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Jahresrückblick 2022 Hessen – Von „Atomwaffen Division“ über Polizisten bis Reichsbürger*innen

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Demonstration am 19. Februar 2022, dem zweiten Jahrestag des Anschlags in Hanau. (Quelle: Protestfotografie Frankfurt)

Im Jahr 2022 gab es in Hessen eine Reihe von Razzien bei extremen Rechten. Im Januar wurden bei einer Hausdurchsuchung in der ehemaligen Wohnung eines 37-Jährigen in Fulda Waffen- und Munitionsgegenstände sowie NS-Devotionalien gefunden.

Auch bei der bundesweiten Razzia in elf Bundesländern Anfang April dieses Jahres gegen Mitglieder*innen von „Combat 18“, „Atomwaffen Division“ und „Knockout 51“ wurde ein Verdächtiger im hessischen Rotenburg festgenommen. Einem Teil der Beschuldigten werden die versuchte Bildung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen, einem anderen Teil die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Ein weiterer Teil wird beschuldigt, „Combat 18“ trotz eines behördlichen Verbots weiter betrieben zu haben.

Ende Juni wurden in einem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main durch Einsatzkräfte des Hessischen Landeskriminalamtes bei vier Beschuldigten Durchsuchungsbeschlüsse vollstreckt. Bei den Beschuldigten handelt es sich um aktive Polizeibeamte des Polizeipräsidiums Frankfurt am Main. Gegen einen der vier Polizeibeamten wird aufgrund des Verdachts der Verwendung von Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen bis 2018 ermittelt. Den drei weiteren Beamten wird in diesem Zusammenhang Strafvereitelung im Amt, einem dieser Beamten zusätzlich die Verletzung des Dienstgeheimnisses, vorgeworfen.

Im Oktober führte das hessische Landeskriminalamt Hausdurchsuchungen in elf Wohnungen von Personen aus dem rechten Spektrum durch. Die Durchsuchungen fanden in den Landkreisen Marburg-Biedenkopf, Fulda, Bergstraße, Offenbach sowie im Vogelsbergkreis, im Main-Kinzig-Kreis und im Schwalm-Eder-Kreis statt. Den elf Tatverdächtigen zwischen 19 und 57 Jahren wurde unter anderem die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Bedrohung sowie Volksverhetzung vorgeworfen. Bei den Razzien wurden Mobiltelefone, Computer, Tablets, Schlagringe, eine kleinere Menge Marihuana und zwei Schreckschusswaffen sichergestellt.

Im November wurde eine Hausdurchsuchung im Kontext des „Thule Seminars“ in Waldeck-Frankenberg durchgeführt. Sichergestellt wurden zahlreiche Datenträger, Aktenordner und Publikationen. In dem bei der Kasseler Staatsanwaltschaft geführten Strafverfahren wird den Beschuldigten, zwei Männern im Alter von 70 und 75 Jahren sowie einer 73-jährigen Frau, vorgeworfen, rechtsextreme Schriften mit mutmaßlich volksverhetzendem Inhalt verbreitet zu haben.

Festnahmen in Hessen wegen Putschplänen von Reichsbürger*innen

Welche Gefahr von sogenannten „Reichsbürger*innen“ ausgeht, zeigten die bundesweiten Festnahmen wegen der Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung am 7. Dezember 2022: In Deutschland, Österreich und Italien wurden insgesamt 25 Mitglieder*innen oder Unterstützer*innen einer Reichsbürger-Vereinigung festgenommen, die einen Umsturz geplant haben soll.

Unter den Festgenommenen ist auch die aus Darmstadt stammende ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann, die zum Zeitpunkt ihrer Festnahme auch Beisitzerin im Bundesschiedsgericht der Partei war.

In Hessen gab es im Rahmen der Ermittlungen am 7. Dezember drei Festnahmen: In Heppenheim (Kreis Bergstraße) wurde Ruth Hildegard L. festgenommen. Die 68-jährige steckte tief in der rechtsesoterischen Szene, vertrieb im Eigenverlag Bücher über Astrologie, veröffentlichte auf ihrer Website hellseherische „Prognosen“ für die Zukunft und war der Ansicht, mit von ihr vertriebenen Produkten Krebs heilen zu können. Laut Medienberichten soll L. AfD-Mitglied gewesen sein und 2018 mit anderen versucht haben, einen AfD-Kreisverband in Heppenheim zu gründen, was wegen interner Streitigkeiten scheiterte. Auf einem mit ihr assoziierten Instagram-Kanal wimmelt es von AfD- und Reichsbürger*innen-Propaganda.

In Wetzlar-Dutenhofen (Lahn-Dill-Kreis) wurde Alexander Q. wegen Unterstützung der Vereinigung verhaftet. Er soll für die Gruppierung geworben haben. Der „Unternehmenscoach“ betrieb bis zu seiner Verhaftung einen Youtube- und einen Telegram-Kanal, letzterer mit 130.000 Abonnent*innen. Auf seinen Kanälen verbreitete er Fakenews und Verschwörungsideologien, insbesondere zu „Q-Anon“ und einem vermeintlichen „Deep State“.

Im Frankfurt Westend wurde der 72-jährige Heinrich XIII. „Prinz“ Reuß festgenommen. Der selbsterklärte „Prinz“, dessen Familie sich von ihm distanzierte, arbeitete zuletzt als Immobilienunternehmer und Finanzverwalter und besaß ein Schloss in Thüringen. Dort soll sich die Gruppe mehrfach getroffen haben. Er gilt als Kopf der Gruppierung und hätte im Fall eines erfolgreichen Staatsstreichs als neues Staatsoberhaupt in Deutschland eingesetzt werden sollen. Bereits in der Vergangenheit vertrat er bei Auftritten und Vorträgen offen die Reichsbürger*innen-Ideologie.

