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„Turonen“ Organisierte Kriminalität, Crystal Meth und rechtsextreme Gewalt vor Gericht

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Biker-Nazis im Drogengeschäft: Die "Turonen"
Biker-Nazis im Drogengeschäft: Die "Turonen" (Quelle: Kai Schwerdt/CC BY-NC 2.0)

2014 überfällt eine Gruppe Neonazis eine Kirmesgesellschaft im thüringischen Ballstädt. Elf Menschen werden bei dem brutalen Angriff teils schwer verletzt. 2017 werden zehn der Angreifer am Landgericht Erfurt wegen schwerer Körperverletzung zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Ein rechtes Tatmotiv erkennt das Gericht nicht an. In Erwartung der baldigen Haft organisiert der Haupttäter Thomas Wagner 2018 ein Abschiedskonzert in Kirchheim. Dort tritt er mit einer der Rechtsrock-Bands auf, in denen er aktiv ist, dem „TreueOrden“. Die Liedtexte sind eindeutig antisemitisch. Katharina König-Preuss, Thüringer Landtagsabgeordnete (Die Linke) und langjährige Beobachterin der extrem rechten Szene, erstattet daraufhin mehrere Anzeigen. Die Verfahren werden allesamt eingestellt. Man könne davon ausgehen, dass die Angezeigten von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen würden, und lade sie deswegen gar nicht erst vor.

Die Haftstrafen antreten müssen Thomas Wagner und seine Mittäter letztendlich nicht. Der Bundesgerichtshof hebt das Urteil des Landgerichts Anfang 2020 wegen Formfehlern auf. Der Fall wird 2021 in Erfurt neu verhandelt. Das Ergebnis: Im Gegenzug dafür, dass sie ein Geständnis ablegen, kommen die Neonazis mit Bewährungsstrafen davon. Franz Zobel von der Opferberatungsstelle ezra beschreibt den Eindruck, den der Ballstädt-Prozess hinterlässt: „Neben der Nichtanerkennung des rechten Tatmotivs und einem Deal mit aktiven und militanten Neonazis brauchte es zudem acht Jahre, bis eine rechtskräftige Verurteilung der Täter*innen stattfand. Damit ist der Prozess bundesweit zu einem Symbol für das massive Problem der Thüringer Justiz im Umgang mit rechtsmotivierten Straftaten geworden.“

Seit dem 29. Juni 2022 steht Thomas Wagner wieder in Erfurt vor Gericht. In anderer Sache: Er und acht weitere Beschuldigte aus dem Umfeld der „Turonen“ müssen sich unter anderem wegen Drogenhandels, schwerer Zwangsprostitution und Geldwäsche verantworten. Die „Turonen“ traten 2015, also im Jahr nach dem Ballstädt-Überfall, erstmals in Erscheinung, damals noch unter dem Namen „Bruderschaft Thüringen“. Thomas Wagner war neben Steffen Richter einer der Anführer, beide waren bereits seit Mitte der Neunzigerjahre in der Neonaziszene aktiv.

Anfangs betätigte sich die als elitär und eingeschworen beschriebene Gruppe mit ihrer Unterstützer-Organisation, der „Garde 20“, vor allem im Rechtsrock-Milieu. So wurden unter anderem die großen Neonazikonzerte in Unterwasser in der Schweiz und im thüringischen Themar maßgeblich von den „Turonen“ organisiert. Nachdem jedoch mehrere Konzerte verboten beziehungsweise aufgelöst worden waren und Großveranstaltungen im Zuge der Corona-Pandemie als Einnahmequelle schließlich ganz wegfielen, verlagerte die Bruderschaft ihre Tätigkeiten zunehmend in den Bereich der Organisierten Kriminalität. Die „Turonen“ wandelten sich zur „Nazimafia“. Heute sagt Katharina König-Preuss: „Wenn der Ballstädt-Prozess schneller stattgefunden hätte und das Urteil im ersten Prozess nicht fehlerhaft gewesen wäre, dann wäre es gar nicht erst zu diesen kriminellen Aktivitäten, die jetzt vor Gericht verhandelt werden, gekommen.“

Im Februar 2021 werden bei einer groß angelegten ersten Razzia sieben Männer und zwei Frauen festgenommen, darunter Thomas Wagner. Bei einer zweiten Razzia im Juni 2022, die voraussichtlich in einen weiteren Turonen-Prozess münden wird, werden sieben weitere Beschuldigte gefasst, darunter Steffen Richter. „Die ‚Turonen‘ sind nun zerschlagen“, erklärt daraufhin Georg Maier, Thüringens Innenminister (SPD).

