnung. Er gebe eine Tätigkeit schnell auf, wenn sie ihm keinen Spaß mache. Hierbei habe er seine Berufswechsel genannt.

Briefe und ein Vier-Augen-Gespräch

Ingo K. habe geäußert, er sei kein „Reichsbürger“. Er habe sich lediglich mit „Reichsbürger“-Themen befasst. Das sei ein Unterschied. Viele „Reichsbürger“ seien „fehlgeleitete Idioten“. Sie hätten keine Kenntnisse in deutscher Geschichte. Im späteren Verlauf fragt eine Richterin nach der angeblichen Vergewaltigung seines Sohnes Marco S. durch einen „Reichsbürger“. Der Sachverständiger sagt, er habe die Erzählung am heutigen Morgen zum ersten Mal gehört. Ingo K. habe betont, er sei ausdrücklich für, nicht gegen den Staat. Aber: Es laufe einiges „in die falsche Richtung“. Außerdem sei er kein „Ausländerhasser“ und kein Feind der Polizei. Im Gegenteil: Er habe viele Migrant*innen trainiert und „etliche Polizisten“ in seinem Freundeskreis. Dann setzt der Sachverständige mit dem zweiten Gespräch fort. Im Gespräch habe Ingo K. wiederholt, er sei kein „Ausländerhasser“ und kein „Reichsbürger“. Und: auch kein Nazi. Er sei „eher ein Buddhist“ mit „rechtem Denken“. Recht im Sinne von „philosophisch richtig“.

Über den 20. April 2022 habe Ingo K. gesagt, er habe am Vorabend gekifft und getrunken. Am frühen Morgen sei er vom Krach aufgewacht. Es sei ein „Albtraum“, ein „Chaos“ gewesen. Sein einziger Gedanke sei war, seinen Sohn Marco S. zu beschützen. Die Szene, als er „wimmernd“ und „zusammengekrümmt“ auf dem Boden lag, habe sich „regelrecht eingebrannt“; die Situation habe er jeden Tag vor Augen. Sein „Blackout“ habe geendet, als er mit Schießpulver in der Nase an der Terrassentür stand. Er habe „niemanden verletzen wollen“, es sei bloß sein „Personenschützer-Reflex“ gewesen. Schließlich habe er seinen Sohn beschützen wollen.

Briefe an den Verletzten habe er verfasst, aber nicht verschickt. Sein Wunsch sei, ein Vier-Augen-Gespräch mit dem Mann führen zu können. Wäre er auf Seite der Polizist*innen gestanden, wäre er der Erste gewesen, der den SEK-Beamten beschützt hätte. Der psychiatrische Sachverständige wird um 14:35 Uhr entlassen. Mit Blick auf eine Anfrage vom 20. Prozesstag erklärt Rechtsanwalt Seifert, sein Mandant stimme einer Untersuchung durch den Augen- und Ohrenarzt zu, um mögliche Beeinträchtigungen festzustellen. Um 15:00 Uhr wird die Sitzung beendet.

Unsere bisherige Berichterstattung

Tag 1: „Reichsbürger“ wegen 14-fachem Mordversuch vor Gericht

Tag 2: „Mein Wunsch war, Verfassungsschützer zu werden“

Tag 3: Hobbys – Buddhismus und Waffen

Tag 4: Eine Garderobe mit Waffen

Tag 5: Die Kurkuma-Verschwörung

Tag 6: „Wir haben Waffen, um gegen die Tyrannei zu kämpfen“

Tag 7 und 8: „Es kann alles oder nichts passieren“

Tag 9 und 10: Mein Nachbar, der freundliche „Reichsbürger“

Tag 11 und 12: Die Schmauchspuren des Schützen

Tag 13 und 14: Die Schützenhilfe der Familie A.

Tag 15 und 16: „Die wollten rein, ich bin durchgetickt“

Tag 17 und 18: Die Hilferufe des „Reichsbürgers“

Tag 19 und 20: „Absolutes Bedauern“ bei mutmaßlichen Täter

Weiterlesen

2019-08 Erzgebirge schwarzenberg (68)

Erzgebirge in Sachsen Wie junge Menschen in rechtsextremen Hochburgen dagegen halten

Das Erzgebirge gilt als Rückzugsort für Neonazis. Ihre neueste Strategie: sozialpolitisches Engagement in Heimat-Vereinen. Während am Wochenende ein solcher „Heimattag“ veranstaltet wurde, bestärkte nicht weit entfernt das antirassistischen „Stains in the Sun“-Festival junge Menschen, dass sie nicht alleine sind mit ihrer Haltung gegen Rassismus. 

Von|
Eine Plattform der