Laut dem Hessischen Rundfunk gab es daneben Durchsuchungen in Objekten von drei weiteren Personen, unter anderem im Hochtaunuskreis. Zwei Personen hiervon werden vom Generalbundesanwalt ebenfalls als Verdächtige geführt.

AfD in Hessen

Im März entschied das Verwaltungsgericht Köln, dass der Landesverband der Alternative für Deutschland (AfD) vom Landesamt für Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall beobachtet werden darf, da es Hinweise auf verfassungsfeindliche Betätigungen gäbe. Das Urteil betraf somit auch die hessische AfD als Teilstruktur des AfD-Bundesverbandes. Nachdem das Landesamt für Verfassungsschutz Anfang September öffentlich angekündigt hatte, die Beobachtung der Partei aufzunehmen, klagte die hessische AfD dagegen. Daraufhin beschloss das Verwaltungsgericht Wiesbaden im Oktober, dass die hessische AfD vorerst nicht mehr durch das Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet werden darf, bis über die entsprechenden Klagen endgültig entschieden wird.

Der Reservistenverband Hessen beschloss im Juni den Rechtsanwalt und AfD-Politiker Otto Baumann aus nordhessischen Gertenbach aus dem Verband auszuschließen. Als Vorsitzender der Reservistenkameradschaft Werra-Gertenbach ist er im Auftrag des Verteidigungsministeriums für die Betreuung von ehemaligen Bundeswehr-Angehörigen zuständig. Baumann saß jahrelang im Vorstand des Kreisverbandes der AfD im Werra-Meißner-Kreis. Laut Recherchen der Frankfurter Rundschau gehört er zu den 20 Erstunterzeichner*innen der „Erfurter Resolution“, die im März 2015 den Beginn des offen völkischen „Flügels“ der AfD um Björn Höcke kennzeichnete und 2020 offiziell aufgelöst wurde, nachdem sie durch den Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft wurde. Er soll auch aktiv bei Corona-Demonstrationen teilgenommen und sich in einer Telegram-Gruppe von Maßnahmengegner*innen verschwörungsideologisch geäußert haben. 2011/12 flogen in einer von ihm geleiteten Marschgruppe „Hürtgenwald“ drei Neonazis auf, darunter ein bekannter Aktivist der nordhessischen NPD. Baumann erhob mittlerweile Klage gegen den Ausschluss aus dem Reservistenverband.

Eine Initiative des hessischen Antisemitismusbeauftragten Uwe Becker fordert die Indizierung als jugendgefährdendes Medium des 2018 von dem Rechtsextremisten Björn Höcke veröffentlichten Buches „Nie zweimal in denselben Fluss“. Damit wären Verkauf, Verbreitung und Bewerbung des Buchs eingeschränkt worden und der der Vertrieb über Versandhandel untersagt. Die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz entschied sich nach einer Prüfung jedoch im September gegen die Indizierung. Obwohl Höckes Buch grundsätzlich die Voraussetzungen erfüllt, um auf den Index zu kommen, würde das Grundrecht auf Meinungsfreiheit in diesem konkreten Einzelfall überwiegen.

Die hessische AfD wählte im Oktober im nordhessischen Melsungen den Fraktionsvorsitzenden Robert Lambrou, gefolgt von Andreas Lichert, für die kommende Landtagswahl im Herbst 2023. Lichert gilt als Anhänger des offiziell aufgelösten völkischen „Flügels“ innerhalb der AfD. 2020 erwirkte er eine einstweilige Verfügung gegen seinen Parteikollegen Walter Wissenbach, nachdem er ihn in einer internen E-Mail als „stolzes Mitglied“ der als rechtsextrem eingestuften „Identitären Bewegung“ (IB) bezeichnet hatte. Nach einem Widerspruch urteilte das Gericht, dass es sich bei der Aussage um eine zulässige Meinungsäußerung handele. Bei der Aufstellungsversammlung für die Landtagswahl in Melsungen sagte Lichert in seiner Rede, er sei kein „stolzes Mitglied“ der IB, habe aber „starke Sympathien“, worauf er lauten Applaus erhielt. Laut Der rechte Rand trat er 2017 als Bevollmächtigter beim Kauf eines Hauses in Halle auf, das als Hausprojekt „Flamberg“ ein Stützpunkt der IB werden sollte. Seit Beginn von breitem Gegenprotest begleitet, wurde das Projekt letztendlich 2019 aufgegeben. Lichert war zudem 2005 bis 2018 Vorstand des Trägervereins des neurechten Thinktanks »Institut für Staatspolitik« um Götz Kubitschek.

In einer weiteren Rede während der Versammlung zur Landtagswahl kritisierte Walter Wissenbach in einer Rede die Politik bezüglich der Corona-Pandemie und dem Krieg gegen die Ukraine sowie Lügen, Intrigen und antidemokratische Tendenzen innerhalb der Partei und kündigte daraufhin seinen Austritt aus der Partei an. Auch der AfD-Abgeordnete Rainer Rahn verlässt die Landesfraktion. Die AfD ist nach den beiden Austritten nun nur noch mit 15 Abgeordneten im hessischen Landtag vertreten.

Querdenken

Im Jahr 2022 gab es im Vergleich zu den Jahren 2020 und 2021 weniger große Mobilisierungen im Querdenken-Spektrum, sondern viele kleinere sogenannte „Spaziergänge“ mit bis zu 300 Teilnehmer*innen in ganz Hessen. Diese Entwicklung nutzten die Querdenker*innen, um sich als besorgte Bürger*innen darzustellen, ihre Mobilisierung möglichst niedrigschwellig zu gestalten und weniger gefährlich zu wirken.

Die rechtsextreme Partei „Der III. Weg“ nutzte die Spaziergänge vermehrt für Flyerverteilaktionen und zeigte laut ihrer Website, insbesondere in Süd- und Westhessen, Präsenz. Teilweise kam es zu gewalttätigen Übergriffen gegen Pressevertreter*innen und Polizei aus den Reihen der Querdenker*innen.