Katharina König-Preuss bestätigt seine Einschätzung im Gespräch mit Belltower.News: „Momentan sind die ‚Turonen‘ allein deswegen nicht handlungsfähig, weil kein Führungspersonal mehr da ist. Wenn die Urteile das erfüllen, was aktuell erwartet wird, dann sind die ‚Turonen‘ zerschlagen. Es ist einfach niemand mehr übrig, der diese Führungsfunktion übernehmen kann und nicht in Haft sitzt.“ Eine gute Entwicklung, so König-Preuss: „Gleichzeitig denke ich mir, Mensch Leute, das hätte man auch schon vor vier Jahren haben können.“

Die Abgeordnete betont, dass der aktuelle Prozess grundsätzlich im Bereich der Organisierten Kriminalität verortet werden müsse. Er sei deshalb mit anderen Prozessen, bei denen explizit rechte Gewalt verhandelt werde, nicht direkt zu vergleichen. Sowohl König-Preuss als auch Madeleine Henfling, Sprecherin für Innenpolitik und Antifaschismus (Bündnis 90/Die Grünen), werten es aber als gutes Zeichen, dass die völkisch-nationalistische und rassistische Gesinnung und die Verbindungen in den Rechtsrock in der Anklageschrift des „Turonen“-Prozesses thematisiert werden.

Zwar gibt das Strafgesetzbuch explizit vor, dass sich Strafen auch an den Beweggründen und Zielen der Täter*innen bemessen, „besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende“. In der Praxis wird das aber oft nicht umgesetzt. Henfling erinnert im Gespräch mit Belltower.News an den aktuellen Prozess gegen das Neonazinetzwerk „Blood & Honour“ in München, bei dem der zuständige Richter verkündete, er wolle „jetzt nicht den ganzen Background hier aufklären“. Beim Turonen-Prozess allerdings habe die Staatsanwaltschaft Gera ihre Hausaufgaben gemacht. Inwieweit die rechte Ideologie im weiteren Prozess tatsächlich berücksichtigt werden wird, ist noch unklar. Im Zentrum werden sicherlich die Vorwürfe in Sachen Organisierter Kriminalität stehen.

Befürchtungen, es könne erneut zu einem Deal mit den Neonazis kommen, sind König-Preuss zufolge aber derzeit unbegründet – schon allein deswegen, weil diesmal genügend Beweise auf dem Tisch liegen, um die Angeklagten auch ohne Geständnis verurteilen zu können. Dass die „Turonen“ im Prozess aussagen werden, erwarten weder König-Preuss noch Henfling. Hier komme ein alter Nazigrundsatz zum Tragen: „Brüder schweigen.“

Trotzdem erhoffen sich die beiden Abgeordneten neue Erkenntnisse vom Prozess. Henfling sieht darin die Möglichkeit, zusätzliche Einblicke in das Finanzierungssystem der extrem rechten Szene zu bekommen. König-Preuss ist gespannt, inwieweit über konfiszierte Handys noch mehr Informationen öffentlich bekannt werden, die gar nicht unbedingt mit den kriminellen Taten an sich zu tun haben, sondern etwa mit der Absicherung und der Planung von Konzerten und Vernetzungstreffen. Eines verdeutliche der Prozess schon jetzt, sagt sie: „dass die alten Kameradschaftsnetzwerke, die innerhalb der rechten Szene bestehen, halten und auch weiterbetrieben werden“.

Über das Geldwäsche-System der „Turonen“ rund um den Szene-Anwalt und „Ehrenturonen“ Dirk Waldschmidt soll auch Ralf Wohlleben, der die Tatwaffe für den NSU beschafft hat, mit monatlichen Zahlungen unterstützt worden sein. König-Preuss zufolge zeigt das: „Diese Nazinetzwerke halten, und die halten sogar, wenn jemand zehn Jahre im Knast sitzt – und die halten sogar, wenn jemand mitverantwortlich dafür ist, dass Menschen umgebracht wurden.“

