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NS-Vergangenheit Marinus van der Lubbe: Hinrichtung: 10. Januar 1934. Freispruch: 10. Januar 2008

Fast genau 75 Jahre nach dem Reichstagsbrand ist das Urteil des Reichsgerichts Leipzig gegen den damals als Brandstifter bezichtigten Marinus van der Lubbe aufgehoben worden. Eine späte Einsicht der Justiz, Naziunrecht aufzuheben.

 

Außerdem sei das Strafverfahren gegen den am 10. Januar 1934 hingerichteten Niederländer eingestellt worden, teilten der Berliner Anwalt Reinhard Hillebrand und die Bundesanwaltschaft mit. Sie veröffentlichte am 10. Januar 2008 folgende Mitteilung:

„Die Bundesanwaltschaft hat am 6. Dezember 2007 festgestellt, dass das Urteil gegen den im „Reichstagsbrandprozess“ verurteilten Marinus van der Lubbe aufgehoben ist. Dem niederländischen Staatsangehörigen Marinus van der Lubbe war zur Last gelegt worden, am 27. Februar 1933 den Reichstag und zuvor andere öffentliche Gebäude in Berlin in Brand gesetzt zu haben. Das Reichsgericht hatte ihn deshalb im sogenannten „Reichstagsbrandprozess“ am 23. Dezember 1933 wegen Hochverrats und Brandstiftung zum Tode verurteilt. Er wurde am 10. Januar 1934 hingerichtet.
Die Aufhebung des Urteils beruht auf dem Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August 1998. Die Feststellung der Aufhebung erfolgte von Amts wegen; sie wurde durch einen Berliner Rechtsanwalt angeregt. Das Urteil unterliegt der Aufhebung, weil die Verhängung der Todesstrafe auf zwei spezifisch nationalsozialistischen Unrechtsvorschriften beruht, die zur Durchsetzung des nationalsozialistischen Regimes geschaffen worden waren und die Verstöße gegen Grundvorstellungen von Gerechtigkeit ermöglichten.
Dies gilt zum einen für die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933. Diese Vorschrift führte bei Straftaten wie den dem Angeklagten zur Last gelegten die Todesstrafe ein. Das Gesetz über die Verhängung und den Vollzug der Todesstrafe vom 29. März 1933 bestimmte zudem, dass diese Verschärfung der Strafe auch rückwirkend auf Taten anzuwenden sei, die vor dem 28. Februar 1933 begangen worden waren. Erst durch Anwendung dieser Vorschriften gelangte das Reichsgericht dazu, gegen den Angeklagten die Todesstrafe zu verhängen. Unberührt bleibt das Urteil hingegen hinsichtlich der vier freigesprochenen Mitangeklagten, darunter des späteren bulgarischen KP-Chefs Dimitroff“.

Die NS-Justiz hatte dem damals 24- jährigen Niederländer van der Lubbe und zugleich einer Reihe führender Kommunisten zur Last gelegt, am 27. Februar 1933 den Reichstag und zuvor andere öffentliche Gebäude in Berlin in Brand gesetzt zu haben. Das Reichsgericht hatte van der Lubbe deshalb im so genannten „Reichstagsbrandprozess“ am 23. Dezember 1933 wegen Hochverrats und Brandstiftung zum Tode verurteilt, in den anderen Verfahren gab es Freisprüche.

Van der Lubbes angebliche Tat war stets umstritten – vielen Experten erschien es unwahrscheinlich, dass ein Täter wie Lubbe allein ein Feuer in diesem Ausmaß gelegt haben könne. Den Nazis wiederum kam der Reichstagsbrand für ihre antikommunistische Propaganda auffallend gelegen – und für ihr Ziel, die Demokratie abzuschaffen. Der Berliner Anwalt Hillebrand meint: „Alleine mit einem Todesurteil gegen van der Lubbe konnte nachträglich die Aushebelung der Verfassung durch die Nationalsozialisten gerechtfertigt werden.“

Nazis starteten Verfolgung Andersdenkender

Rund einen Monat zuvor war Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden. Im brennenden Parlament wurde der niederländische Linksanarchist Marinus van der Lubbe festgenommen, der in den Tagen zuvor wegen kleiner Brandstiftungen in berlin aufgefallen war. Er gab an, die Brandstiftung allein unternommen zu haben, um die deutsche Arbeiterschaft zum Widerstand gegen das NS-Regime aufzurufen. Die Nationalsozialisten zeigten sich jedoch öffentlich überzeugt, das es sich um eine Verschwörung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) handelte und funktionalisierten van der Lubbes vermeintliche Tat. Noch in der Brandnacht ließ Hermann Göring als kommissarischer preußischer Innenminister verlogen verbreiten, der „Beginn des kommunistischen Aufstandsversuches“ stehe unmittelbar bevor. Daraufhin wurde die Verfolgung Andersdenkernder erheblich verschärft. Zehntausende Oppositionelle wurden innerhalb der nächsten Wochen in „Schutzhaft“ genommen und in improvisierte Konzentrationslager (KZ) verschleppt. Eine „Legalisierung“ erfuhr die Verfolgung durch die Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933. Die von Reichspräsident Paul von Hindenburg auf Empfehlung des Kabinetts erlassene Notverordnung setzte die wesentlichen Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft.

 

NSDAP-Flugblatt zum Reichstagsbrand 1933

NSDAP-Flugblatt zum Reichstagsbrand 1933, c DHM

Reichstagsbrand und Nazi- Reaktion greifen so exakt ineinander, dass es nahe lag, den Brand als Inszenierung der Nazis zu verstehen, die zu diesem Zeitpunkt zwar die stärkste Fraktion im Parlament und den Reichskanzler stellten, aber noch nicht die Alleinherrschaft besaßen. Noch stand die Reichstagswahl vom 5. März 1933 bevor, die Hitlers eben errungene Position schnell wieder zunichte machen konnte.

Bruder scheiterte mehrmals vor Gericht

Nach dem Krieg war das ursprüngliche Todesurteil gegen den Niederländer zunächst im April 1967 vom Berliner Landgericht teilweise abgeändert und zu acht Jahren Zuchthaus umgewandelt worden. Dagegen hatten sowohl die Generalstaatsanwaltschaft wie auch der Bruder Jan van der Lubbe Beschwerden eingelegt, die aber verworfen wurden. Ein weiterer Wiederaufnahmeantrag des Bruders hatte zwar zunächst Erfolg und van der Lubbe wurde 1980 freigesprochen, doch entschied der Bundesgerichtshof drei Jahre später, dass die Wiederaufnahme des Verfahrens von 1967 unzulässig gewesen sei und der damalige Beschluss damit Bestand habe.

Die jüngste Entscheidung der Generalbundesanwältin basiert auf dem sogenannten Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile aus dem Jahr 1998 – es räumt der Bundesanwaltschaft ausdrücklich die Möglichkeit eines entsprechenden Vorgehens ein. Kurioserweise hat dies in diesem Fall aber noch einmal 10 Jahre gedauert und ging nicht direkt von der Bundesanwaltschaft aus. Der Berliner Anwalt Reinhard Hillebrand hatte den Antrag zur Freisprechung gestellt, woraufhin die Generalbundesanwältin das historische Strafverfahren negierte. Die Verhängung der Todesstrafe 1934 habe auf zwei spezifisch nationalsozialistischen Unrechtsvorschriften beruht. Diese seien geschaffen worden, um das Nazi-Regime durchzusetzen, und ermöglichten die Verstöße gegen Grundvorstellungen von Gerechtigkeit. Eine späte Einsicht. Marinus van der Lubbe nützt sie nichts mehr.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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