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Zum Andenken

Das kurze Leben eines 13-jährigen jenischen Jungen im NS-Staat. Ein Jugendbuch

 

Das kleine Foto zeigt einen Jungen, kahlköpfig, rasiert. 12, 13, 15 Jahre alt vielleicht. Oder jünger oder auch viel älter. Freundlich schaut er in die Kamera ? und scheu. Als der Journalist und Autor Robert Domes dieses Gesicht zum ersten Mal sieht, ist er tief bewegt. Der Blick des Jungen lässt ihn nicht mehr los. Das Foto, aufgenommen 1942 in der damaligen »Heil- und Pflegeanstalt« Kaufbeuren, ist jetzt auf dem Cover des Romans Nebel im August zu sehen. Es zeigt den 13-jährigen Ernst Lossa, der 1929 in Augsburg als Kind von fahrenden Händlern geboren wurde. Seine Eltern sind im süddeutschen Raum mit dem Bauchladen unterwegs: Bänder, Knöpfe, Haushaltswaren, alles Mögliche. Die Geschäfte gehen schlecht, die Familie ist bettelarm. Als 1933 Adolf Hitler die Macht übernimmt, geraten wandernde Händler schnell ins Visier der Nationalsozialisten. Die Familie Lossa fühlt sich den Jenischen zugehörig, diese Volksgruppe wird ebenso wie die Roma und Sinti verfolgt.

Die Lage spitzt sich im Sommer 1933 zu: Die Mutter ist hochschwanger und an Tbc erkrankt. Die Nazibürokratie reißt die Familie auseinander. Der vierjährige Ernst und seine beiden jüngeren Schwestern werden in verschiedene Heime gesteckt. Damit beginnt der Leidensweg für den kleinen Ernst. Zunächst verbringt er seine Kindheit in einem katholischen Waisenhaus, dann wird er in ein nationalsozialistisches Erziehungsheim abgeschoben. Ernst erfährt, dass seine Mutter und der jüngste Bruder gestorben sind. Dass sein Vater im KZ Dachau inhaftiert ist, ahnt er. Klauen wird zu seiner heimlichen Leidenschaft. In Verstecken bewahrt Ernst das auf, was nur ihm gehören soll, und schafft sich so seine kleine private Welt. »Liebevoll streichelt er die Kostbarkeiten, die Murmeln und Münzen, das Taschenmesser, den Zinnsoldaten, den Rosenkranz und das HJ-Bilderbuch. Jeden Gegenstand nimmt er in die Hand, riecht daran mit geschlossenen Augen.« Der kleine Dieb wird erbarmungslos bestraft, als »unerziehbar« und »hinterlistig« eingestuft, als »haltloser Psychopath«.

Obwohl er weder behindert ist noch geisteskrank, wird er am 20. April 1942 in die Allgäuer »Heil- und Pflegeanstalt« von Kaufbeuren überführt, in der geistig und körperlich Schwer- und Schwerstbehinderte wie Gefangene gehalten werden. Der Junge erkennt schnell, dass hier Kinder und Jugendliche von Ärzten und Pflegern systematisch umgebracht werden. Und er weiß, dass er selber in Gefahr ist. Aus dieser Klinik gibt es für ihn kein Entkommen. Am Ende wird Ernst Lossa im Alter von 14 Jahren mit zwei Injektionen ermordet.

Fünf Jahre lang hat Robert Domes die Lebensgeschichte des Jungen recherchiert, in Archiven geforscht, Zeitzeugen, auch die beiden heute noch lebenden Schwestern, befragt. Fakten- und detailreich dokumentiert Robert Domes das Leben in den Anstalten. Vom Jungen Ernst Lossa kannte Domes lediglich die in Akten festgehaltenen Aussagen von Ärzten und Erziehern. Was der Junge empfunden und gedacht, welche Hoffnungen er gehabt hat, deutet Robert Domes mit den Mitteln des Romans. Ein Wagnis, das aufgeht: Es entsteht eine beeindruckende Nähe zwischen Leser und Protagonist.

Robert Domes lässt den Jungen, trotz der bedrückenden Lebensgeschichte, bisweilen ein kleines Glück erleben: Sein Ernst Lossa ist auch lustig, macht Unfug. Er setzt sich für andere ein, erlebt Freundschaften, verliebt sich in eine Leidensgenossin. Bei ein paar Pflegern ist er beliebt, zu einem von ihnen kann er ein fast vertrautes Verhältnis aufbauen. Ihm schenkt er einen Tag vor seinem Tod eben jene Fotografie, die den Leser jetzt von Domes? Buch anschaut: »Zum Andenken« hatte Ernst hinten auf das Bild geschrieben.

Robert Domes: Nebel im August
Die Lebensgeschichte des Ernst Lossa; (ab 12 Jahren); cbt-Verlag, 2008; 349 S., 7,95 ?

Der Artikel stammt aus der aktuellen ZEIT (2008/33)


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