Die Kritik, die Henfling und König-Preuss im Zusammenhang mit dem Prozess formulieren, ist eine grundsätzliche: „Das Entscheidende ist aus meiner Sicht, dass der Staat und die Sicherheitsbehörden erst dann agieren, wenn Nazis kriminelle Handlungen durch Drogenhandel und Ähnliches begehen. Mir ist vollkommen klar, dass man immer möglichst beweisfest ermitteln muss, aber ich finde das schon sehr irritierend, dass die über Jahre hinweg machen konnten, was sie wollten“, sagt Katharina König-Preuss. Die Existenz von Neonazis mit der Ideologie, tätowierten Hakenkreuzen, entsprechenden Übergriffen, Veranstaltungen und Netzwerktreffen müsste ihrer Ansicht nach für Staat und Behörden schon ausreichen, um gegen diese Strukturen vorzugehen und zu ermitteln – ausgehend von dem so oft erklärten ‚Nie wieder‘. „Und da frage ich mich schon ein Stück weit, wie viel lässt man denn eigentlich geschehen? Lässt man Nazis ihre Nazisachen machen und wird dann aktiv, wenn die Aktivitäten über klassische Nazistraftaten hinausgehen?“

In der Gesellschaft sei bereits dann etwas Wesentliches kaputt gegangen, wenn die einen sich über Jahre ohne Probleme mit Nazisymbolik im öffentlichen Raum zeigen könnten und Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt das als gegeben hinnehmen müssten, so König-Preuss. Ein grundsätzlich härteres Vorgehen gegen rechte Strukturen sei aber auch im Hinblick auf die Bekämpfung Organisierter Kriminalität sinnvoll: „Ganz zugespitzt könnte man sagen, wer weiß eigentlich, ob nicht alle Nazinetzwerke grundsätzlich auch in diesem Bereich handlungsfähig sind?“, fragt sie.

Dass die Bruderschaft mit Crystal Meth, Kokain und Marihuana dealte, sei außerdem schon länger bekannt gewesen. „Leute, die in Saalfeld oder auch in Gotha unterwegs waren, die wussten das“, sagt die Landtagsabgeordnete. Bei Thomas Wagner wurden bereits 2013 Amphetamine sichergestellt. Doch nicht nur deshalb hätten Sicherheitsbehörden früher auf den Handel mit Betäubungsmitteln aufmerksam werden können.

Das Geschäftsmodell haben die Thüringer aus Österreich übernommen. Als Vorlage diente Objekt 21, ein von „Blood & Honour“-Anhängern gegründeter Verein. Personen aus dem Umfeld der späteren „Turonen“ waren bereits in den Verein eingebunden, Objekt-21-Vertreter besuchten umgekehrt regelmäßig Thüringen, auch für Rechtsrock-Konzerte. Der Staat und seine Strukturen hätten aus dem Verfahren in Österreich und den Veröffentlichungen von antifaschistischen Recherche-Gruppen, Wissenschaft und Journalist*innen lernen müssen. „Wenn man es wichtig findet, gegen rechte Strukturen vorzugehen, dann nutzt man doch solche öffentlich wahrgenommenen Informationen und schaut: Was für eine Analyse zieht man daraus, wenn hier plötzlich Objekt-21-Vertreter*innen regelmäßig in Thüringen auftauchen?“, sagt König-Preuss.

Jetzt sind die „Turonen“ zerschlagen. Die rechte Szene in Thüringen gilt als temporär geschwächt, wichtige Finanzierungsströme sind unterbrochen. Auf lange Sicht können Erfolge aber nur erzielt werden, wenn sich der Umgang mit rechten Strukturen grundsätzlich ändert. Katharina König-Preuss zählt auf: „Man kann fast alle Regionen in Thüringen durchgehen, kann feststellen, ‚Okay, die Turonen sind weg‘, aber in allen Regionen bleiben andere Neonazistrukturen, die entweder mit den ‚Turonen‘ zusammengearbeitet haben oder die selbst eine entsprechende Ideologie vertreten und eine Gefährdung darstellen. Gegen alle hat es entweder viel zu lange keine Aktivitäten der zuständigen Behörden gegeben oder es gibt immer noch keine Aktivitäten.“

Wichtige Forderungen zur Justiz in Thüringen hat die Opferberatungsstelle ezra mit aufgestellt. Die verbliebenen Akteure aus dem Umfeld der „Turonen“ werden sich vermutlich neu formieren. Dass beim zweiten Prozesstag bekannte Neonazis mit im Zuschauerraum saßen, darunter der als Bienenmann bekannte Liedermacher Tobias W., zeigt Madeleine Henfling zufolge auch, dass Rechtsextreme sich in Thüringen immer noch sicher fühlten.

Das Artikelbild wurde unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC 2.0 veröffentlicht.

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