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Antisemitische Querfronten

Antisemitismus ist und bleibt aktuell. „Alle verharren schweigend im Reden. Und doch ist er da, genau wie immer, dieser Antisemitismus aus dem Gefühl.“ Dabei befindet er sich auf Wanderschaft zwischen rechts-Mitte-links und erzeugt spannungsreiche Querfronten.

 

Ein Kommentar von Anetta Kahane

Eigentlich müsste sich das Thema Antisemitismus längst erledigt haben. Denn das, was seit Jahrhunderten an Juden verhasst war, ihre auf ständiges Lernen beruhende intellektuelle und räumliche Beweglichkeit, ihre pragmatische Nähe zum Leben und realer Menschlichkeit, ihre Eigenverantwortung als Individuen, selbst bis in tiefste Religiosität hinein, ihr Kosmopolitismus also, ist längst zur Alltagskultur, ja zur Lebensbedingung in der globalisierten Welt geworden. Die Dinge, für die Juden einst so gehasst wurden, dass sie zur fast beliebigen Projektionsfläche für alles Böse wurden, werden heute von der Moderne geschätzt, sogar gefordert. Aber Antisemitismus hatte noch nie etwas zu tun mit dem Verhalten der Juden. So konnte auch nichts, was sie taten, den Hass verhindern. Erstaunlich aber: Je mehr die modernen Gesellschaften selbst gezwungen waren, flexibel, global und pragmatisch zu handeln, desto heftiger wurde der Antisemitismus, der sich aus der Beweglichkeit und dem Kosmopolitismus speiste ? beides erwies sich als die ständige Quelle des ?Gerüchts über die Juden? ? wie es Theodor Adorno zusammenfasste ?und als Quelle vermeintlicher Verschwörungen speiste.

Gewiss: der Holocaust ist damit allein nicht zu erklären und bildete doch den vorläufigen Höhepunkt des Judenhasses. Heute ist die Welt ein globales Dorf. Hat sich der Antisemitismus dabei verändert? Was ist geschehen in den letzten Jahren? Nicht irgendwo, sondern hier, direkt vor der Haustür?

Als vor wenigen Jahren in diesem Land die Juden noch verschämt Deutsche jüdischen Glaubens genannt wurden, fühlte sich der Antisemitismus härter und präsenter an als heute. Es war die Zeit nach dem 11. September, zu Beginn des Irakkriegs und einer heftig ausgebrochenen Kontroverse um Israel. Kaum eine Gesprächsrunde kam aus ohne Aggressivität gegenüber den Juden, der ?Israel-Lobby?, ihrer Rolle bei den Neocons und an der Wallstreet oder in den Medien. Israel verwandelte sich zum gefährlichsten Land der Welt, es war verantwortlich für Terror, Islamismus, Aids und natürlich auch für den Antisemitismus.

Die begehrtesten Zeugen dafür waren ? und sind es auch heute – einige Juden, deutschen Glaubens, die in den Chor jener Israelhasser einstimmten, der hierin die beste Art später Schuldumkehr sahen. Dies betraf besonders solche, die sich selbst als ?links? bezeichneten. Die alte ideologische Figur des jüdisch-kapitalistisch-imperialistischen Drahtziehers, der zwischen den USA und Israel voller Bosheit Völker (wie das palästinensische) unterdrückt und aussaugt, trat wieder ans Tageslicht, beglaubigt von jüdischen Kronzeugen.

Und heute? Der Antisemitismus ist auf Wanderschaft gegangen. Zuerst wurde er natürlich ganz rechts identifiziert, das war einfach. Dann eroberte er die Mitte, wieder ?salonfähig? hieß er da. Derzeit diskutiert man den linken Antisemitismus. Das ist schon recht und entspricht der Realität, neu dabei sind jedoch die Querfronten. Neu ist auch die Tatsache, dass Antisemitismus durch das Zerreden in der Wirklichkeit aus der Alltagswahrnehmung verloren zu gehen scheint. Niemand staunt, wie sich zwischen antiimperialistischen Linken und Anhängern von Hamas und Hizbolla eine Querfront gemeinsamen Judenhasses aufgebaut hat. Daran beteiligen sich auch die Rechtsextremen gern. Ihr antiimperialistischer und antisemitischer Impetus ist von dem vieler dieser Linken und auch dem der Islamisten kaum zu unterscheiden. Aber selbst die taktische Abgrenzung voneinander ist fast verschwunden. Diese Querfront kreist die Mitte ein, und beeinflusst den Mainstream, bis der, wenn auch in sachteren Tönen, antiimperialistisch wird.

Auf der anderen Seite kämpfen die Freunde Israels mit zum Teil harten Bandagen gegen Antisemitismus. Und gegen den Islam. Hier kommt es unter dem Banner einer klischeehaften Islamfeindlichkeit ebenfalls zu Querfronten. Bedauerlich, aber wahr, ist, dass auf diese Weise die alte, gescheiterte und dumme Haltung von einst wieder aufblüht: ?Wir ignorieren die Ausländer solange, bis sie zum Problem werden und verlangen dann, dass sie verschwinden?. Nur wird dabei aktuell der Islam vorgeschoben. Und dessen Antisemitismus. Inzwischen also haben sich viele Akteure ein Bild gemacht, eine ideologische Position bezogen und bekannt. Und es gibt ausreichend Anlässe, Konferenzen, Gremien und Kommissionen, die Positionen auszutauschen, einschließlich der, eine Parallelität zwischen Antisemitismus und der sogenannten Islamophobie zu erfinden, wie es unlängst Wolfgang Benz vom Zentrum für Antisemitismus tat.

Vom realen Antisemitismus und seiner Wahrnehmung im Alltag ist allerdings nicht mehr die Rede, gerade noch von seinen Deutungen. Alle verharren schweigend im Reden. Und doch ist er da, genau wie immer, dieser Antisemitismus aus dem Gefühl. Die Jugendlichen in Berliner Schulen, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, schweigen nicht. Nur ihr Umfeld tut es. So gibt es unter den hunderten Angeboten zur Lehrerfortbildung kein einziges, das sich mit aktuellem Antisemitismus beschäftigt. Woran liegt diese Ignoranz? An Ratlosigkeit angesichts der ausgelegten Minenfelder der verschiedenen Argumentationsfallen? Oder ist doch etwas anderes, das noch am Holocaust hängt?
Vielleicht jedoch fehlt genau das, was immer fehlte: die Idee und die Haltung einer lernenden Beweglichkeit, eine pragmatische Nähe zum Leben und realer Menschlichkeit, Eigenverantwortung und ein Kosmopolitismus, der einschließt und nicht ausschließt. An dem globalen Ort Deutschland.

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