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Reichsbürgerprozess Bobstadt Bundesanwaltschaft fordert lebenslängliche Haft

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Am 5. April 2023 begann vor dem Oberlandesgericht Stuttgart der Strafprozess gegen Ingo K. aus Boxberg-Bobstadt (Baden-Württemberg). Der „Reichsbürger“ soll am 20. April 2022 versucht haben, 14 Polizist*innen zu töten. (Quelle: SWR)

Montag, 16. Oktober 2023: Als der Angeklagte Ingo K. am 29. Prozesstag in den Sitzungssaal 2 geführt wird, sitzt seine frühere Ehefrau im Publikum. Sie haben Augenkontakt, er winkt. Der Vorsitzende Richter eröffnet um 9:23 Uhr die Sitzung und verkündet, die Anträge von Rechtsanwalt Seifert, die ehemaligen Wohnungen des Angeklagten in Augenschein zu nehmen, würden abgelehnt. Dann verliest er die Gründe der Zurückweisungen. Anschließend bittet er eine Sachverständige, die bereits am 12. Prozesstag aussagte, in den Saal. Sie ist Ende 30, hat einen braunen Zopf, trägt einen dunkelgrauen Anzug. Die Rechtsmedizinerin arbeitet in der GRUS mbH Tübingen. Im Auftrag des Senats war sie mit der Frage betraut, ob das Hör- und Sehvermögen von Ingo K. beeinträchtigt ist. Der Anlass: In einer Erklärung vom 20. Prozesstag hatte Ingo K. betont, er leide unter Kurzsichtigkeit und einem „schweren Gehörschaden“. Die Sachverständige berichtet, zwar habe ein Arzt eine Kurzsichtigkeit sowie eine Altersweitsichtigkeit festgestellt. Dennoch sei die Sehleistung kaum eingeschränkt. Über die Hörleistung berichtet die Sachverständige, es gebe „keine relevante Einschränkung“. Eine Hochtonschwerhörigkeit, die ein Arzt feststellte, sei irrelevant. Ingo K. sagt, er bezweifle die Werte. Er müsse aufgrund seiner Tätigkeit in Diskotheken eine Lärmschwerhörigkeit haben. Die Sachverständige bekräftigt, der Arzt habe keine Lärmschwerhörigkeit festgestellt. Sie wird um 10:06 Uhr entlassen. Dann schließt der Vorsitzende Richter sowohl die Beweisaufnahme als auch die Sitzung.

Eine „regelrechte Jagd“

Mittwoch, 18. Oktober 2023: Mit dem Ende der Beweisaufnahme beginnen die Plädoyers. Die beiden Vertreter*innen der Bundesanwaltschaft halten ihren Schlussvortrag. In weinroten Roben sitzen sie an ihrem Tisch. Auf der Tischmitte steht ein hölzernes Pult. Um 9:35 Uhr wird Ingo K. in den Saal geführt. Er trägt ein weißes Hemd mit schwarzem Sakko. Der Vorsitzende Richter eröffnet die Sitzung und bittet die Vertreter*innen der Bundesanwaltschaft, den Vortrag zu halten. Die Staatsanwältin tritt ans Pult und erklärt, die Hauptverhandlung habe ergeben, dass Ingo K. eine „regelrechte Jagd“ auf die SEK-Beamt*innen gemacht habe. Es sei Zufall gewesen, dass niemand gestorben sei. In der Hauptverhandlung seien die Vorwürfe, die gegen den Angeklagten erhoben wurden, „in vollem Umfang“ bestätigt worden. Die Staatsanwältin sagt, Ingo K. sei ein „Reichsbürger“. Ab 2015/16 habe er eine Vielzahl an Waffen beschafft und die spätere Tatwaffe militarisiert. Sie spricht über den Entzug seiner Waffenerlaubnis und den SEK-Einsatz. Spätestens, als der SEK-Beamte Nr. 10 den Trennschleifer einsetzte, um den Rollladen seiner Terrassentür zu öffnen, habe Ingo K. die Entscheidung getroffen, SEK-Beamt*innen zu erschießen. Als die Staatsanwältin vom Erschießen spricht, grinst der Angeklagte und schüttelt den Kopf. In der ersten Schusssequenz habe er die Arg- und Wehrlosigkeit des SEK-Beamten Nr. 10 ausgenutzt und mindestens 21 Einzelschüsse abgegeben. Mit den Schüssen habe er die Polizei, „getragen von seiner staatsfeindlichen Ideologie“, fernhalten wollen. In der zweiten bzw. dritten Sequenz folgten neun bzw. sechs Einzelschüsse. Zuletzt, in der vierten Sequenz, feuerte er drei Dauersalven. Zwischen den einzelnen Sequenzen habe er die Schussposition zwischen Schlaf- und Wohnzimmer gewechselt.