In Frankfurt fand am 25. Juni eine Großdemonstration unter dem Titel „Million March“ statt, bei der viele führende Personen der Querdenker*innen-Szene anwesend waren. Laut Polizei nahmen ca. 5000 Personen an dieser Demonstration teil. Auf der Demonstration gab es vermehrt antisemitische und verschwörungsideologische Inhalte.

In Hessen fanden durch die sogenannten Spaziergänge Radikalisierungsprozesse bei den Teilnehmer*innen statt. 2022 wurden mehrere Lokalpolitiker*innen von Querdenker*innen bedroht. Bereits Ende 2021 wurde der Bürgermeister von Erbach und seine Familie bei Telegram bedroht. Nach Informationen des Hessischen Rundfunks soll es sich bei der Person, die die Bedrohung maßgeblich initiiert hat um einen früheren AfD-Kreistagsabgeordneten handeln, der auch in der „Querdenken“- und der Reichsbürger*innen-Szene zu verorten sei. Im Februar 2023 startet der Prozess gegen den Angeklagten. In Erbach verhärtete sich die Situation mit den Maßnahmengegner*innen schon 2021 nachdem eine Bäckerei aufgrund von Verstößen gegen die Schutzverordnungen geschlossen wurde. Sie öffnete trotz des Verbots wieder und bekam großen Zuspruch innerhalb der Querdenken Szene, auch berühmte Redner*innen wie Attila Hildmann äußerten sich dazu.

In Kassel gab es im Januar 2022 eine Bombendrohung während einer Stadtverordneten-Versammlung. In der Drohmail hieß es „Maskenpflicht, Testwahn, Impfzwang! Ihr habt dem Volk den Krieg erklärt. Den Krieg, den könnt ihr haben!“ Durch diese Rhetorik könnten die Verfasser*innen der Mail aus der Querdenken-Szene kommen, allerdings wurde dies bisher nicht aufgeklärt.
Auch in Frankfurt wurden 2022 mehrere Lokalpolitiker*innen bedroht, sowohl mit Drohbriefen, als auch durch öffentliche Diffamierungen bis hin zu Sachbeschädigungen.
In den Landkreisen Groß-Gerau und Darmstadt-Dieburg gab es mehrere Brandstiftungen an Corona-Testzentren.

Querdenker*innen planen Siedlungsprojekt

Aus dem Spektrum von Corona-Leugner*innen, Querdenker*innen und Verschwörungsideolog*innen gab es seit Beginn der Pandemie an verschiedenen Orten der Bundesrepublik den Versuch, eigene Siedlungs- und Schulprojekte zu gründen. Sowohl völkische Siedlungsbewegungen wie die rechtsesoterische „Anastasia-Bewegung“ erhalten vermehrt Zulauf als auch Gruppierungen aus dem Milieu der Reichsbürger*innen. Auch in Hessen gab es 2022 Versuche, Immobilien zu erwerben.

In Waldsolms in Mittelhessen versuchen Menschen aus dem Querdenker*innen-Milieu und dem Umfeld der Partei „Die Basis“, ein Wohnprojekt in einer ehemaligen Kaserne zu gründen. Etwa 100 Interessierte planen den Aufbau einer autarken Gemeinschaft mit eigener Währung auf dem 40.000 Quadratmeter großen Gelände. Der Kauf soll durch die Gründung einer Genossenschaft erfolgen. Die Gemeinde, die vom Vorhaben informiert ist, will den Verkauf des Grundstücks verhindern. Ob das Vorhaben der Gruppe gestoppt werden kann, ist vorerst noch unklar.

Antifeminismus und Queerfeindlichkeit

In Hessen stiegen 2022 queerfeindliche Angriffe an. Stand September 2022 wird von mindestens 21 Fällen ausgegangen, 2021 waren es für das gesamte Jahr 8 gemeldete Fälle. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen, da nur die Fälle dokumentiert werden, die entweder bei der Polizei zur Anzeige gebracht oder bei Beratungsstellen wie response gemeldet werden. Frankfurt war der lokale Schwerpunkt der queerfeindlichen Übergriffen, die sich meistens abends an zentral belebten Plätzen in der Innenstadt, während des CSDs oder der Dippemess ereigneten. Die meisten Angriffe gingen von jungen Männern aus und reichten von Pöbeleien, tätlichen Angriffen bis hin zu schweren Körperverletzungen wie zum Beispiel der Angriff auf die Drag Queen Electra im März 2022 in Frankfurt zeigte.

Auch in Kassel kam es zu queerfeindlichen Übergriffen. Im Zuge der documenta hat die Künstler*innengruppe „Party Office“ ihr Auftritt-Programm vorzeitig abgebrochen, da die Mitglieder*innen transfeindlich beleidigt und bedroht wurden. Auch bei dem Versuch, die Straftaten anzuzeigen, kam laut den Betroffenen vonseiten der Sicherheitsbehörden keine Hilfe und auch keine besonderen Schutzmaßnahmen.

Antifeminismus als Scharnier zwischen der bürgerlichen Mitte und der extremen Rechten wurde wieder am jährlich stattfindenden „1000 Kreuze Marsch“ in Fulda deutlich, bei dem christliche Fundamentalist*innen für das „Seelenwohl“ ungeborener Kinder, die abgetrieben wurden, beteten. Die Organisation „Europrolife“ veranstaltet in Frankfurt ebenfalls regelmäßig Bet-Aktionen vor pro-familia. Sie versuchen Frauen daran zu hindern, sich über die Möglichkeiten einer Abtreibung zu informieren. Ein weiterer Akteur im Kontext Lebensrecht ist „Alfa – Aktion Lebensrecht für Alle e.V.“, die ebenfalls mit Schwerpunkt in Osthessen aktiv sind und für den „Marsch für das Leben“ nach Berlin mobilisierten.

