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Reichsbürgerprozess Bobstadt „Ich bitte um Verzeihung“

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Am 5. April 2023 begann vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart der Strafprozess gegen Ingo K. aus Boxberg-Bobstadt (Baden-Württemberg). Der „Reichsbürger“ soll am 20. April 2022 versucht haben, 14 Polizist*innen zu töten. (Quelle: SWR)

Montag, 9. Oktober 2023: Ein Zeuge betritt den Sitzungssaal 2. Er ist Ende 50 und hat graues kurzes Haar. Dann wird der Angeklagte Ingo K. in den Saal geführt. Um 9:20 Uhr eröffnet der Vorsitzende Richter die Sitzung und begrüßt den Zeugen; Erster Kriminalhauptkommissar in der Abteilung „Polizeilicher Staatsschutz“ des LKA Baden-Württemberg. Der Zeuge hat den SEK-Beamten Nr. 4, der Beifahrer im Transporter war, vernommen. In seiner Vernehmung habe Nr. 4 die Anfahrt zum Wohnhaus und den Einsatz von Blaulicht und Martinshorn beschrieben. Man habe „Polizei!“ gerufen. „Mehrfach und lautstark“. Dann habe Nr. 4 über eine Frau, die aus dem Dachfenster schaute, gesprochen. Sie habe „heftig gestikuliert“. Als der SEK-Beamte seinen Scheinwerfer zur Frau richtete, habe sie das Fenster geschlossen und verlassen.

Dann berichtet Nr. 4 über die ersten Schüsse sowie über die Schüsse auf den Transporter. Letztere hätten geklungen, als sei der Wagen über Kieselsteine gefahren. Erst im Laufe der Schüsse habe er realisiert, dass Projektile einschlagen. Der Einschuss in die Fensterscheibe, Stirnhöhe, habe ihn „sehr beeindruckt“. Im Zuge der Evakuierung des verletzten SEK-Beamten Nr. 10 habe er seine Beine abgebunden, um einen starken Blutverlust zu vermeiden. Nach den Ausführungen des Ersten Kriminalhauptkommissars thematisiert der Vorsitzende Richter die Auswertung zweier Kontobewegungen vom März und April 2022. Der Angeklagte Ingo K. hat Waffenzubehör gekauft – nur wenige Wochen vor der Bluttat vom 20. April. Um 10:06 Uhr wird der Zeuge entlassen.

Verfremdet und verschleiert

Der Vorsitzende Richter kündigt an, die SEK-Beamten Nr. 8, 10 und 16 per Videoschalte zu vernehmen. Nach einer Pause präzisiert er, die SEK-Beamten hätten eine „besondere Schutzbedürftigkeit“. Der Monitor, der bislang am Rande des Saales stand, steht fortan in der Mitte. Er zeigt in die Richtung des Vorsitzenden Richters. Das Publikum nimmt lediglich die Akustik wahr. Im Monitor sagt ein Polizist, die SEK-Beamten würden sprachlich und optisch „verschleiert“. Der Polizist testet die Verfremdung, dann beginnt die Vernehmung des SEK-Beamten Nr. 10.

Der Vorsitzende Richter thematisiert die Inhalte der Einsatzbesprechung. Der Zeuge sagt, man habe aufgrund der „Reichsbürger“-Ideologie mit Widerstand gegen polizeiliche Maßnahmen gerechnet. Dass eine Waffe eingesetzt werde, sei eine Möglichkeit gewesen. Aber: Er persönlich habe nicht mit dem Einsatz gerechnet. Der Zeuge spricht über die Anfahrt, über die Öffnung des Zauns und des Rollladens der Terrassentür. Er habe den Trennschleifer angesetzt und geschnitten. Als er das Werkzeug wechselte, habe er einen Knall wahrgenommen. Einen Schuss. Der zweite und dritte Schuss waren Treffer. Er habe die Beschädigungen im Rollladen gesehen und realisiert: Das sind Schüsse aus dem Inneren der Wohnung. Der Zeuge schildert sein Zu-Boden-gehen und seine Evakuierung. Er habe, nach der Ankunft im Transporter, „sehr viele“ Schüsse gehört. Der SEK-Beamte Nr. 3 habe die medizinische Erstversorgung übernommen. Später sei er ins Krankenhaus gebracht und operiert worden.

