Wir stehen am Scheideweg. Im kommenden Jahr finden in vier Bundesländern Landtagswahlen statt. In Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg droht der AfD die breite Normalisierung des Rechtsextremismus zu gelingen, die ihr im Westen bisher verwehrt blieb. Umfragen sehen die Partei in beiden Ländern bei rund 20 Prozent. Das Tabu, extrem rechts zu wählen, fällt nun mit einiger Verzögerung auch zunehmend im deutschen Westen. Im Osten wiederum ist die Lage noch dramatischer. Bei den Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt wird die AfD nur mit vereinten demokratischen Kräften von der Regierungsbeteiligung fernzuhalten sein. Umfragen sahen die Rechtsextremisten in Sachsen-Anhalt zuletzt bei 40 Prozent. Plötzlich scheint nicht mal eine absolute Mehrheit ausgeschlossen. In jedem Fall drohen politische Instabilität und der Eindruck von Unregierbarkeit, sollten die demokratischen Parteien bei der Bündnisbildung scheitern. Die Lage ist ernst. Es braucht eine Strategie und den festen politischen Willen, mit vereinten Kräften den Angriff auf die Demokratie von rechts abzuwehren. Doch davon ist nichts in Sicht. Stattdessen schwenkt man im demokratischen Lager immer häufiger die weiße Fahne.
Michael Kraske lebt als Journalist und Buchautor in Leipzig. Zuletzt erschien von ihm bei C.H.Beck „Angriff auf Deutschland – Die schleichende Machtergreifung der AfD“ (mit Dirk Laabs). Der Autor wurde mehrfach für seine publizistische Arbeit ausgezeichnet, zuletzt mit dem Spezialpreis der Otto-Brenner-Stiftung für kritischen Journalismus.
Wie naiv, unreflektiert und verantwortungslos im politischen Diskurs mitunter agiert wird, hat exemplarisch der Verband der Familienunternehmer gezeigt. Völlig ohne Not signalisierte deren Präsidentin Marie-Christine Ostermann demonstrativ Gesprächsbereitschaft mit der AfD. Leichtfertig erklärte die Verbands-Chefin die Brandmauer für gescheitert: „Die Hoffnung, ein Viertel der bundesdeutschen Wähler durch moralische Ausgrenzung zur Umkehr zu bewegen, ist nicht aufgegangen. Jetzt hilft nur noch die Auseinandersetzung mit den Inhalten der AfD – jenseits von schlichten Kategorisierungen in ‚gut‘ und ‚böse´“. Ein hartnäckiges Missverständnis lautet, man müsse mit Rechtsextremen einen Dialog führen. Die wollen aber keinen Diskurs, sondern zerstören ihn. Und zwischen liberaler Demokratie und völkischem Nationalismus kann und darf es keine Kompromisse geben.
Die Ausgrenzung der AfD basiert eben nicht auf einem Bauchgefühl, sondern auf ihrer tausendfach belegten Demokratiefeindlichkeit. Völkischer Nationalismus? Rassismus? Geschichtsrevisionismus? Systematische Angriffe auf die Menschenwürde? Antipluralismus? Putin-Nähe? Verschwörungsideologien? Diese Inhalte der AfD gilt es nicht mit ihnen zu diskutieren, sondern zu bekämpfen. Abgesehen davon, dass die entsprechenden Themen und Thesen in den politischen TV-Talkrunden längst rauf und runter diskutiert werden. Übrigens mit und ohne AfD-Politiker*innen. Geradezu fahrlässig ist es, die vielbeschworene Brandmauer aufgrund des anhaltenden Erfolgs der AfD schleifen zu wollen. Rechtsextremismus bleibt auch dann kategorisch falsch, wenn er mehrheitsfähig wird. Im Gegenteil wird er dann erst richtig gefährlich. Nach massiver Kritik und dem Austritt von Rossmann und Vorwerk aus dem Verband, ruderten die Familienunternehmer bekanntlich zurück und setzten das alte Abstandsgebot wieder in Kraft. Das Signal dieses Schlingerkurses: maximale Orientierungslosigkeit. Leichter kann man es der AfD, die sich jahrelang weiter radikalisiert hat, nicht machen.
