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Reichsbürgerprozess Bobstadt Eine Friedenstaube mit Hakenkreuz

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Vor dem Oberlandesgericht Stuttgart findet der Prozess gegen den „Reichsbürger“ Ingo K. aus Boxberg-Bobstadt (Baden-Württemberg) statt. (Quelle: Timo Büchner)

Montag, 14. August 2023: Um 9:21 Uhr wird der Angeklagte Ingo K. von drei Polizisten in den Sitzungssaal 2 geführt. Seine frühere Ehefrau Dimitrula S., die im Publikum sitzt, wirkt sichtlich gerührt. Der Vorsitzende Richter eröffnet die Sitzung und stellt die Zeugin, eine Ermittlungsassistentin im LKA Baden-Württemberg, vor. Sie ist Ende 20, hat braune, lange Haare. Der Vorsitzende Richter erzählt, die Zeugin habe einen Bericht zum Chatverlauf von Heiko A. erstellt. A., der am 14. Prozesstag aussagte, ist der ehemalige Vermieter des Angeklagten. Die Familie A. lebte mit Ingo K. in Bobstadt. Die Zeugin berichtet, sie habe Audios, Bilder und Videos gefunden. Es habe Bezüge zur „Reichsbürger“-Szene und „ganz viele Bilder von Adolf Hitler“ gegeben. Die Kommunikation habe im Wesentlichen via Telegram stattgefunden. Jedoch sei nicht nachzuvollziehen, ob die Dateien bloß erhalten oder auch verschickt wurden.

Der Vorsitzende Richter sagt, es habe mehr als 68.000 Bilder gegeben. Er zeigt ein Bild des „SHAEF“-Wappens mit dem Spruch „Deutschland steht unter KRIEGSRECHT! Es gelten ausschließlich S.H.A.E.F. Gesetze!!!“. Einst war „SHAEF“ das alliierte Oberkommando in Europa. Er zeigt Bilder einer Schwarzen Sonne und diverser Hakenkreuze und Hitlergrüße. „Schicke diese Friedenstaube an alle deine Freunde, wenn auch du ein Zeichen für Frieden und Harmonie in der Welt setzen möchtest“, steht auf einem Sharepic. Darunter: ein Adler mit Hakenkreuz. Neben den Bildern wurden jeweils über 400 Audios und Videos sichergestellt. Die Zeugin sagt, sie habe darüber hinaus fast 2.000 Dokumente durchgeschaut. Das seien insbesondere Musterschreiben der „Reichsbürger“-Szene gewesen.

Die Zeugin berichtet, es habe auffällige Chats von Heiko A. gegeben. Ein Chat mit Ingo K., aber auch drei Gruppenchats mit ein und derselben Nachricht vom Morgen des 20. April 2022. In die Chats habe A. geschrieben: „Kommt alle her die Bullen stürmen uns filmt alles“ (alle Fehler im Original).

Im späteren Verlauf fragt der Staatsanwalt, ob die Zeugin auch antisemitische Inhalte festgestellt habe. Als die Zeugin verneint, zeigt er ein Foto mit mehreren Flaggen. Neben der Reichskriegsflagge und der Hakenkreuzflagge ist die schwarz-rot-goldene Flagge der Bundesrepublik zu sehen. Der Titel lautet: „Judenflagge“. Im Text zur Flagge ist die Rede von der „Judenherrschaft“. Die Zeugin wird um 10:04 Uhr entlassen.

„Wenn ich sterbe, ich liebe Dich“

Ein Sachverständiger – Glatze, Bart, dunkelblaues Hemd – kommt in den Saal. Er ist Mitte 30 und Kriminalhauptkommissar im LKA Baden-Württemberg. Der Beamte habe, so der Vorsitzende Richter, die Aufgabe gehabt, den Radlader, der vor dem Wohnhaus stand, zu untersuchen. Er habe seine Ergebnisse in einem Bericht festgehalten. Anhand einiger Fotos zeigt der Sachverständige die Brand- und Schussbeschädigungen am Fahrzeug. Es habe mehrere Durchschüsse am Auspuff und an der Türe gegeben. Der Sachverständige wird um 10:26 Uhr entlassen.

Dann betritt der Zeuge Waldemar A. den Saal. Er ist Anfang 70 und trägt eine Brille, einen Bart, rot-weiß-kariertes Hemd. Der Zeuge ist der Nachbar der Familie A.. Über Ingo K. berichtet er, dass er mit ihm „kein Wort gewechselt“ habe. Aber er habe einen „freundlichen Eindruck gemacht“ und stets gegrüßt. Der Zeuge erklärt, er habe mehrfach Schießübungen von Ingo K., seinem Sohn Marco S. und Max A., dem Sohn des Vermieters Heiko A., beobachtet. Er habe ein Stativ und Schussscheiben gesehen. Einmal habe Ingo K. „ein Sturmgewehr hochgehalten“ und „rübergelächelt“. Um 10:48 Uhr wird der Zeuge entlassen. In einer Erklärung sagt Ingo K. über die Schießübungen, die Familie A. habe vier Softairwaffen besessen.