Streit um documenta-Kunstwerke

Im Februar erschien auf einem Kasseler Blog ein Beitrag, in dem Mitwirkenden und Kurator*innen der für den Sommer geplanten „documenta fifteen“ Nähe zur internationalen Israel-Boykottkampagne BDS und potenziell antisemitische Haltungen vorgeworfen wurde. Dies wurde von Seiten der documenta-Leitung bestritten und als rassistisch bezeichnet.

Als die Ausstellung im Juni dann eröffnet wurde und ein großes Banner klar antisemitische Zeichnungen enthielt, war die Aufregung groß und sollte bis zum Ende der documenta im September nicht mehr abreißen. Veranstaltungen zum Thema wurden angekündigt und wieder abgesagt, Berichte in bundesweiten Medien entdeckten immer neue umstrittene Kunstwerke. Einzelne Kasseler zivilgesellschaftliche Organisationen kündigten die Zusammenarbeit mit der documenta auf, andere kritisierten eine „übertriebene“ Medienkampagne. Kurz gesagt endete die Ausstellung, ohne dass der Konflikt um Antisemitismus, Israelkritik, Rassismus und Kunstfreiheit irgendwie bearbeitbar schien. Für die Zukunft in Kassel und in der internationalen Kunstszene bleibt man lokal etwas ratlos zurück: Wie können solche Konflikte in der Zukunft geführt werden, wenn es noch nicht mal bei einer Kunstaustellung, die sich auf die Fahnen geschrieben hatte, auf Augenhöhe unterschiedliche Positionen zu verhandeln, möglich war? Zwar gab es im Anschluss einige Bekundungen aus Politik und Kultur, unterschiedliche Sichtweisen um Kolonialgeschichte, Antisemitismus und Israelkritik nochmal aufzuarbeiten, bislang geschah dies aber in Kassel praktisch gar nicht.

„Scheiteljugend“ in Kassel

Die „Scheiteljugend“ ist eine extrem rechte Gruppe, die Ende 2021 erstmals öffentlich in Erscheinung getreten ist. Die Mitglieder*innen geben sich martialisch und gewaltbereit. Sie arbeiten mit geschichtsrevisionistischen Graffitis und Beiträgen. Hauptstandort ist Kassel, obwohl sich die Gruppe auf die Region Nordhessen beruft. Sie treten anonym auf, indem sie ihre Gesichter mit weißen Strumpfmasken verbergen. Bei Betrachtung der Menschen, die der „Scheiteljugend“ bei Instagram folgen, wird erkenntlich, dass sich die Follower*innen in einem Alter zwischen 18-30 bewegen. Auffällig ist die hohe Anzahl an NPD-Funktionär*innen und Parteimitglieder*innen.

Außerdem gibt es zahlreiche Verbindungen nach Ostdeutschland. Auf Telegram sowie auf Instagram geschieht ein unverhohlenes Anwerben von Mitgliedern. Dabei bietet die Gruppe eine E-Mail-Adresse an, durch die ein Erstkontakt hergestellt werden kann. In den Hashtags, die die Gruppe bei Instagram verwendet, kommt der Zahlencode 341 vor, wonach man auf die KSV-Hooligans-Szene in Kassel schließen kann. Die „341-Hooligan“s sind die jüngere Generation der KSV-Hooligans, die schon seit Jahren als rechtsextrem gelten. Am 20. April gab es eine Wanderung in Nordhessen, mit der die „Scheiteljungend“ mutmaßlich zu Gedenken an Adolf Hitler ein Zeichen setzen wollte. Außer einem Graffiti mit der Nachricht „Kein Vergeben – Kein Vergessen. Kassel 22.Oktober 1943“ trat die „Scheiteljugend“ dabei nicht weiter in Erscheinung.

Urteil im Prozess wegen NSU 2.0 Drohschreiben

Im Jahr 2022 ging der Gerichtsprozess in Frankfurt gegen den Berliner Alexander Horst M. wegen der Serie der mit „NSU 2.0“ unterschriebenen Drohschreiben zu Ende. Zwischen August 2018 und M.‘s Verhaftung im Mai 2021 wurden über hundert Drohschreiben per Fax, E-Mail und SMS mit dem Kürzel als Anspielung auf den rechtsterroristischen Nationalsozialistischen Untergrund verschickt. Das erste Drohschreiben erhielt die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, das persönliche Daten ihrer Familie und übelste rassistische Beleidigungen und Gewaltandrohungen gegen ihr Kind enthielt.

Die persönlichen Daten von ihr und ihrer Familie waren kurz zuvor in verschiedenen Datenbanken vom ersten Polizeirevier in der Frankfurter Innenstadt abgerufen worden, weswegen die Absender*in der Drohschreiben unter Mitarbeitenden der Polizei vermutet wurde. In jenem ersten Revier flog auch eine Chatgruppe auf, in der die Beamt*innen extrem rechte Inhalte austauschten. Das öffentlich Werden der Drohserie war der Anfang des hessischen Polizeiskandals, in der immer mehr und mehr extrem rechte Gruppen in der hessischen Polizei bekannt wurden. Von der Drohserie war nicht nur Başay-Yıldız betroffen, sondern dutzende Journalist*innen, Politiker*innen und andere Personen des öffentlichen Lebens, die sich gegen die extreme Rechte engagieren oder hierzu berichten. Insbesondere von Rassismus betroffene Personen und Frauen* zählten zu den Betroffenen.

Seit Februar stand vor dem Landgericht Frankfurt Alexander M., der von der Staatsanwaltschaft als Absender der Drohschreiben ausgemacht wurde. Grundlage waren ein Gutachten, das sprachliche Gemeinsamkeiten von einigen seiner Accounts auf rechten Websites mit den Drohschreiben erkannte sowie Fragmente der Drohschreiben auf seinem Computer. Das Gericht überzeugten diese Beweise: Am 17. November verurteilte es Alexander M. wegen der Drohserie, dem Besitz illegaler Waffen sowie kinderpornografischen Materialien zu einer Haftstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten. Allerdings stellte das Gericht klar, dass es nicht abschließend hatte klären können, wie Alexander M. an die teils gesperrten persönlichen Daten der Betroffenen und ihrer Familien herankommen konnte.

