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Reichsbürgerprozess Bobstadt Schüsse – eine „affektive Überreaktion“?

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In Boxberg soll Ingo K. versucht haben, 14 Polizist*innen zu erschießen. (Quelle: Nicholas Potter)

Montag, 18.09.2023: Um 9:16 Uhr wird ein Zeuge in den Sitzungssaal 2 begleitet. Er trägt kurzrasiertes Haar, einen Kinnbart und Polizeiuniform. Dann wird der Angeklagte Ingo K. in den Saal geführt. Der Vorsitzende Richter eröffnet die Sitzung und begrüßt den Zeugen. Der Zeuge ist Mitte 40 und Polizeihauptkommissar im LKA Baden-Württemberg. Im Rahmen des SEK-Einsatzes war er der Polizeihundeführer.

Der Zeuge berichtet, man habe die Pistole des „Reichsbürgers“ einziehen wollen. Blaulicht, Martinshorn, „Polizei“-Rufe. Öffnung des Zauns, Öffnung des Rollladens der Terrassentür. Plötzlich seien Schüsse gefallen und ein Kollege ging zu Boden. Später sei ein Brand ausgebrochen. Der Zeuge schildert, er habe mit seinem Fahrzeug etwa 80 bis 90 Meter vom Wohnhaus entfernt gestanden. Das Fahrzeug habe einen Schuss abbekommen. Wäre der Schuss einen Meter höher eingeschlagen, würde er heute wohl nicht im Saal sitzen, ergänzt er. Schließlich hatte das Fahrzeug keine Panzerung. Auf die Frage der Rechtsanwältin Combé, ob der Zeuge von einem oder mehreren Schützen ausgegangen sei, antwortet er, dass er von zwei Schützen ausgegangen sei. Denn die Schüsse seien aus unterschiedlichen Richtungen gekommen. Heute könne er einen zweiten Schützen „nicht ausschließen“. Um 10:04 Uhr wird der Zeuge entlassen.

51 Dezibel

Dann betritt ein Sachverständiger den Saal. Brille, blonde, kurze Haare, ein blau-weiß-kariertes Hemd. Er ist Mitte 40 und arbeitet im Fraunhofer Institut für Bauphysik in Stuttgart. In seiner Vernehmung sagt der Sachverständige, er habe prüfen sollen, ob die Martinshörner der Fahrzeuge in der Wohnung zu hören waren. Hierfür sei eine Laboruntersuchung nötig gewesen. Er spricht über Schallenergie und Schallleistung, über den Widerstand des Fensters und der Wand. Über den „Schalldruckpegel“ der Fahrzeuge und des Untergeschosses. Der Vorsitzende Richter zeigt eine Tabelle mit den Ergebnissen der Berechnungen.

Der Sachverständige erklärt, für das Wohnzimmer habe er einen „Schalldruckpegel“ von 51 Dezibel berechnet. Das entspreche einer „leisen Unterhaltung“. Für die beiden Schlafzimmer berechnete er ähnliche Werte. Daher sei die Wahrscheinlichkeit, dass das Martinshorn in der Wohnung zu hören war, hoch. Um 11:13 Uhr ist die Vernehmung des Sachverständigen beendet.

Nach einer Pause wird ein Zeuge in den Saal begleitet. Jürgen S. ist Anfang 50, hat blondes langes Haar, trägt ein bläuliches Shirt. Er ist Postzusteller in Niederstetten-Rüsselhausen (Baden-Württemberg), dem früheren Wohnort des Angeklagten. Er berichtet über den Briefkasten der Mietswohnung von Ingo K. und eine „Zustellungsurkunde“ für ein Schreiben des Landratsamtes Main-Tauber vom August 2021. Es habe mit der Postzustellung keine Probleme gegeben. Der Zeuge wird um 13:20 Uhr entlassen.

Blaulicht und Silhouetten

Ein Sachverständiger kommt in den Saal. Brille, Glatze, dunkelblaues Sakko mit weißem Hemd. Er ist Mitte 50 und arbeitet im Fraunhofer Institut für Bauphysik. Er wurde mit der Frage betraut, ob das Blaulicht der Fahrzeuge und die Silhouetten der SEK-Beamt*innen im Inneren der Wohnung erkennbar waren. Der Sachverständige erklärt, er habe Modelle eines SEK-Beamten und des Wohnzimmers erstellt, um die Frage beantworten zu können. Er erläutert die Merkmale des Blaulichts sowie die Rolle des Tageslichts. Der Vorsitzende Richter projiziert Grafiken aus dem Gutachten des Sachverständigen auf die Leinwände. Die Grafiken zeigen die Ergebnisse der Berechnungen: Durch die Lamellen des Rollladens sind sowohl das Blaulicht als auch die Silhouette eines SEK-Beamten zu erkennen. Der Sachverständige resümiert, Blaulicht und SEK-Beamt*innen hätten „wahrnehmbar sein müssen“. Rechtsanwalt Seifert fragt, ob die Lamellen geöffnet waren. Darauf antwortet der Sachverständige, Fotomaterial, das ihm zur Verfügung gestellt wurde, hätten die geöffneten Lamellen gezeigt. Der Sachverständige wird um 13:53 Uhr entlassen.