Nach einer Pause wird ein Sachverständiger in den Saal begleitet. Er ist Ende 20 und hat einen Schnauzer sowie braune, lockige Haare. Der Sachverständige ist Polizeikommissar im LKA Baden-Württemberg. Im Mittelpunkt seiner Aussage steht die Auswertung des Chatverlaufs zwischen Ingo K. und Annett van H., einer ehemaligen Lebensgefährtin aus den 1990er-Jahren. Anfangs sei unklar gewesen, wer hinter „Annett“ steckt. Aber schnell sei deutlich geworden, dass ein „inniges Kennverhältnis“ bestand. Man habe hauptsächlich verschwörungsideologische Inhalte weitergeleitet. Jedoch habe Ingo K. am 20. April 2022 um 6:59 Uhr eine eigene Nachricht verschickt: „Wir werden gerade von den Bullen gestürmt […]. Wenn ich sterbe, ich liebe Dich. Wir sehen uns.“ Der Sachverständige wird um 11:36 Uhr entlassen.

Nur „getrommelt für die Mannschaft“

Rechtsanwalt Seifert kündigt an, sein Mandant wolle eine Stellungnahme abgeben. Dann sagt Ingo K., er habe jahrelang keinen Kontakt zu Annett van H. gehabt. Erst mit der Erkrankung seiner Mutter sei der Kontakt enger geworden. Sie habe ihm in der Bewältigung seiner Trauer geholfen. Als er seinen Sohn Marco S. aus dem Betreuten Wohnen holen wollte, habe sie ihren Rat gegeben. Über die „Ich liebe Dich“-Nachricht vom 20. April 2022 sagt Ingo K., er habe die Nachricht bloß freundschaftlich gemeint.

Am 9. Prozesstag wurde bekannt, dass ein ehemaliger Nachbar in seiner polizeilichen Vernehmung sagte, Ingo K. habe einmal eine schwarz-weiß-rote Fahne aus seinem Auto getragen. Nun erklärt der Angeklagte, er sei „nie mit einer Fahne auf einer Demo gewesen“. Er habe nur die Fahne seines Kampfsportstudios aus dem Auto geräumt. Um zu veranschaulichen, dass er noch nie eine schwarz-weiß-rote Fahne in einer Demonstration gezeigt habe, gibt er dem Vorsitzenden Richter einen Presseartikel. Im Artikel ist Ingo K. mit Schlegel und Trommel vor einem „Querdenken“-Transparent in Bad Mergentheim (Baden-Württemberg) zu sehen. Über die Teilnahme an der Demonstration sagt der Angeklagte, er sei eingeladen worden. Er habe lediglich 15 Minuten teilgenommen und „getrommelt für die Mannschaft“. Mehr nicht.

Ingo K. spricht über seine Arbeit als Kampfsporttrainer. Er habe hunderte Jugendliche trainiert, sich selbst zu verteidigen. Das sei ihm beim eigenen Sohn verwehrt geblieben. Es sei schwer, darüber zu sprechen. Plötzlich verlässt seine frühere Ehefrau Dimitrula S., die Mutter des gemeinsamen Sohnes, unter Tränen den Saal. Später thematisiert Ingo K. die Aussage einer Sachverständigen. Sie untersuchte die Rufe aus dem Inneren des Wohnhauses und sagte am 18. Prozesstag aus. Damals sagte die Sachverständige, es sei eine männliche Stimme gewesen. Nun behauptet Ingo K., dies sei „nicht meine Stimme“. Er vermutet, man habe die Stimme von Bianca S., der Frau des ehemaligen Vermieters Heiko A., gehört. Um 12:00 Uhr wird die Sitzung beendet.

Unsere bisherige Berichterstattung

Tag 1: „Reichsbürger“ wegen 14-fachem Mordversuch vor Gericht

Tag 2: „Mein Wunsch war, Verfassungsschützer zu werden“

Tag 3: Hobbys – Buddhismus und Waffen

Tag 4: Eine Garderobe mit Waffen

Tag 5: Die Kurkuma-Verschwörung

Tag 6: „Wir haben Waffen, um gegen die Tyrannei zu kämpfen“

Tag 7 und 8: „Es kann alles oder nichts passieren“

Tag 9 und 10: Mein Nachbar, der freundliche „Reichsbürger“

Tag 11 und 12: Die Schmauchspuren des Schützen

Tag 13 und 14: Die Schützenhilfe der Familie A.

Tag 15 und 16: „Die wollten rein, ich bin durchgetickt“

Tag 17 und 18: Die Hilferufe des „Reichsbürgers“

Tag 19 und 20: „Absolutes Bedauern“ bei mutmaßlichen Täter

Tag 21: Reichsbürgerprozess Bobstadt: Der angebliche „Personenschützer-Reflex“

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