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Reichsbürgerprozess Bobstadt Die zwei Phasen der Radikalisierung des Angeklagten

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Der Prozess gegen den „Reichsbürger“ Ingo K. aus Boxberg-Bobstadt (Baden-Württemberg) findet vor dem Oberlandesgericht Stuttgart statt. (Quelle: Timo Büchner)

Dienstag, 26. September 2023: Zwei Polizisten führen den Angeklagten Ingo K. um 9:17 Uhr in den Sitzungssaal 2. Der Vorsitzende Richter eröffnet die Sitzung und begrüßt einen Zeugen. Bart, Brille, kurzes Haar: Der Zeuge ist 30 Jahre alt und Polizeibeamter im LKA Baden-Württemberg. Er hatte die Aufgabe, das Handy von Marco S. auszuwerten. S. ist der Sohn von Ingo K., bis zur Bluttat vom 20. April 2022 haben die beiden in Bobstadt gewohnt. Der Zeuge schildert, das Handy sei ab 2020 sowohl von Marco S. als auch von Ingo K. genutzt worden. Der Vorsitzende Richter thematisiert die Anrufe. Der Zeuge sagt aus, es habe vier Telefonate am Tatmorgen gegeben: einen Notruf, ein Telefonat mit dem Rechtsextremen Robert Vogelmann, einen Notruf und schließlich ein Telefonat mit der Polizei Heilbronn. Dann spricht der Vorsitzende Richter die Chats an.

Der Zeuge berichtet, er habe rechtsextreme und verschwörungsideologische Inhalte feststellen können. Er nennt Beiträge der Neonazi-Partei NPD (Die Heimat) und der antisemitischen Sekte QAnon. Als der Vorsitzende Richter die Audio-Nachrichten thematisiert, hebt der Zeuge eine Nachricht hervor. „Untergrundbasen“ mit Moscheen und Halal-Lebensmitteln seien errichtet worden, um eine „islamische Armee“ in Stellung zu bringen. Und zwar: „Gegen uns“. Der Zeuge wird um 9:44 Uhr entlassen.

Für Waffen und gegen Masken

Ein Zeuge mit kurzgeschorenem Haar und schwarzer Daunenjacke betritt den Saal. Er ist Mitte 30 und Polizeioberkommissar im LKA Baden-Württemberg. Der Vorsitzende Richter sagt, er habe Berichte zur Auswertung der Handys verfasst. Der Zeuge erklärt, Ingo K. habe in den Chats auf dem ersten Handy allerlei Corona-kritische Inhalte verbreitet. Im Verlauf spricht der Zeuge über die Benutzerkonten und Newsletter des Angeklagten, darunter mehrere von Waffenshops. Ingo K. müsse eine Vorliebe für Waffen gehabt haben, schlussfolgert der Zeuge.

Auf die Frage einer Richterin spricht der Zeuge über Ingo K.s Nachricht vom 3. November 2021, man habe halbautomatische Waffen, „um gegen die Tyrannei zu kämpfen“. Debattiert wird die Frage, ob die Nachricht bloß weitergeleitet oder selbst verfasst wurde. Der Vorsitzende Richter thematisiert die Auswertung des zweiten Handys. Der Zeuge berichtet, auch hier seien Corona und Waffen die zentralen Themen gewesen. Er habe Fotos von Armbrüsten, Munition, Pistolen, Schutzwesten gefunden. Daraufhin zeigt der Vorsitzende Richter die Fotos auf den Leinwänden. Der Zeuge wird um 10:23 Uhr entlassen.

Ein Zeuge wird in den Saal begleitet. Er ist Ende 30 und trägt einen Bart, dunkles Kurzhaar, ein hellblaues Hemd. Als Polizeihauptkommissar im LKA Baden-Württemberg verfasste er einen Bericht über die Finanzermittlungen gegen den Angeklagten. Der Zeuge schildert einen Vorfall in einer Filiale der Sparkasse. Ingo K. habe sich geweigert, eine Maske aufzusetzen. Dann berichtet er über die Kontobewegungen. Der Zeuge habe Einzahlungen dreier Arbeitgeber und Auszahlungen an den Vermieter festgestellt. Neben alltäglichen Einkäufen seien Käufe von Waffenzubehör getätigt worden, laut Schätzungen des Zeugen im Wesentlichen zwischen 2020 und 2022. Dann thematisiert der Vorsitzende Richter einen Bericht zur Auswertung eines Kontos. Gehalt, Miete. Aber auch: Zahlungen an die Agentur für Arbeit, an das Landratsamt Main-Tauber, an die Staatsanwaltschaft Ellwangen – und zuletzt an den Gerichtsvollzieher. Der Zeuge wird entlassen, die Sitzung um 11:25 Uhr beendet.