Begleitet werden diese gesellschaftlichen Ermüdungserscheinungen von einer publizistischen Offensive, die einer gefährlichen Normalisierung der AfD das Wort redet. Spiegel-Kolumnistin Sabine Rennefanz fand den neuen AfD-Kuschelkurs des Familienunternehmer-Verbands ermutigend. Sie durfte ihren laut Markus Lanz „erfrischend anderen Blick auf das Land“ in dessen ZDF-Talkshow dann auch gleich nochmal einem Millionenpublikum näherbringen. Auffällig ist bei diesen prominenten Beschwichtigungen, die vollständig ausblenden, was die AfD ist und was sie mit diesem Land vorhat, die Perspektive aus dem publizistischen Elfenbeinturm. Der Klassiker: Die meisten AfD-Wähler seien keine Rechtsextremen. Nein, aber sie ermächtigen Rechtsextreme. In einem Focus-Gastkommentar formuliert der Ex-Spiegel-Journalist Gabor Steingart eine vergiftete Gleichsetzung: „Die Feinde der AfD sind ihr ähnlicher als uns recht sein kann.“ Damit rückt er aufrechte Demokrat*innen in die Nähe jener Extremisten, die anderen systematisch die Würde absprechen und die demokratische Konkurrenz als „Altparteien“ delegitimieren. Der Publizist versteigt sich gar zu der These: „Die Brandmauer entwickelt sich immer mehr zum Brandbeschleuniger.“
Bezeichnenderweise finden die realen Brandbeschleuniger kaum Beachtung. Die Zahl der rechts motivierten Delikte stieg 2024 um fast 48 Prozent. Aus der sicheren Distanz des Berliner Hauptstadtjournalismus bleiben jene Angehörigen von Minderheiten unerhört und unsichtbar, die sich aufgrund wachsender Anfeindungen, Drohungen und Übergriffe längst aus digitalen und öffentlichen Räumen zurückziehen. Migrant*innen, queere Personen, Muslime, Betroffene rechter Gewalt, Jüdinnen*Juden und viele andere.
Beunruhigend ist, dass im politischen Diskurs zunehmend eine elementare Lehre aus dem Nationalsozialismus in Vergessenheit gerät, die da lautet: Nie wieder dürfen die Feinde der Demokratie in die Lage versetzt werden, die Demokratie von innen, mit ihren eigenen Mitteln, zerstören zu können. Das bedeutet wehrhafte Demokratie. Es gehört neben der Unempfindlichkeit gegenüber bedrohten Minderheiten auch eine gehörige Portion Geschichtsvergessenheit dazu, wenn kritisiert wird, dass Demokrat*innen nicht bereit sind, AfD-Leute zu Bundestagsvizepräsidenten und Ausschussvorsitzenden zu wählen. Absurderweise wird der AfD die Hand gereicht, ohne sie im Gegenzug auf einen demokratischen Kurs zu zwingen. Während die Appeasement-Publizistik ihren eigenen Pseudo-Liberalismus feiert, verteidigt die AfD-Führung sogar den rechtsextremen Kampfbegriff der „millionenfachen Remigration“. Am Rande des Gründungskongresses der umbenannten AfD-Jugend forderte Parteichef Tino Chrupalla selbst „millionenfache Abschiebung“. Die AfD bedroht massenhaft Menschen. Als Dankeschön rollt man ihr den roten Teppich aus.
In Deutschland wird gebetsmühlenartig wiederholt, Berlin sei nicht Weimar. Damit das richtig bleibt, dürfen sich monströse historische Fehler nicht wiederholen. Übrigens braucht es gar nicht mehr unbedingt den Rückgriff auf 33, um zu wissen, was passiert, wenn Demokratieverächter an die Macht kommen. Dafür reicht ein Blick in die USA. In Echtzeit.