„Eindeutig widerlegt“ und „zutiefst überzeugt“

Der Staatsanwalt referiert über die Würdigung der Beweise: Ingo K. bestreite bis heute, Anhänger der „Reichsbürger“-Ideologie zu sein. Er habe bloß provozieren und scherzen wollen. Die Darstellung des Angeklagten sei „eindeutig widerlegt“, durch „vielfältige Beweismittel“. Der Staatsanwalt nennt seine Behördenschreiben, die allerlei „Reichsbürger“-Vokabular enthielten, und ein Schreiben der „Reichsdruckerei“, die Dokumente der „Reichsbürger“-Szene vertreibt. Laut Staatsanwalt habe Ingo K. den Inhalt der Schreiben „vollständig erfasst“. Darüber hinaus habe er die „direkte Konfrontation“ mit Behörden gesucht und Mitarbeiter*innen bedroht. Sämtliche Zeug*innen – auch Heiko A., „Reichsbürger“ und Vermieter des Angeklagten – hätten vor Gericht bestätigt, dass K. die „Reichsbürger“-Thesen „vollkommen ernstgemeint“ hat. Der Staatsanwalt führt aus, seine „Reichsbürger“-Ideologie fuße auf diversen Verschwörungsmythen, von denen er „zutiefst überzeugt“ gewesen sei. Die Mythen veranschaulichten eindrücklich, dass er über Jahre hinweg eine staatsfeindliche Gesinnung gepflegt habe. Dann spricht der Staatsanwalt über die Würdigung der Tat: Zunächst nennt er den Kauf diverser Waffen, Waffenteile und Munition. Der Angeklagte habe die spätere Tatwaffe, ursprünglich eine Dekowaffe, im Februar 2016 gekauft und spätestens 2017 „vollumfänglich umgebaut“. Über Jahre hinweg habe er ein „Waffenarsenal“ beschafft und in einer „Waffenkammer“ aufbewahrt, um sich in kürzester Zeit mit Waffengewalt gegen staatliche Maßnahmen zur Wehr setzen zu können. Zwar habe er den Waffenbesitz vor Gericht eingeräumt, aber Details habe er in seiner Einlassung bewusst ausgespart.

Eine „günstige Lügengeschichte“

Der Staatsanwalt referiert über den Beschluss, die Pistole Glock zu entziehen. Die Behauptung, Ingo K. habe seine Waffe im Landratsamt Main-Tauber abgeben wollen, sei widerlegt. Er habe versucht, „eine für ihn günstige Lügengeschichte“ zu stricken. Dann geht der Staatsanwalt auf die Tat vom 20. April 2022 ein. Ingo K. habe erzählt, er sei durch Explosionen aufgewacht und habe kein Blaulicht, kein Martinshorn, keine „Polizei“-Rufe wahrgenommen. Er habe seinen Sohn Marco S. gesehen, der auf dem Boden gelegen sei, und in einer Art Panik geschossen, um den Sohn zu schützen. Während er schoss, habe er einen Blackout gehabt. Der Staatsanwalt betont, die Erkennbarkeit der Polizei sei ein „wesentlicher Teil der Einsatzplanung“ gewesen. Das Einsatzvideo der SEK-Helmkameras, das am 7. Prozesstag gezeigt wurde, habe die Signale dokumentiert. Jene Signale habe der Angeklagte nach Berechnungen des Fraunhofer Instituts für Bautechnik wahrnehmen müssen. Es sei „schlicht nicht vorstellbar“, dass Ingo K. die Signale nicht wahrgenommen habe. Er habe gewusst, dass die Polizei im Einsatz ist. Dann spricht der Staatsanwalt über die vier Schusssequenzen und über die „Gefährlichkeit und Unbeherrschbarkeit“ der Dauersalven in der vierten Sequenz. Erst, als Ingo K. festgestellt habe, dass er keine Polizist*innen mehr erschießen könne, habe er seinen Tatplan aufgegeben. Der Staatsanwalt referiert über die Verletzungen der SEK-Beamt*innen und betont, nur eine geringfügige Änderung des Schussverlaufs hätte zum Tod des SEK-Beamten Nr. 10 führen können.