„Radikalisierungsbefördernde Momente“

Mittwoch, 27. September 2023: Der Angeklagte wird in den Sitzungssaal 2 geführt und der Vorsitzende Richter eröffnet die Sitzung. Er begrüßt einen Zeugen mit dunklem kurzem Haar und weißem Hemd. Der Zeuge ist Mitte 30 und arbeitet im LKA Baden-Württemberg. Er war mit den „Reichsbürger“-Schreiben betraut. In seiner Vernehmung erklärt er die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ und zwischen Selbstversorgung und Selbstverwaltung. Der Zeuge schildert, der feste Glaube, der Staat sei illegitim, legitimiere „Notwehr“ gegen staatliche Maßnahmen. Zudem schildert er, es werde zwischen dem „juristischen“ und dem „lebenden Menschen“ unterschieden. Letzterer habe die Freiheit, Behördenschreiben zu ignorieren. Der Zeuge spricht über die Inhalte der „Reichsbürger“-Schreiben. Der Vorsitzende Richter zeigt mehrere davon. In der Kopfzeile: „ingo / Mensch Deutscher / Durch Geburt und Ahnennachweis“. Im Text: Die „BRD“ sei ein „Verwaltungskonstrukt“, eine „Firma“, eine „Staatssimulation ohne Geltungsbereich“. Es gelte das RuSTAG, das deutsche Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913. Der Vorsitzende Richter thematisiert weitere Schreiben. Die Vernehmung ist um 10:28 Uhr beendet.

Eine Sachverständige kommt in den Saal. Sie ist Mitte 30 und wissenschaftliche Referentin im Kompetenzzentrum gegen Extremismus in Baden-Württemberg (konex). Es ist Teil des LKA Baden-Württemberg. Der Vorsitzende Richter erklärt, die Sachverständige habe ein Gutachten zur „Reichsbürger“-Ideologie von Ingo K. erstellt. Das Gutachten bestehe aus zwei Teilen. Im ersten Teil erläutert die Sachverständige, was „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sind. Sie betont, die „Reichsbürger“-Ideologie sei im Kern eine Verschwörungsideologie und nennt das Beispiel Personalausweis. Es werde interpretiert, man sei Personal einer Firma, aber werde im Glauben gehalten, in einem souveränen Staat zu leben. Laut der Sachverständigen sei der Glaube an Verschwörungserzählungen ein „Mechanismus zur Reduktion von Komplexität“. Wer komplexe Vorgänge mittels Verschwörungen erklärt, könne Schuldige benennen und das Gefühl von Kontrolle zurückgewinnen.

Im zweiten Teil spricht die Sachverständige über ihre Befunde im Fall des Angeklagten. Spätestens seit 2016 habe Ingo K. mit der „Reichsbürger“-Szene sympathisiert. Damals habe er einen „Reichspersonenausweis“ besorgt; dies gehe aus einem Schreiben der „Reichsdruckerei“ hervor. In den Folgejahren seien „szenetypische“ Behördenschreiben verschickt worden. Es seien Antwortschreiben gewesen; die Sachverständige spricht von der „reaktiven Natur des Aktivismus“. Während der Corona-Pandemie habe Ingo K. eine erste Phase der Radikalisierung durchlebt. Mit dem Umzug nach Bobstadt – im Winter 2021/22, ein paar Monate vor der Bluttat vom 20. April – habe eine zweite Phase begonnen. Die „zwei radikalisierungsbefördernden Momente“ hätten, bestärkt durch den wachsenden Druck der Behörden, zur Tat geführt.

Befangenheitsantrag des Rechtsanwalts

Die Staatsanwältin fragt, welche Rolle die „Anastasia“-Buchreihe von Wladimir Megre im Gutachten spielte. Die Romane, gespickt mit antidemokratischen und antisemitischen Inhalten, propagieren die Selbstversorgung und sind in der rechtsesoterischen Szene beliebt. Die Sachverständige antwortet, die „Anastasia“-Bücher seien im Rahmen der Hausdurchsuchung sichergestellt worden. Des Weiteren habe Ingo K. in seiner Haft gebeten, die Bücher zu bekommen.