Der Diskurs um die AfD wird aktuell geführt, als schulde die Mehrheit in diesem Land einer lauten, wütenden Minderheit allein schon deshalb etwas, weil diese Leute völkischen Nationalisten ihre Stimme geben. Dabei werden nicht nur die Interessen und Rechte von vielen Millionen Menschen mit einer Migrationsgeschichte ignoriert, die von der AfD angegriffen werden, sondern auch die der demokratischen Mehrheit. Nämlich von allen, die weiterhin frei lieben und leben wollen. Die Schulen mit Sexualkunde und die wissenschaftliche Evidenz zum Klimawandel erhalten möchten. Und eine gesellschaftskritische Kunst und Kultur. Die berechtigte Angst davor haben, dass demnächst Polizei und Justiz rechtsextremen Minister*innen unterstellt werden könnten. All das steht auf dem Spiel. Nicht nur in Sachsen-Anhalt.
Deutschland geht tief verunsichert in das kommende Jahr der Richtungsentscheidungen. Die Wirtschaft kriselt, es droht neue Massenarbeitslosigkeit, in der Migrant*innen erwartbar noch stärker zu Sündenböcken gemacht würden als ohnehin schon. Anfang des Jahres wurde das Mono-Thema Migration kurzfristig von den Angriffen der Union und des Springer-Verlags auf die Zivilgesellschaft überlagert. Es wurde der Eindruck erweckt, staatliche Demokratieförderung sei etwas Anrüchiges. Nun, am Jahresende, kämpfen wieder ganz viele zivilgesellschaftliche Organisationen um die finanzielle Existenz. Ein Demokratiefördergesetz, das sie langfristig absichern würde, ist politisch gar kein Thema mehr. Im Kampf um die Demokratie steht es nicht gut. Einerseits.
Auf der anderen Seite gibt es das andere Deutschland, das vor einem Jahr millionenfach auf die Straße ging, um gegen die AfD und gegen gemeinsame Abstimmungen mit ihr zu demonstrieren. Auch diese Menschen sind wütend. Auch sie sind besorgt und zunehmend verzweifelt. Weil sie sich weder von der Politik noch von den Medien ernst genommen und abgebildet fühlen. Während auf den TV-Talkshowbühnen in Dauerschleife über Migration und angeblich „verengte Meinungskorridore“ diskutiert wird, bleiben diese Menschen außen vor. Viele von ihnen engagieren sich in Kirchen, Schulen, Vereinen und Initiativen täglich für die Demokratie. Sie beraten Geflüchtete oder Opfer von Hetze und rechter Gewalt. Ich treffe sie überall in Deutschland bei meinen Lesungen und Vorträgen über „die schleichende Machtergreifung der AfD“. Sie füllen Gemeindesäle in Neckargmünd (Baden-Württemberg) oder Herrnhut (Sachsen) an der deutsch-polnischen Grenze, wo die AfD bei Wahlen fast 50 Prozent holt. Die Menschen, mit denen ich ins Gespräch komme, sind bereit, für diese Demokratie einzutreten und sie zu verteidigen. Oft sind es die Kirchen, die ihnen den Raum für diese demokratischen Dialoge zur Verfügung stellen.
Jetzt braucht es in allen gesellschaftlichen Bereichen größere Solidarität, besseren Zusammenhalt, neue Netzwerke und Bündnisse. Es braucht neue Strategien, kreative Formate in sozialen Medien, finanzielle und personelle Ressourcen für professionelle Kampagnen, um politischen Druck von unten zu erzeugen. Ein autoritärer Tsunami rollt auf uns zu. Viele ahnen das und wollen handeln, werden aber von den großen gesellschaftlichen und politischen Playern hängengelassen.
Es ist die Aufgabe von Politik und Medien, die besonnenen Stimmen der millionenfach Überhörten im kommenden Jahr der Entscheidungen laut zu stellen. Und es ist die Aufgabe der großen Akteure aus Wirtschaft und Gesellschaft, sich an ihre Seite zu stellen. Völkischer Nationalismus zerstört Menschen. Er ruiniert nicht nur das Zusammenleben, sondern auch die Wirtschaft. Wenn er jetzt wieder groß und scheinbar übermächtig wird, kann es nur eine Antwort darauf geben: Demokratische Gegenwehr.