„Etwas Tolles vollbracht“

Dann betritt ein Zeuge den Saal. Er hat braunes kurzes Haar und trägt ein hellblaues Hemd. Der Zeuge ist Anfang 20 und Polizeikommissar im LKA Baden-Württemberg. Er schildert seine Vernehmung des SEK-Beamten Nr. 7. In der Vernehmung habe Nr. 7 über die Annäherung an das Wohnhaus und die Schüsse aus dem Inneren des Untergeschosses gesprochen. Es habe Rufe gegeben: „Verpisst Euch, ich mach Euch alle fertig!“ Es sei eine hasserfüllte, männliche Stimme aus der Wohnung gewesen. Als Ingo K. und Max A. – der Sohn des Vermieters Heiko A. – die Wohnung verließen, hätten die beiden „wie ein eingespieltes Team gewirkt“ und gesagt, sie hätten „etwas Tolles vollbracht“. Aber: Sie hätten nicht geschossen.

Auf die Frage eines Richters, wie das Verhältnis zwischen Ingo K. und Max A. gewesen sei, antwortet der Zeuge, laut Nr. 7 sei K. der „Wortführer“ gewesen und A. habe den Worten zugestimmt. Im Zuge der Festnahmen sei an den Händen von A. eine gelbliche Substanz („wie Pollenstaub“) festgestellt worden. Allerdings lägen „keine Hinweise“ auf einen zweiten Schützen vor. Um 15:22 Uhr wird der Zeuge entlassen und die Sitzung geschlossen.

Zwischen Corona und Ölheizung

Mittwoch, 20.09.2023: Ein Zeuge wird um 9:17 Uhr in den Sitzungssaal 2 begleitet. Er trägt einen Bart, an den Seiten kahlrasiertes Haar, ein dunkelblaues Hemd mit grauem Sakko. Dann wird der Angeklagte Ingo K. in den Saal geführt. Er hebt die gefesselten Hände, um seine frühere Ehefrau, die im Publikum sitzt, zu grüßen. Im Laufe des Tages sucht er immer wieder den Augenkontakt. Der Vorsitzende Richter eröffnet die Sitzung und begrüßt den Zeugen. Der Polizeioberkommissar ist Anfang 30 und im Polizeirevier Bad Mergentheim (Baden-Württemberg) tätig. Er hatte Ende 2020 eine Begegnung mit dem Angeklagten. Der Zeuge schildert, er habe eine Firma beauftragt, eine Ölheizung auszubauen. Für die Firma sei Ingo K. tätig gewesen. Vor Ort habe K. über die Coronapolitik gesprochen. Dem Zeugen seien die Positionen, die er vertreten habe, „unangenehm“ gewesen. Nach der Bluttat vom 20. April 2022 war der Zeuge in Ermittlungen gegen den Angeklagten eingebunden. So habe er polizeiliche Erkenntnisse zu Ingo K. zusammengetragen. Um 9:37 Uhr ist die Vernehmung des Zeugen beendet.

Drohne

Ein Zeuge – kurzes Haar, weißes Hemd, Jeans – kommt in den Saal. Er ist Anfang 30 und Polizeioberkommissar im LKA Baden-Württemberg. Der Vorsitzende Richter erklärt, er habe den SEK-Beamten Nr. 11, den „Drohnenführer“, vernommen. Daraufhin berichtet der Zeuge, Nr. 11 habe über die Einsatzlage gesprochen. Er sei rund 150 Meter vom Wohnhaus entfernt gewesen. Die Erkennbarkeit der Polizei war „zweifelsfrei gegeben“. Als Blaulicht und Martinshorn losgingen, habe er die Drohne gestartet. Das ursprüngliche Ziel sei gewesen, das Verhalten der Hunde auf dem Grundstück zu beobachten. Er habe die Schüsse nur akustisch, nicht optisch wahrnehmen können. Erst habe Nr. 11 gedacht, die Hunde seien beschossen worden. Dann habe er den Beschuss der Polizist*innen realisiert.

