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Shoah-Gedenktag Holocaust-Relativierungen der Pandemiemaßnahmen-Kritiker:innen widersprechen

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Zum Holocaust-Gedenktag 2021 stehen Menschen in Hannover vor dem Neuen Rathaus, auf dessen Fassade die Projektion mit Namen von deportierten Menschen, Bild- und Filmmaterial zu sehen ist, eine Lichtinstallation des Künstlers Farschid Ali Zahedi. Wollten wir lieber zeigen, als am Holocaust-Gedenktag antisemitische Coronaleugner:innen-Symbolik zu zeigen. (Quelle: picture alliance/dpa | Michael Matthey)

Der Holocaust ist ein einzigartiges Menschheitsverbrechen – der von den Nationalsozialist:innen initiierte, antisemitisch motivierte, industriell organisierte Massenmord an Jüdinnen und Juden in Deutschland und Europa kostete 6 Millionen Jüdinnen und Juden das Leben und geschah unter der aktiven Mithilfe von mindestens 200.000 Menschen in Deutschland und Österreich. Dass sich so viele Menschen an der Ermordung von Jüdinnen und Juden beteiligten, oft sogar, ohne dabei eine Schuld zu empfinden, lag am weit verbreiteten und spätestens seit der Wahl der NSDAP staatlich massiv propagierten Antisemitismus. In der antisemitischen Propaganda der NS-Zeit finden sich viele Motive und Narrative, die bis heute in rechtsextremen und verschwörungsideologischen Kreisen beliebt sind: Verunglimpfungen von Jüdinnen und Juden aufgrund zugeschriebener Eigenschaften oder körperlicher Merkmale, Erzählungen einer jüdischen Weltverschwörung zum Schaden des nicht-jüdischen Restes der Menschheit, Erzählungen vom rassistisch-biologistisch verstandenen „Volkskörper“, in den Jüdinnen:Juden wie ein Virus einbrächen.

Wenn wir also real geschehene, mörderische Folgen von Antisemitismus vor Augen haben, lohnt es sich, aufmerksam zu sein, wenn solche Erzählungen heute wieder um sich greifen. Die Verschwörungserzählung einer vermeintlichen jüdischen Weltverschwörung (heute gern verklausuliert als „globalistische Eliten“) und die Virus-Metapher sind in Coronazeiten wieder über rechtsextreme Kreise hinaus verbreitet.

Holocaust-Leugnung? Das bleibt Nazi-Terrain

Noch beliebter allerdings ist in Pandemieleugner:innen-Kreisen die Holocaust-Relativierung. Nicht die Holocaust-Leugnung – das ist den Antidemokrat:innen, die sich aber weiterhin als bürgerlich begreifen wollen, dann doch zu rechtsextrem. Sie sagen nicht, dass der Holocaust nie passiert sei oder dass die Zahl der Opfer nicht stimme – das überlassen sie explizit Rechtsextremen, die das weiterhin gern tun (übrigens auch mit einer neuen Variante: Sie leugnen teilweise nicht mehr, dass der Holocaust geschehen ist, schreiben ihn stattdessen aber einer vermeintlichen „jüdischen Weltverschwörung“ zu – Jüdinnen und Juden hätten sich also selbst ermordet, um den Rest der Welt in Schuld zu treiben). Während Holocaustleugnung in Deutschland eine Straftat ist, ist es Holocaust-Relativierung nicht immer.

Holocaust-Relativierung: Das Opfer, das bin ich

Aber nicht (nur) deshalb ist Holocaust-Relativierung auf Anti-Corona-Maßnahmen-Protesten allgegenwärtig. Holocaust-Relativierung dient hier vielmehr als Täter-Opfer-Umkehr: Die Maßnahmen-Gegner:innen möchten ihre Pein zum Ausdruck bringen, die sie als „Opfer“ der staatlichen Schutzmaßnahmen vor dem potenziell tödlichen Coronavirus empfinden. Sie geben also ihrem Schmerz Ausdruck, sich nicht selbst mit einer potenziell tödlichen Krankheit anstecken und die Menschen in ihrer Umgebung nicht unsanktioniert gefährden zu dürfen. In dieser Situation setzen sie sich gleich mit Jüdinnen und Juden, die im Nationalsozialismus gesucht, verhaftet, deportiert und ermordet wurden.