Der Staatsanwalt will wissen, wie ein „Reichsbürger“ mit dem Vorwurf umgehe, ein „Reichsbürger“ zu sein. Sie berichtet, die meisten „Reichsbürger“ lehnten den Begriff ab, und fügt hinzu, sie kenne keinen „Reichsbürger“, der sagt, er sei ein „Reichsbürger“. Es handele sich um einen Behördenbegriff. Rechtsanwalt Seifert fragt, ob die Sachverständige von einer „extremistischen Tat“ ausgehe. Sie bejaht. Der Rechtsanwalt reagiert empört. Er beklagt, sie sei befangen, bringe ihre persönliche Meinung ein. Rasch formuliert er einen Befangenheitsantrag. Die Staatsanwält*innen äußern, die Sachverständige habe bloß ihre Einschätzung abgegeben. Die Sachverständige wirkt überfordert und überrascht. Nach einer Pause erklärt sie, Ingo K. habe – aus ihrer Sicht, nach Aktenlage – ein extremistisches Weltbild. Am Ende müsse das Gericht ein Urteil fällen. Um 12:35 Uhr wird die Sachverständige entlassen.

Nach der Mittagspause wird ein Zeuge in den Saal begleitet. Der Hauptsachbearbeiter des LKA Baden-Württemberg berichtet über die Gründung der „Besonderen Aufbauorganisation“ und über die Arbeiten der „Tatortgruppe“. Man habe – nach Auswertung der Asservate und des Videomaterials sowie nach Durchführung zahlreicher Vernehmungen – „ein Gesamtbild entwickeln können, was zum Abschluss der Ermittlungen geführt hat“. Der Hauptsachbearbeiter spricht über Tatort und Tat, Verletzungen und Verhaftungen. Über Waffen, Weltbilder, Widersprüche. Die Tatwaffe sei einst von Montenegro über Österreich nach Hamburg gelangt. Ingo K. habe die, damals „demilitarisierte“, Waffe im Onlineshop einer Hamburger Firma gekauft. Der Vorsitzende Richter zeigt eine 3D-Abbildung mit der Annahme, wo Ingo K. während der Tat im Wohnzimmer gestanden haben könnte. Anhand der Abbildung und mehrerer Fotos, die in der abgebrannten Wohnung gemacht wurden, beschreibt der Hauptsachbearbeiter die einzelnen Positionen, aus denen bestimmte Ziele getroffen werden konnten. Der Zeuge wird entlassen, die Sitzung ist um 14:51 Uhr beendet.


Unsere bisherige Berichterstattung

Tag 1: „Reichsbürger“ wegen 14-fachem Mordversuch vor Gericht

Tag 2: „Mein Wunsch war, Verfassungsschützer zu werden“

Tag 3: Hobbys – Buddhismus und Waffen

Tag 4: Eine Garderobe mit Waffen

Tag 5: Die Kurkuma-Verschwörung

Tag 6: „Wir haben Waffen, um gegen die Tyrannei zu kämpfen“

Tag 7 und 8: „Es kann alles oder nichts passieren“

Tag 9 und 10: Mein Nachbar, der freundliche „Reichsbürger“

Tag 11 und 12: Die Schmauchspuren des Schützen

Tag 13 und 14: Die Schützenhilfe der Familie A.

Tag 15 und 16: „Die wollten rein, ich bin durchgetickt“

Tag 17 und 18: Die Hilferufe des „Reichsbürgers“

Tag 19 und 20: „Absolutes Bedauern“ bei mutmaßlichen Täter

Tag 21: Reichsbürgerprozess Bobstadt: Der angebliche „Personenschützer-Reflex“

Tag 22: Eine Friedenstaube mit Hakenkreuz

Tag 23: Alles „amüsant“ und „lächerlich“?

Tag 24 und 25: Schüsse – eine „affektive Überreaktion“?

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Heiko Schrang_Querdenken

„Querdenken 711“ Wieviel Reichsdenken steckt im Querdenken?

Die Initiatoren von „Querdenken 711“ wehren sich gegen Vorwürfe, sie würden Rechtsextremen und Reichsbürgern eine Bühne geben und distanzieren sich verbal. Die Realität auf den eigenen Demonstrationen sieht allerdings anders aus.

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