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Solingen Staatliches Versagen und die Einsamkeit der Überlebenden

Rechter Terror wird oft nicht erkannt, nicht benannt, nicht verhindert. Warum die Tat in Solingen Teil einer brutalen Kontinuität ist und die Betroffenen ein zweites Mal allein gelassen werden.

 
Am 25. März 2024, setze Daniel S. ein Wohnhaus in Solingen in Brand. In dem Feuer stirbt das türkisch-bulgarisch stämmige Ehepaar, Kancho Emilov Zhilov und Katya Todorovo Zhilova und ihre beiden Töchter, Galia Kancheva Zhilova (drei Jahre) und Emily Kancheva Zhilova (ein Jahr). (Quelle: Adalet Solingen)

Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten zahlreiche rechtsextreme Gewalttaten erlebt: vom rassistischen Brandanschlag in Mölln 1992, über Solingen 1993, Duisburg 1984 bis zu den NSU-Morden, dem Anschlag in Halle oder dem Terror in Hanau. Immer wieder wurde dabei deutlich, dass rechtsextreme Taten häufig nicht sofort als solche erkannt, benannt oder konsequent verfolgt wurden. Strukturelle Blindstellen in den Sicherheitsbehörden, unzureichende Ermittlungsansätze und die Weigerung, ideologische Motive zu sehen, gehören bis heute zum deutschen Problem mit rechtem Terror. Vor diesem Hintergrund muss auch der Brandanschlag in Solingen im März 2024 betrachtet werden: als Teil einer gefährlichen Kontinuität – und als erneuter Weckruf, endlich konsequent gegen rechte Gewalt vorzugehen. Doch auch hier wiederholt sich ein bitteres Muster: Die Betroffenen bleiben oft allein – mit ihrer Trauer, ihrem Schmerz und ihrer Wut.

Solingen 2024: Eine Stadt erlebt das Unfassbare

Am 25. März 2024 setzt Daniel Gerrit S. ein Wohnhaus in Solingen in Brand. In dem Feuer sterben vier Menschen: das türkeistämmige Ehepaar aus Bulgarien Kancho Emilov Zhilov und Katya Todorovo Zhilova sowie ihre beiden kleinen Töchter Galia und Emily. 21 weitere Bewohner*innen mit Migrationsgeschichte werden verletzt. Ayşe und Nihat Kostadinchev sowie ihr sieben Monate altes Baby Salih überleben schwer verletzt, indem sie aus dem dritten Stockwerk aus dem Fenster springen. Nihat muss mehrfach reanimiert werden, Ayşe wurde seitdem bereits 16-mal operiert: Hauttransplantationen, komplizierte Knochenbrüche, langwierige psychologische Betreuungen. 

Die körperlichen Wunden sind tief, doch noch gravierender sind die seelischen. Viele der Überlebenden sind heute schwer traumatisiert. Sie leiden unter Flashbacks, Angststörungen, Schlafstörungen und Depressionen. Der kleine Salih vermeidet seinen Vater und will seit dem Sprung aus dem Fenster nicht mehr auf seinen Arm. Vielleicht weil er sich erinnert, wie sein Vater ihn während des Brandes gepackt, in einer Decke gewickelt und mit ihm auf den Arm über 10 Meter tiefer auf ein Auto geknallt ist. Salih hatte schwere Verbrennungen und mehrere Rippenbrüche vom Sprung. 

Manche Familien aus dem Haus sind dauerhaft auf psychologische Betreuung angewiesen. Ihre Erzählungen, ihre Ängste, sie finden selten Platz in der medialen oder politischen Debatte. Der Fokus liegt auf dem Täter, auf Strafmaß, auf juristischen Fragen. Doch das, was die Betroffenen fühlen, der Verlust, die Hilflosigkeit, das Gefühl, nicht geschützt gewesen zu sein – wird oft übergangen.

Der Anschlag nach dem Anschlag

Der Prozess vor dem Landgericht Wuppertal, der im Januar 2025 begann, ist für viele Überlebende und Angehörige ein zweiter Angriff: ein psychischer. Immer wieder müssen sie sich die Bilder anschauen, die Details, die rassistischen Chatnachrichten des Täters anhören. Wieder und wieder werden sie mit dem Schrecken konfrontiert. Und schlimmer noch: Die Nicht-Anerkennung des politischen Motivs, das monatelange Schweigen zu rassistischen, rechtsextremen und antisemitischen Inhalten, das Fehlen von Empathie im Prozessverlauf, das alles ist ein Schlag ins Gesicht. Viele Betroffene sprechen von einem „Anschlag nach dem Anschlag“. Die Belastung durch das Verfahren ist so hoch, dass einige Angehörige an bestimmten Prozesstagen nicht erscheinen können. Die emotionale Kälte des Justizapparats ist retraumatisierend. Die Nebenklagevertreterin Seda Başay-Yıldız versucht, gegen diese Dynamik zu arbeiten. Sie fordert die Anerkennung des politischen Hintergrunds, kämpft um Sichtbarkeit für das Leid der Betroffenen. Sie kämpft gegen massiven Widerstand.