Bis heute eine Belastung

Auf die Frage eines Richters, wie der Geschädigte mit der Tat umgehe, erzählt er, der Einsatz belaste ihn noch heute. „Es holt mich regelmäßig ein“, betont er. Wenn Kolleg*innen über den Einsatz sprechen, merke er, wie es ihm Tränen in die Augen treibe. Die Tat habe ihn und sein engstes Umfeld stark getroffen.

Der Richter fragt, ob der Zeuge den Rollladen, geschützt durch einen Schutzschild, hätte öffnen können. Er antwortet: „nur sehr schwer“. Nachdem er mit dem Trennschleifer herangetreten sei, habe er seinem Kollegen Nr. 16 gesagt, der einen Schutzschild trug, er brauche mehr Platz, um den Rollladen öffnen zu können.

Nach Fragen seiner Verteidigung hat Ingo K. die Möglichkeit, Fragen an den Zeugen zu stellen. Der Angeklagte nutzt sein Fragerecht, um eine Entschuldigung auszusprechen. „Das tut mir wirklich weh“. Und: „Ich bitte um Verzeihung.“ Die Vernehmung des Zeugen ist um 11:25 Uhr beendet.

Der Vorsitzende Richter begrüßt den SEK-Beamten Nr. 16 und thematisiert die Einsatzbesprechung und die Annäherung an das Wohnhaus. Der Zeuge äußert, er sei im Transporter gewesen und habe „Polizei!“ gerufen. Als sein Kollege Nr. 10 den Rollladen öffnete, sei er an seiner Seite gestanden. Der Kollege habe das Werkzeug wechseln wollen. Nun, schildert der Zeuge, sei seine Erinnerung „verzerrt“. Er habe „Nadelstiche“, dann Einschläge im Schild gespürt. Sofort habe er das Feuer erwidert. Kurze Zeit später habe er den Ruf einer männlichen Stimme gehört: „Verpisst Euch, ihr …“

Zwei Beweisanträge eingebracht

Der Zeuge schildert, er habe die leichten Verletzungen und die psychische Belastung gut überstanden. Nun spricht der Vorsitzende Richter über die Festnahme. Der Zeuge schildert, er habe gesehen, wie Ingo K. mit Max A., dem Sohn des Vermieters Heiko A., die Wohnung verlassen habe. In Anbetracht der Geschehnisse sei Ingo K. äußerst gelassen aufgetreten. Er habe „sehr viel geredet“ und stets betont, weder Nazi noch „Reichsbürger“ zu sein. Geflüchtete seien „Verbrecher“ und „Vergewaltiger“, Polizist*innen seien „gute Jungs“, aber kämpften „auf der falschen Seite“. Er habe behauptet, man hätte bloß klingeln brauchen, dann hätte er die Waffe abgegeben. Im Falle zweier Fragen zum SEK-Einsatz verweist der Zeuge auf seine beschränkte Aussagegenehmigung. Rechtsanwältin Combé bittet, Rücksprache mit der Kommandoführung zu halten. Nach einer Pause, in der Nr. 16 mit dem stellvertretenden Kommandoführer gesprochen hat, gibt der Zeuge eine Auskunft über den Schutz seines Kollegen Nr. 10. Um 12:45 Uhr ist die Vernehmung beendet.

Nach der Mittagspause erhält Rechtsanwalt Seifert die Gelegenheit, zwei Beweisanträge einzubringen. Er fordert, Ingo K.s ehemalige Wohnungen in Rüsselhausen und Bobstadt in Augenschein zu nehmen. Im Fall Bobstadt heißt es, die Inaugenscheinnahme könne belegen, dass der Rollladen blickdicht geschlossen war. Ausführlich begründet der Staatsanwalt, warum der Strafsenat die Anträge ablehnen sollte. Nun berät der Senat über die Beweisanträge.