Dies ist eine Holocaust-Relativierung: Der nationalsozialistische Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden wird verharmlost, wenn er gleichgesetzt wird mit der Ermahnung, eine Maske zu tragen oder der Vorschrift, Geschäfte nur geimpft zu betreten. Während Jüdinnen und Juden keine legale Chance hatten, dem Holocaust zu entgehen, können Maßnahmen-Gegner:innen und Impfgegner:innen unbehelligt leben, wie bisher – bloß sind ihnen einige soziale Interaktionen in Pandemiewellen nur mit zusätzlichen Schutzmaßnahmen erlaubt, und wer sich nicht an die demokratisch vereinbarten Regeln hält, muss mit Geldstrafen rechnen. Dies ist aber eine Entscheidung, kein Schicksal. Ob übrigens die querdenkende Person im Sinn hat, den Holocaust zu relativieren, oder nicht, ist nicht relevant, wenn sie es trotzdem tut.

Für alle, die sich aber unsicher sind, ob ihre Corona-Protest-Vokabular eine Holocaust-Relativierung oder eine Relativierung des Nationalsozialismus enthält – hier einige gängige Formen, für die gilt: Sie zu äußern ist keine schlaue Idee.

Das sind Holocaust-Relativierungen:

  • Der „Ungeimpft“-Stern, angelehnt an den „Judenstern“ im Nationalsozialismus, ist nicht nur das Paradebeispiel für Holocaust-Relativierung im Coronaleugner:innen-Milieu, das Tragen steht inzwischen auch unter Strafe: Nein, wer sich nicht an gesellschaftlich ausgehandelte Regeln halten möchte, ist nicht in der gleichen Situation wie Menschen im „3. Reich“, die aufgrund einer zugeschriebenen religiösen Zugehörigkeit diesen Stern tragen mussten, der sie markierte, um sie ihrer Menschenrechte zu berauben und zu ermorden. Gleiches gilt für Aussagen wie „Ungeimpfte sind die Juden von heute“. (vgl. Belltower.News)
  • Impfungen mit Zyklon B gleichsetzen (machte zum Beispiel der ehemalige AfD-Politiker Stefan Bauer) – nein, eine Schutzimpfung ist nicht das gleiche wie das Gas, das in Konzentrationslagern zur massenhaften Ermordung von Jüdinnen und Juden eingesetzt wurde.
  • Auch sich mit Opfern des Nationalsozialismus gleichzusetzen ist eine Form von Holocaust-Relativierung. Etwa wenn Neonazi Sven Liebich mit dem „Tagebuch der Anne Frank“ am Holocaust-Mahnmal in Berlin posiert, ist dies einfach abgrundtief niederträchtig und Holocaust-Relativierung. Und auch das kleine Mädchen, das auf einer „Querdenken“-Demo auf Veranlassung der Eltern erzählte, es habe sich wie Anne Frank gefühlt, weil die Nachbarn im Lockdown nicht hören durften, dass es Geburtstag feierte, wurde so für eine Holocaust-Relativierung missbraucht (vgl. Stuttgarter Zeitung).