Freispruch im Prozess um Waffenverkauf

Der Waffenhändler Elmar J. vom Landgericht Paderborn vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. J. war angeklagt worden, weil er dem Neonazi Stephan E. die Waffe verkauft haben soll, mit er den Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke erschossen hatte. Man habe ihm in der Verhandlung nicht zweifelsfrei nachweisen können, die Tatwaffe verkauft zu haben. Stephan E. hatte von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch gemacht.

Prozess in Fritzlar gegen extrem rechtes „Thule-Seminar“

Wegen gemeinschaftlicher Volksverhetzung wurden der Gründer und zwei weitere Vorstandsmitglieder des extrem Rechten „Thule-Seminars“ zu einer Geldstrafe von 7200 Euro verurteilt. Die Staatsanwaltschaft warf den drei Angeklagten die Herausgabe eines Taschenkalenders im Jahr 2016 vor, in dem zu einem Rachefeldzug gegen die angebliche „Ausrottung der Deutschen“ durch Masseneinwanderung aufgerufen wurde und in dem Geburtstage zahlreicher NS-Funktionäre, SS-Offiziere und „Rasseforscher*innen“ verzeichnet waren.

Prozess gegen „Druiden“ Burghard B.

Im Januar 2022 begann vor dem Landgericht Mannheim der Strafprozess gegen vier Angeklagte, die dem „Reichsbürger*innen“-Milieu zugerechnet werden können, darunter der aus dem hessischen Grebenstein stammende Karl Burghard B. Als selbsternannter Druide „Burgos von Buchonia“ postete er seit über einem Jahrzehnt rassistische, antisemitische, antimuslimische und verschwörungsideologische Inhalte im Internet und beteiligte sich an verschiedenen politischen Veranstaltungen der extrem rechten Szene. Er trat bei verschiedenen rechten Protesten, wie PEGIDA Frankfurt und Reichsbürger*innen-Kundgebungen auf und soll u.a. Kontakte zu NPD und „Anastasia-Bewegung“ haben.

Bereits 2017 ermittelte die Staatsanwaltschaft wegen Terrorverdachts, nachdem bei einer Hausdurchsuchung bei den Beschuldigten Waffen, Sprengstoff und Munition gefunden wurden. Zusätzlich musste B. sich gegenüber dem Vorwurf der Volksverhetzung verantworten. Mit seinen Äußerungen in Online-Foren hat er den Holocaust geleugnet, die NS-Zeit verherrlicht, zum Mord an Jüd*innen aufgerufen und gegen flüchtende Menschen gehetzt. Der einzige Zeuge im Prozess, ein Beamter des LKA, ordnete B. der Reichsbürger*innen-Szene zu. Das Gericht entschied trotz dieser Ereignisse, dass sich der Vorwurf der Bildung einer terroristischen Vereinigung nicht bestätigen würde, da die Gruppe der Ansicht gewesen sein soll, „sich zum Selbstschutz gegen den – aus ihrer Sicht in diesem Zeitraum drohenden – Zusammenbruch der staatlichen Ordnung bewaffnen zu müssen.“ Die drei Mitangeklagten erhielten Haftstrafen zwischen drei und 18 Monaten, Karl Burghard B. wurde erhielt ein Jahr und neun Monaten Haft auf Bewährung. Für die Volksverhetzung und die Holocaustleugnung wurde er zu einer Geldstrafe von 1.300 Euro verurteilt.

Prozess gegen Bundeswehrsoldaten Tim F.

In den letzten Jahren wurden mehrere rechtsextreme Netzwerke sowie Einzelpersonen in den Sicherheitsbehörden aufgedeckt. Vor dem Landgericht in Frankfurt am Main begann im Juni der Prozess gegen den ehemaligen Bundeswehrsoldaten Tim F., seinen Bruder Robin F. und den Vater Bernd F. Im Februar 2021 wurden im Wohnhaus der Angeklagten im hessischen Glashütten neben Waffen, Munition und Sprengstoff auch ein rechtsextremes Manifest des Hauptangeklagten Tim F. gefunden. Laut Anklageschrift der Staatsanwaltschaft soll er geplant haben, eine Kampfgruppe nach Vorbild der Nationalsozialist*innen aufzubauen, einen Bürger*innenkrieg auszulösen, den Bundestag zu stürmen und Migrant*innen sowie Politiker*innen zu ermorden. Dem Bruder Robin F. und seinem Vater Bernd F. wird eine Mittäterschaft vorgeworfen. Alle drei sitzen seit Februar 2021 in Untersuchungshaft. Zudem musste Tim F. sich wegen Körperverletzungen und Beleidigungen gegen seine Ex-Freundin verantworten. Laut Staatsanwaltschaft soll er zuletzt als Stabsdienstsoldat mit dem Dienstgrad Hauptgefreiter in Pfullendorf in Baden-Württemberg stationiert gewesen sein. Bereits 2016 soll er damit begonnen haben, sein Weltbild in einem rechtsextremen Manifest aufzuschreiben. Im April 2021 wurde er aus der Bundeswehr entlassen. Das Gerichtsurteil steht noch aus.

Urteil gegen extrem rechten Bundeswehrsoldaten Franco A.

Anfang August ging nach über einem Jahr und knapp 40 Verhandlungstagen der Prozess gegen den aus Offenbach stammenden extrem rechten Bundeswehrsoldaten Franco Albrecht zu Ende. Albrecht wurde zu einer Haftstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Angeklagt war er nicht nur wegen des Besitzes verschiedener Waffen und Kriegswaffen, die zum Teil bis heute nicht aufgetaucht sind, sondern auch, weil er mit einer Tarnidentität als Geflüchteter aus Syrien Anschläge auf Politiker*innen und Aktivist*innen geplant haben soll. Deswegen wurde Albrecht bereits 2017 festgenommen, kam jedoch nach sieben Monaten Untersuchungshaft wieder frei. Anfang 2022 wurde er erneut bis zum Prozessende festgenommen, da er Beweismittel aus Frankreich abholte und bei einer Kontrolle hierzu massiven körperlichen Widerstand gegen die Polizist*innen leistete.

Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt verwarf zwar den Vorwurf, Albrecht hätte sich seine Tarnidentität als Syrer „David Benjamin“ zugelegt, um einen „false flag“-Anschlag zu begehen, sah jedoch die Anklage wegen der Vorbereitung einer „schweren staatsgefährdenden Gewalttat“ ansonsten als begründet an: Albrecht habe einen festen Entschluss dazu gehabt, aus einer rechtsextremen, nationalistischen und antisemitischen Gesinnung heraus Politiker*innen und Aktivist*innen zu töten und alle notwendigen Vorbereitungen hierfür getroffen.

Prozess wegen der Gründung einer hessischen „Atomwaffendivision“

Ebenfalls vor dem OLG Frankfurt steht seit dem 2. August der 20-jährige Marvin E. aus dem nordhessischen Spangenberg. E. wurde 2021 verhaftet, weil auch er aus einer extrem rechten Gesinnung heraus Terroranschläge geplant und einen hessischen Ableger der rechtsterroristischen „Atomwaffendivision“ (AWD) zu gründen versucht haben soll. Wie die Kasseler Antifagruppe „TASK“ berichtete, kandidierte Marvin E. 2021 bei der Kommunalwahl noch für die Spangenberger CDU.

Die AWD ist eine aus den USA stammende rechtsterroristische Gruppe, die sich durch ein offenes Bekenntnis zum Nationalsozialismus und massive Gewaltauszeichnet. In den USA töteten mehrere ihrer Mitglieder*innen Menschen. In Hessen tauchten an der Universität Frankfurt 2019 Flugblätter der Gruppe auf, deren Anhänger*innen sich hauptsächlich in Chatgruppen vernetzen.

Im Prozess vor dem OLG Frankfurt gibt sich E. weitgehend geständig. So gibt er zu, einen hessischen Ableger der AWD gründen haben zu wollen. Hierfür versuchte er, Freunde und Mitschüler anzuwerben, schickte an diese Propagandavideos, plante Plakataktionen in Kassel und stellte selbst Abzeichen der AWD her, die er in einem Onlineshop verkaufen wollte. Für einen Anschlag baute er sich selbst aus Böllern und Alltagsgegenständen Bomben. Neben 600 eher kleinen Knallkörpern baute er auch mehrere mit Stahlkugeln gefüllte Bomben, deren Wirkung verheerend gewesen wäre. Er soll unter anderem Anschläge auf Juden und Muslime geplant haben. Aber auch einen Sprengstoffanschlag in einer Schule war laut E. eine seine Überlegungen. Mit einem Urteil wird im ersten Halbjahr 2023 gerechnet. Dann wird sich auch erst entscheiden, ob Marvin E. als Jugendlicher verurteilt werden wird oder nicht.

Revisionsentscheidung am Bundesgerichtshof zum Lübcke-Prozess

Die Monitoring Seite der Betroffenenberatung Response, hessenschauthin.de, berichtet über den Revisionsprozess in Nürnberg: Am 28. Juli 2022 wurde vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe die Revision der Nebenkläger*innen, der Generalbundesanwaltschaft, sowie der beiden Angeklagten Stephan E. und Markus H. gegen das Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt zum Mord am damaligen Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am 01. Juni 2019 und zum rassistisch motivierten Angriff auf den Nebenkläger Ahmed I. am 06.01.2016 verhandelt.

Alle am vorangegangenen Prozess Beteiligten hatten gegen das Anfang 2021 gefällte Urteil Revision eingelegt. Im Falle von Ahmed I. sind sowohl er selbst und sein Nebenklageanwalt Alexander Hoffmann als auch der Generalbundesanwalt davon überzeugt, dass Stephan E. für die Tat verantwortlich ist. Stephan E. wurde vor dem OLG Frankfurt von dem rassistisch motivierten Messerangriff auf Ahmed I. freigesprochen, während er für den Mord an Walter Lübcke für schuldig befunden wurde.

Lübcke-Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag

Der Untersuchungsausschuss zum Mord an Walter Lübcke ergab, dass zum einen wichtige Informationen und Erkenntnisse über die Gefährlichkeit von Neonazis in der nordhessischen Region des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz nicht an die Behörden weitergegeben wurden. So berichteten ehemalige Mitarbeiter*innen des Landesamtes im Untersuchungsausschuss, dass der Verfassungsschutz die Neonazi-Szene nicht gut einschätzen konnte.

Der Nebenkläger im Lübcke-Prozesses Ahmed I. betonte nochmal, er wäre bei den Vernehmungen durch die Polizei damals nicht ernst genommen worden, als er bereits damals den Hinweis gab, dass es sich bei dem Täter vermutlich um einen Neonazi gehandelt haben könnte. Auch die beiden damaligen Angeklagten Neonazis waren vorgeladen, beriefen sich aber in weiten Teilen auf ihr Aussageverweigerungsrecht.

Untersuchungsausschuss zum Anschlag in Hanau

Im Februar 2023 jährt sich der rassistische Anschlag von Hanau zum dritten Mal. Ein extrem rechter Verschwörungsideologe hatte am 19. Februar 2020 neun Menschen aus rassistischen Motiven umgebracht, bevor er seine Mutter und sich selbst tötete. Auf Druck der „Initiative 19. Februar“, in der sich Angehörige der Ermordeten, Überlebende und Unterstützer*innen organisieren, begann Ende 2021 ein Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag mit öffentlichen Sitzungen. Der Ausschuss soll klären, ob und wenn ja welche Handlungen der Behörden dazu führten, dass der Anschlag geschehen konnte.