Ein Befangenheitsantrag abgewiesen

Der Vorsitzende Richter setzt mit der Vernehmung des SEK-Beamten Nr. 8 fort. Der Zeuge sagt aus, in der Einsatzbesprechung sei die „Reichsbürger“-Ideologie und die Gefahr, Ingo K. könne eine Waffe einsetzen, thematisiert worden. Im Rahmen des SEK-Einsatzes sei Nr. 8 mit Kollegen im SUV gesessen. Er sei „Sicherungsschütze“ gewesen und an der Dachluke des Fahrzeugs gestanden; dort habe er die Öffnung des Rollladens und die ersten Schüsse beobachten können. Der Zeuge sagt, jemand habe „Drecksbullenschweine“ gerufen. Als der Vorsitzende Richter den Beschuss des SUV anspricht, nennt der Zeuge die Einschläge in der Dachluke. Daraufhin habe er die Luke geschlossen. Dann folgen Berichte über den Brand und die Festnahmen.

Der Zeuge schildert, das Verhalten von Ingo K. sei „kasperhaft“ gewesen. Er habe gelacht und keineswegs den Eindruck erweckt, ihn würde die Situation belasten. Der Zeuge wird um 14:55 Uhr entlassen. Zwei Polizisten schieben den Monitor von der Mitte wieder an den Rand des Saales. Dann wird eine Zeugin in den Saal begleitet. Sie ist Mitte 20 und Polizeioberkommissarin im LKA Baden-Württemberg, ihre dunkelbraunen Haare sind in einem Dutt hochgesteckt. Ihre Aufgabe lag in der Auseinandersetzung mit einigen Dokumenten. Schreiben an das Landratsamt, diverse Musterschreiben aus dem Netz, handschriftliche Zettel. Die Zeugin spricht über das „Reichsbürger“-Vokabular in den Dokumenten und wird danach entlassen.

Abschließend verkündet der Vorsitzende Richter, der Befangenheitsantrag gegen die Sachverständige, die ein Gutachten zur „Reichsbürger“-Ideologie vortrug, werde zurückgewiesen. Es heißt, das Misstrauen sei „nicht gerechtfertigt“ und „fernliegend“. Die Sitzung endet um 15:30 Uhr.


Unsere bisherige Berichterstattung

Tag 1: „Reichsbürger“ wegen 14-fachem Mordversuch vor Gericht

Tag 2: „Mein Wunsch war, Verfassungsschützer zu werden“

Tag 3: Hobbys – Buddhismus und Waffen

Tag 4: Eine Garderobe mit Waffen

Tag 5: Die Kurkuma-Verschwörung

Tag 6: „Wir haben Waffen, um gegen die Tyrannei zu kämpfen“

Tag 7 und 8: „Es kann alles oder nichts passieren“

Tag 9 und 10: Mein Nachbar, der freundliche „Reichsbürger“

Tag 11 und 12: Die Schmauchspuren des Schützen

Tag 13 und 14: Die Schützenhilfe der Familie A.

Tag 15 und 16: „Die wollten rein, ich bin durchgetickt“

Tag 17 und 18: Die Hilferufe des „Reichsbürgers“

Tag 19 und 20: „Absolutes Bedauern“ bei mutmaßlichen Täter

Tag 21: Reichsbürgerprozess Bobstadt: Der angebliche „Personenschützer-Reflex“

Tag 22: Eine Friedenstaube mit Hakenkreuz

Tag 23: Alles „amüsant“ und „lächerlich“?

Tag 24 und 25: Schüsse – eine „affektive Überreaktion“?

Tag 26 und 27: Die zwei Phasen der Radikalisierung des Angeklagten

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