Relativierende NS-Vergleiche

  • Alle Diktatur-Zusammensetzungen („Merkel-Diktatur“, „Corona-Diktatur“ usw.) setzen die Schutz-Maßnahmen, die ein gewähltes demokratisches Parlament mit Abstimmungen beschließt, gleich mit selbstherrlich-autoritären Entscheidungen von Alleinherrschern. Das ist eine unangemessen Dramatisierung und schnell zu widerlegen: In einer echten Diktatur dürfen die „Andersdenkenden“ nämlich selten permanent demonstrieren, das Internet vollschreiben, eigene Medien vertreiben oder am Arbeitsplatz agitieren – was „Querdenker:innen“ aber permanent und demonstrativ tun.
  • Ein demokratisch gewähltes Parlament mit dem totalitären Regime des Nationalsozialismus gleichzusetzen, nur weil nicht die eigene Lieblingspartei die meisten Stimmen bekommt oder einem einige Entscheidungen nicht gefallen, ist ebenfalls eine Verharmlosung der NS-Diktatur. Demokratie beinhaltet Meinungsfreiheit, aber nicht das Recht darauf, immer mit der eigenen Meinung in der Mehrheit zu sein.
  • Die Darstellung von demokratischen Politiker:innen als NS-Befehlshaber oder Kriegsverbrecher:innen, etwa vor dem Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg, eine in radikalisierten Pandemieleugner-Kreisen beliebtes Motiv, das sich etwa in Memes von „Nürnberg 2.0“ niederschlägt. Damit wird die höchste emotionale Eskalationsstufe angewandt, die jede Form von Widerstand – auch mit Gewalt – legitimieren soll.
  • In diese Narration gehört auch, in Deutschland besonders beliebt, sich mit Widerstandskämpfer:innen gegen den Nationalsozialismus gleichzusetzen. Nein, wer zu drei „Querdenken“-Demonstrationen geht und „Studenten stehen auf“-Flyer verteilt, ist nicht Sophie Scholl, „Jana aus Kassel“ (vgl. Süddeutsche Zeitung). Aus ähnlichen Assoziationen werden auf Demonstrationen Zitate von expliziten Nazi-Gegner:innen wie Bertholt Brecht („Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“) oder Hannah Arendt („Niemand hat das Recht zu gehorchen“) getragen, um damit den Antisemitismus des eigenen Milieus zu verschleiern und sich selbst zu vergewissern, auf einer „guten“ Seite zu stehen. Nur dass der Denkfehler darin ist, dass Deutschland keine Diktatur ist.
  • Presse berichte „wie im 3. Reich“ – da gab es das NS-Schriftleitergesetz von 1933, das Journalist:innen ihrer Unabhängigkeit beraubte und die Presse gleichschaltete. Heute ist die Presse frei, der Journalistenberuf nicht reguliert, jede:r darf ihn ausüben – damit eine Gleichschaltung nie wieder möglich ist. Das heißt aber nicht, dass jede „Querdenken“-YouTuberin einen offiziellen Presseausweis bekommen muss – den heute übrigens Bundesverbände vergeben, nicht mehr der Staat (vgl. tagesschau.de).
  • Ein weiterer unangemessener Vergleich zur NS-Zeit: Die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes wurde u.a. von AfD-Abgeordneten als Ermächtigungsgesetz bezeichnet. Das Ermächtigungsgesetz übertrug am 24. März 1933 die gesetzgebende Gewalt de facto auf Adolf Hitler und ermöglichte so den Aufbau einer nationalsozialistischen Diktatur.

Mit all diesen NS-Vergleichen wird versucht, demokratische Politik zu dämonisieren und zu delegitimieren, sie also als unangemessen, nicht gewollt oder gar monströs gegen „das Volk“ gerichtet zu beschreiben. Es soll also eine Stimmung vermittelt werden, die jede Form von Aufstand und Gewalt gegen diese Praxis legitimiert. Es sind diese Erzählungen, die Menschen dazu bringen, bewaffnet auf als „Spaziergänge“ geframte Aufmärsche zu gehen.

Für die Überlebenden des Holocausts und deren Nachkommen sind die offenen NS-Relativierungen jedenfalls oft unerträglich: „Es schmerzt die jüdische Community, dass die Vernichtung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden in Zeiten des Nationalsozialismus und die Maßnahmen der Bundesregierung zur Pandemiebekämpfung als dasselbe angesehen werden“, berichtet etwa das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus. Es sei eine perfide Verhöhnung der Opfer des Nationalsozialismus (vgl. tagesschau.de).

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, hat die Wirkung der Holocaust-Relativierungen so beschrieben: „Die zunehmenden Vergleiche von Protestierenden gegen die Corona-Maßnahmen mit Opfern des Nationalsozialismus verhöhnen die tatsächlichen Opfer und relativieren die Schoah. Der Holocaust ist kein Abziehbild für jedwede Opfergefühle.“ Er betonte aber auch, wie gut und wichtig es sei, dass Holocaust-Relativierungen in der Gesamtgesellschaft immer wieder stark kritisiert werden: „Es zeugt von einem funktionierenden Wertesystem der demokratischen Mehrheit.“ (vgl. RND).

Deshalb der Rat an alle, die wirklich ganz im Ernst nur Kritik an Pandemiemaßnahmen üben wollen: Holocaust-Relativierungen und NS-Vergleiche diskreditieren und sorgen dafür, dass Kritik, die sich zu bedenken lohnen würde, nicht gehört wird.

 

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