Bisher konnte der Ausschuss jedoch nur wenig Licht ins Dunkel bringen: Lediglich einzelne Detailfragen konnten abschließend geklärt werden. Stattdessen sind neue Fragen und erschreckende Erkenntnisse hinzugekommen: Schon vorher wurde bekannt, dass nicht nur der Notruf in Hanau über fast zwanzig Jahre hinweg keine Weiterleitung von Notrufen besaß und wegen Personalmangels nicht immer ausreichend besetzt war. Die befragten Polizist*innen vom ersten Hanauer Revier erklärten im Ausschuss, selbst nichts hiervon gewusst zu haben und immer angenommen zu haben, nicht angenommene Notrufe würden weitergeleitet werden.

Widersprüche zeigen sich zudem am verschlossenen Notausgang der Arena-Bar, dem zweiten Tatort in Hanau. Überlebende sagten aus, hätten sie gewusst, dass der Notausgang offen gewesen sei, wären sie dorthin gelaufen. Ein von ihnen in Auftrag gegebenes Gutachten von „Forensic Architecture“ kommt zu dem Schluss, dass in dem Fall alle überlebt hätten. Die Staatsanwaltschaft kam dagegen zu dem Schluss, dass in dieser Situation niemand zum Notausgang gerannt wäre und stellte die Ermittlungen hierzu ein.

Öffentliche Sitzungen mit der Anhörung von Zeug*innen werden im Untersuchungsausschuss noch bis Frühsommer 2023 stattfinden. Im Herbst, kurz vor der anstehenden Landtagswahl, wird der Ausschuss einen Abschlussbericht veröffentlichen.

Zugleich beschäftigt der Vater des Täters von Hanau, der große Teile der Ideologie seines Sohnes zu teilen scheint, Angehörige und Stadtgesellschaft weiterhin: Er bedrohte Kinder einer Schule in Hanau und stand vor dem Haus Angehöriger der Mordopfer seines Sohnes. Die Bildungsinitiative „Ferhat Unvar“ veranstaltete daher eine Kundgebung, um vor dem Psychoterror der „tickenden Zeitbombe“ zu warnen.

Die Nebenklägerinnen Seda Başay-Yıldız und Martina Renner von der Linkspartei zeigten sich zufrieden mit der Verurteilung von Alexander M., stellten jedoch klar, dass die Drohserie damit noch nicht aufgeklärt sei und die mutmaßliche Verstrickung Frankfurter Polizist*innen weiter aufgeklärt werden müsse. Zuvor hatten ihre Anwältinnen im Prozess eine Reihe an Indizien präsentiert, die nahelegen, dass zumindest das erste Drohschreiben von dem Frankfurter Polizisten Johannes S. verschickt worden sein muss.

Festnahme Bastian A. von „Knockout 51“

Im April wurden vier Personen der extrem rechten Krampfsportgruppe „Knockout 51“ aus dem thüringischen Eisenach verhaftet, sowie bundesweit bei 46 weiteren Personen Haushalte durchsucht. Unter den Verhafteten ist auch der im Landkreis Fulda wohnende Bastian A., dem der Generalbundesanwalt eine Führungsrolle in der Gruppe zuschreibt. Zudem besteht gegen Bastian A. der dringende Tatverdacht wegen gefährlicher Körperverletzung und einem tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte. A. sitzt weiterhin in Untersuchungshaft.

Rechte Chatgruppen bei der hessischen Polizei

Am 9. Juni 2021 wurde das hessische SEK aufgelöst. Der Grund waren Chatgruppen, in denen rechtsextreme, verfassungsfeindliche und NS-verherrlichende Inhalte geteilt wurden. Diese wurden erst in den Ermittlungen zu den NSU 2.0 Drohbriefen aufgedeckt.

Im Laufe des Prozesses stellt sich heraus: Es gab 67 rechte Chatgruppen. Neben dem Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und Volksverhetzung wurden auch kinderpornografische Inhalte geteilt. Die Chatgruppe wurde 2014 gegründet und beinhaltete in 102 Fällen rassistische, antimuslimische, antisemitische, homophobe und holocaustverleugnende Beiträge. Konkret waren es 5 Polizist*innen, die anschließend vom Dienst befreit wurden und gegen die ermittelt wird. Ein weiterer Skandal folgte im Mai 2022, als aufgedeckt wurde, dass ein Beamter schon 2018 wegen dem Verbreiten von NS-Symbolen angezeigt wurde. Der Leiter einer Fahndungsgruppe und ein Dienststellenleiter im Frankfurter Polizeipräsidium erfuhren zwar von dem Hinweis, doch statt diesem nachzugehen, vertuschten sie es und warnten den Beamten. In drei Fällen wird wegen Strafvereitlung ermittelt.

Im April 2022 berichtet die Hessenschau, dass erneut Informationen über rechte Chatgruppen aus den Jahren 2019 und 2020 gäbe. Diese wurden im Laufe eines Mobbingfalls im Kollegium aufgedeckt. Der Name dieser Gruppe lautete „Wolfsschanze“. „Wolfsschanze“ wurde das Hauptquartier von Adolf Hitler im 2. Weltkrieg genannt, was einen rechtsextremen Charakter der Gruppe vermuten lässt.

Erneut zu einem Skandal kam es im Juli 2022, als über Messenger-Chatgruppen aus dem Jahr 2017 und 2018 berichtet wurde, in denen fünf aktiven Beamten des südhessischen Polizeipräsidiums in Darmstadt vorgeworfen wird Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen verwendet zu haben. Diese Informationen kämen dieses Mal von einem Polizisten, der die Inhalte der Chats aufgedeckt hatte. Drei dieser Personen seien Teil der mittleren Führungsebene. Einer dieser Polizisten war sogar dafür zuständig, interne Straftaten aufzudecken und aufzuklären. Ihnen wird zusätzlich dazu Strafvereitelung im Amt und Geheimnisverrat vorgeworfen, da sie Beweismaterial gelöscht haben sollen. Einem anderen Beamten wird noch dazu die Verletzung des Dienstgeheimnisses vorgeworfen. Die fünf Beamten wurden von ihrem Amt suspendiert und ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Die Oppositionsparteien SPD, FDP und die Linke haben nach der Aufdeckung umfassende Anträge zur Aufarbeitung gestellt.