„Sittlich auf tiefster Stufe“

Nach einer Pause setzt der Staatsanwalt den Vortrag fort und thematisiert die Tötungsmotive. Er sagt, in den einzelnen Schusssequenzen könne eine Tötungsabsicht nachgewiesen werden. Der Angeklagte habe in der Überzeugung gehandelt, die Polizei besitze keine Legitimation. Er „wähnte sich in einem Kampf“ gegen den Staat. Der Staatsanwalt stellt fest: „An der Alleintäterschaft bestehen keine Zweifel.“ Es gebe „keine belastbaren Anhaltspunkte“, dass Mitglieder der Familie A. geschossen haben. Nach der Mittagspause referiert die Staatsanwältin über die rechtliche Würdigung der Tat. Die vier Schusssequenzen stellten einen Mordversuch in vier Fällen dar. Denn zwischen den einzelnen Sequenzen liege eine „örtliche und zeitliche Zäsur“. Mehr noch: ein „neuer Tatentschluss“ mit „neuer Handlungskette“. In den vier Fällen sei das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe erfüllt. Denn Ingo K. habe die SEK-Beamt*innen als Repräsentant*innen der Staatsgewalt angegriffen. So sei seine ideologische Überzeugung die Wurzel der Mordversuche gewesen. Die Tat stehe „sittlich auf tiefster Stufe“. Im Falle des SEK-Beamten Nr. 10 liege, abseits der niedrigen Beweggründe, das Mordmerkmal der Heimtücke vor. Das Opfer sei, als der Rollladen geöffnet wurde, arg- und wehrlos gewesen. Neben den Mordversuchen sieht die Bundesanwaltschaft die Tatbestände der gefährlichen Körperverletzung, des Widerstands gegen und des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte sowie Verstöße gegen Waffen- und Kriegswaffenkontrollgesetz erfüllt. Der Angeklagte sei „voll schuldfähig“, er habe die Tat „zielgerichtet und überlegt“ durchgeführt. Eine akute Panikreaktion sei auszuschließen.

„Erhebliche Kaltblütigkeit und kriminelle Energie“

Abschließend stellt die Staatsanwältin den Strafrahmen und die „Strafzumessung im engeren Sinne“ vor. Als sie sagt, Ingo K. habe eine „erhebliche Kaltblütigkeit und kriminelle Energie“, ist er regungslos. Zwar habe er den „objektiven Sachverhalt“ eingestanden, aber die Tat nicht vollständig eingeräumt. Seine Entschuldigung, die er am 20. und 28. Prozesstag ausdrückte, stehe im Widerspruch zum Verhalten, das er gegenüber der Polizei im Zuge seiner Festnahme zum Ausdruck brachte. Die Staatsanwältin fordert lebenslängliche Haft für die erste Schusssequenz, jeweils neun Jahre Haft für die zweite und dritte Sequenz sowie zehn Jahre Haft für die vierte Sequenz. Für die Verstöße gegen das Waffen- und Kriegswaffenkontrollgesetz fordert sie eine Haftstrafe von dreieinhalb Jahren. Die Forderungen nimmt der Angeklagte regungslos zur Kenntnis. Zwar stellt die Bundesanwaltschaft keine besondere Schwere der Schuld fest. Aber sie stellt fest, Ingo K. habe in Anbetracht seiner „Reichsbürger“-Ideologie und seiner Ablehnung staatlicher Institutionen einen Hang zu erheblichen Straftaten. Er habe eine Radikalisierung vollzogen und sehe im Einsatz brutaler Gewalt ein legitimes Mittel. Die Staatsanwältin sieht eine „tiefe Verankerung der Gewaltbereitschaft in der Persönlichkeit des Angeklagten“. Bis heute habe er keinen Abstand von der Ideologie genommen, daher sei von einer „fortbestehenden Gefährlichkeit“ des Angeklagten auszugehen und Sicherungsverwahrung anzuordnen. Der Schlussvortrag, der rund dreieinhalb Stunden dauert, endet um 14:28 Uhr. Dann endet die Sitzung.

Unsere bisherige Berichterstattung

Tag 1: „Reichsbürger“ wegen 14-fachem Mordversuch vor Gericht

Tag 2: „Mein Wunsch war, Verfassungsschützer zu werden“

Tag 3: Hobbys – Buddhismus und Waffen

Tag 4: Eine Garderobe mit Waffen

Tag 5: Die Kurkuma-Verschwörung

Tag 6: „Wir haben Waffen, um gegen die Tyrannei zu kämpfen“

Tag 7 und 8: „Es kann alles oder nichts passieren“

Tag 9 und 10: Mein Nachbar, der freundliche „Reichsbürger“

Tag 11 und 12: Die Schmauchspuren des Schützen

Tag 13 und 14: Die Schützenhilfe der Familie A.

Tag 15 und 16: „Die wollten rein, ich bin durchgetickt“

Tag 17 und 18: Die Hilferufe des „Reichsbürgers“

Tag 19 und 20: „Absolutes Bedauern“ bei mutmaßlichen Täter

Tag 21: Reichsbürgerprozess Bobstadt: Der angebliche „Personenschützer-Reflex“

Tag 22: Eine Friedenstaube mit Hakenkreuz

Tag 23: Alles „amüsant“ und „lächerlich“?

Tag 24 und 25: Schüsse – eine „affektive Überreaktion“?

Tag 26 und 27: Die zwei Phasen der Radikalisierung des Angeklagten

Tag 28: „Ich bitte um Verzeihung“

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