Kontinuität von rechtem Terror

Viele Menschen erinnerten sich unmittelbar nach dem Brandanschlag an den rassistisch und rechtsextrem motivierten Brandanschlag vom 29. Mai 1993 auf das Haus der Familie Genç, bei dem fünf Menschen ermordet wurden. Andere dachten an den Anschlag mit zwei Molotowcocktails auf das Haus von Sibel İ. am 20. Oktober 2021. Am 9. Juni 2024 dann ein Brandanschlag auf ein Mehrfamilienhaus in der Wittkullerstraße, in dem hauptsächlich rumänische Familien wohnten. Aber auch der Messerangriff am Fronhof vom 23. August 2024 mit drei Toten lässt vielen Menschen den Atem stillstehen. Solingen, so scheint es, wird zum wiederholten Schauplatz tödlicher Gewalt, überwiegend gegen Menschen mit Migrationsgeschichte. Und wieder sind es die Betroffenen, die um Anerkennung, um Gerechtigkeit und um ihre Geschichte kämpfen müssen.

Daniel Gerrit S. wurde im Januar 2025 vor dem Landgericht Wuppertal angeklagt, nicht nur wegen des tödlichen Brandanschlags, sondern auch wegen zwei weiterer Brandstiftungen in Solingen sowie eines Macheten-Angriffs auf einen Freund.

„Es kann nicht sein, was nicht sein darf“ und die Angst vor der Wahrheit

Solingen hat mit dem Anschlag vom 25. März 2024 eine unmögliche Tatsache erlebt, eine, die man lieber verdrängt. „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“, diese Haltung zieht sich wie ein roter Faden durch die Reaktionen auf die Tat. Die Grenzen der Vorstellungskraft, gepaart mit dem Unwillen, ein rechtsextremes Motiv in Betracht zu ziehen, führten zu einem gefährlichen Ermittlungsversäumnis. Die 166 auf USB-Sticks und Festplatten gefundenen Dateien voller Nazi-Propaganda, rassistischer Hetze und entmenschlichender Bildmontagen belegen eine ideologische Radikalisierung des Täters. Und doch wurden sie nicht durch Ermittlungen entdeckt, sondern nur durch das hartnäckige Insistieren der Nebenklageanwältin Başay-Yıldız. Ein Versagen mit System.

Staatsversagen und eine Chance zur Wahrheit

Die Tatsache, dass zentrale Beweismittel nicht aus Eigeninitiative der Ermittlungsbehörden in den Prozess eingeführt wurden, bringt das Gericht und die Strafverfolgungsbehörden in eine missliche Lage. Für Solingen wäre es ein schwerer Schlag, sich nach dem Brandanschlag von 1993 erneut mit einer rechtsextremen Gewalttat auseinandersetzen zu müssen. Doch gerade deshalb braucht es jetzt Mut zur Wahrheit: Ermittlungsfehler müssen eingeräumt, politische Hintergründe benannt und das Leid der Betroffenen endlich ernst genommen werden. Nur so kann die Stadt und die Gesellschaft wirklich aus der Vergangenheit lernen.

Nazis erkennen wir heute nicht mehr nur an ihren Bomberjacken. Sie radikalisieren sich leise in Chatgruppen, auf sozialen Plattformen, im stillen Kämmerlein. Die Sprache wird brutaler, der Hass normalisiert sich. Und irgendwann brennt ein Haus. Oder vier Menschen sterben. Diese Realität muss benannt werden, nicht als Einzelfall, sondern als strukturelles Problem.

Der Fall Solingen 2024 zeigt: Die Stimmen der Betroffenen muss endlich im Zentrum stehen. Ihre Perspektive, ihr Schmerz, ihre Trauer, sie müssen gehört, anerkannt, geschützt werden. Es braucht gesellschaftliche Solidarität, öffentliche Sichtbarkeit und vor allem: politische Konsequenzen. Denn eines darf sich niemals wiederholen: Dass Menschen in Deutschland sterben müssen, weil sie ausgegrenzt, entrechtet und entmenschlicht werden, weil sie nicht als Teil dieser Gesellschaft gesehen werden. Und dass ihr Leid, ihre Angst, ihre Stimmen zwar im Gerichtssaal zur Sprache kommen, aber außerhalb kaum Beachtung finden. Es darf nicht sein, dass Betroffene nach einem Anschlag auch noch mit Gleichgültigkeit, Schweigen oder strukturellem Versagen konfrontiert werden – als wäre ihr Schmerz eine Randnotiz, ihr Leben weniger wert.

 

Hier geht es zu den Prozessberichten von Adalet Solingen: 

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