Rechte Sachbeschädigung

In Hessen kam es im Jahr 2022 zu zahlreichen rechtsextremen Graffitis. So fiel Anfang des Jahres vermehrte rechte Schmierereien in Frankfurt-Höchst und im Kreis Offenbach auf. Zu sehen waren neben Nazi-Codes verschwörungsideologische Inhalte und Hakenkreuze. Auch im Schwalm-Eder-Kreis, Eschborn, Dreieich, Dillenburg, Darmstadt, Korbach, Gießen und Gladenbach gab es auf Motorhauben, Mauern und Brücken Hakenkreuzschmierereien. Auffällig ist eine Serie an Hakenkreuzschmierereien im Kreis Marburg-Biedenkopf. In Cölbe wurde im März ein Gemälde und kurz darauf eine Wohnungstür und ein Wasserhochbehälter beschmiert. Zudem wurden in Stadtallendorf mehrere Hakenkreuzschmierereien gesichtet.

In Marburg fand man auf Spielplätzen, Garagentoren, Straßenschildern und Schulgebäuden Graffitis mit rassistischen Symbolen. In Kirchhain wurde das Rathaus mit einem Hakenkreuz beschmiert. Dazu wurde im gleichen Zeitraum ein Straßenschild entdeckt was mit verfassungsfeindlichen Zeichen beschmiert wurde. Weitere Nazi-Graffitis gab es in Heppenheim, Kelsterbach, Bürstadt, Kassel und Alsfeld. Auch in Kassel wurden an der Uferpromenade und an Betriebsgebäuden des Hauptfriedhofs und anderen Orten in der Stadt mehrere Nazisymbole gesprayt. Zudem konnten zwei Jugendliche überführt werden, die auf einen Kasseler Fußweg und Hakenkreuze und das Wart „Heil“ gesprüht haben. Dazu tauchten Aufkleber mit der Aufschrift „Nationalsozialistische Jugend Kassel“ auf. Außerdem vertreibt und verbreitet die Kasseler Gruppierung „Scheiteljugend“ regional Sticker die unter dem Pseudonym „aktivkleber“ laufen. Im Oktober kam es zu einer Aktion in Kassel in der 34 Garagentore mit rechten Symboliken beschmiert wurden.

Auch im Lahn-Dill-Kreis wurden Hakenkreuzschmierereien entdeckt. So wurden in Herborn, Mittenaar-Offenbach, Ehringshausen und in Wetzlar Hakenkreuze an Brücken gesprayt. Außerdem ritzten Unbekannte verfassungsfeindliche Zeichen in eine Mauer in der Schlossstraße. In Dillenburg wurde ein Hakenkreuz in die Rathaustür geritzt und Hakenkreuze an den Bahnhof, an einen Brückensockel und an die Fassade einer Grundschule geschmiert. Im Odenwaldring in Offenbach gab es eine große Aktion, in der 135 Hakenkreuze, die Aufschrift „NSU 3.0“ und weitere rassistische Inhalte an eine Paketstation gesprayt wurden. Kurz danach gab es im Odenwaldring weitere Sachbeschädigungen, die rechtsextremistisch motiviert waren. Laut einem Bericht von Osthessen News haben Unbekannte den Zahlencode „88“ auf der Anzeigetafel erscheinen lassen. Eine rechtsradikale Großaktion fand auf Bauwagen-Plätzen in Rommerz, Hauswurz und Brandlos im Landkreis Fulda statt. Dort wurden die Bauwagen beschädigt, verwüstet und mit Hakenkreuzen beschmiert. Noch dazu zündeten sie einen Bauwagen an und stahlen Gegenstände im Wert von mehreren Tausend Euro.

Auch in Fulda wurden Hakenkreuzschmierereien gesichtet. So in einem Einkaufszentrum und auf der Fassade einer Fuldaer Schule. Besonders auffällig ist das Aufkommen von rechtsextremen verschwörungsideologischen Aufklebern in Fulda. Diese wurden auf Spielplätzen, in Parks, am Bahnhof, auf dem Campus der Hochschule und auf Straßenschildern über die ganze Stadt verteilt. Teilweise konnte man die Aufkleber auf die AfD-Jugendorganisation Junge Alternative zurückführen.

Antisemtische und verschwörungsideologische Aufkleber gab es auch in der Offenbacher Innenstadt und im Landkreis. Außerdem gab es zahlreiche rechte Graffitis, wie zum Beispiel verfassungsfeindliche Zahlencodes in Dreieich, Mühlheim, Langen und Bieber. Ähnliche Schmierereien wurden vereinzelt in Bad Nauheim, Echzell, Nidda, Ortenberg, Witzenhausen, Bad Hersfeld und Bad Nauheim gesichtet. Frankfurt ist bezüglich rechtsmotivierter Schmierereien hessenweit aufgefallen, da es zu häufigen Vorfällen gekommen ist. So wurden über das ganze Jahr verteilt wiederholt Graffitis mit antisemitischen und verschwörungsideologischen Inhalten, Aufkleber mit der Aufschrift „Weiß ist bunt genug“ oder Hakenkreuzgraffitis aufgefallen. In den Stadtteilen Nied und Höchst sind noch dazu Graffitis mit „NSU“ und „NSU 2.0“ gesichtet worden. Wie in den Jahren davor haben Rechtsextreme im Juli in Frankfurt und Umgebung eine „Schwarze Kreuze“-Aktion gestartet, in der ein Gedenktag für Opfer vermeintlicher „Ausländergewalt“ inszeniert wird.

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