Ein Richter sagt, neben der Vernehmung des SEK-Beamten Nr. 11 habe der Zeuge die Fotos der Feuerwehr und der Nachbarschaft eingesammelt. Der Richter zeigt einige Fotos auf den Leinwänden. Sie dokumentieren den Einsatz der Nebelgranaten und den Brand des Wohnhauses. Der Zeuge erläutert die Fotos und wird um 10:12 Uhr entlassen.

Erkrankung und Verweigerung

Ein Zeuge betritt den Saal. Er ist Mitte 20 und Polizeibeamter im LKA Baden-Württemberg. Der Vorsitzende Richter sagt, er habe den SEK-Beamten Nr. 6 vernommen. Der Zeuge berichtet, in seiner Vernehmung habe Nr. 6 über die Einsatzlage und die Erkennbarkeit der Polizei gesprochen. Zudem habe er über die Schüsse, den verletzten SEK-Beamten Nr. 10 und den Brand des Wohnhauses berichtet. Nr. 6 habe vermutet, dass mehrere Personen aus dem Wohnungsinneren geschossen haben. Auf die Frage eines Richters, ob Nr. 6 angeschossen worden sei, nennt der Zeuge einen abgeprallten Schuss am Visier. Der SEK-Beamte habe keine Verletzungen erlitten. Um 10:42 Uhr wird der Zeuge entlassen.

Der Vorsitzende Richter verliest zwei Schreiben. Die Betreuerin von Marco S. – dem Sohn des Angeklagten, der unter einer psychischen Erkrankung leidet – urteilt, eine Vernehmung würde seine Gesundheit gefährden. Daher lehne sie diese ab. Der Rechtsanwalt von Marco S. teilt mit, als Sohn des Angeklagten verweigere sein Mandant die Aussage.

„Keine Beeinträchtigungen“

Nach einer Pause belehrt der Vorsitzende Richter einen psychiatrischen Sachverständigen. Er begutachtete den Angeklagten im Auftrag der Bundesanwaltschaft anhand zweier Gespräche. Der Sachverständige sagt aus, der psychiatrische Befund sei „unauffällig“. Es gebe „keine Beeinträchtigungen seiner geistigen Leistungsfähigkeit“. Ingo K. habe „keine schwere Persönlichkeitsstörung“; ein schizophrener Wahn sei ausgeschlossen. Ob er im Affekt gehandelt habe und eine Bewusstseinsstörung vorliege, hänge von den Erkenntnissen des Prozesses ab. So laute eine Frage, wie sicher Ingo K. sein konnte, dass die Polizei vor der Wohnung stand. Der Sachverständige stellt fest, zwischen Panik und Verärgerung über den SEK-Einsatz lägen Welten. Eine Panikattacke bedeute eine „erhebliche Minderung der Steuerungsfähigkeit“. Allerdings setze eine Panik voraus, dass er die Polizei nicht erkennt habe. Zudem beträfe eine Panik lediglich die ersten Schüsse. Denn eine „affektive Überreaktion“ dauere nur kurz.  Mehrere Gründe, darunter der Wechsel der Schusspositionen, sprächen gegen eine „affektive tiefgreifende Bewusstseinsstörung“. Rechtsanwalt Seifert fragt den Sachverständigen, ob eine Panikattacke in Frage komme, wenn sein Mandant bloß die ersten Schüsse und Max A. die übrigen Schüsse abgegeben habe. Der Sachverständige bestätigt, das sei theoretisch möglich. Der psychiatrische Sachverständige wird um 16:43 Uhr entlassen. Die Sitzung wird beendet.

Unsere bisherige Berichterstattung

Tag 1: „Reichsbürger“ wegen 14-fachem Mordversuch vor Gericht

Tag 2: „Mein Wunsch war, Verfassungsschützer zu werden“

Tag 3: Hobbys – Buddhismus und Waffen

Tag 4: Eine Garderobe mit Waffen

Tag 5: Die Kurkuma-Verschwörung

Tag 6: „Wir haben Waffen, um gegen die Tyrannei zu kämpfen“

Tag 7 und 8: „Es kann alles oder nichts passieren“

Tag 9 und 10: Mein Nachbar, der freundliche „Reichsbürger“

Tag 11 und 12: Die Schmauchspuren des Schützen

Tag 13 und 14: Die Schützenhilfe der Familie A.

Tag 15 und 16: „Die wollten rein, ich bin durchgetickt“

Tag 17 und 18: Die Hilferufe des „Reichsbürgers“

Tag 19 und 20: „Absolutes Bedauern“ bei mutmaßlichen Täter

Tag 21: Reichsbürgerprozess Bobstadt: Der angebliche „Personenschützer-Reflex“

Tag 22: Eine Friedenstaube mit Hakenkreuz

Tag 23: Alles „amüsant“ und „lächerlich“?

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