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Islamismus Syrien ist nicht sicher, weder dort noch hier

Am 8. Dezember 2024 um 06:18 Uhr wurde der Sturz des Assad-Regimes bekanntgegeben – ein Datum, das man in syrischen Geschäften sogar als Souvenir kaufen kann. Doch für wen bedeutet dieser Sturz eine „Befreiung“ und für wen nur Elend? Und welche Auswirkungen haben die Massaker des neuen Regimes gegen die Minderheiten in Deutschland?

 
Der neue syrische Übergangspräsident Ahmad al-Sharaa gehört zur islamistischen Haiʾat Tahrir al-Sham (HTS). (Quelle: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Uncredited)

Syrien gerät wieder in den Fokus der internationalen Politik; nicht wegen Diskussionen über Demokratisierungsprozesse, sondern wegen der zunehmenden Massaker an Minderheiten durch das islamistisch orientierte Regime der Haiʾat Tahrir al-Sham (HTS, dt. Komitee zur Befreiung Syriens), dessen Entstehungsgeschichte in salafistisch-jihadistischer Ideologie verwurzelt ist. Anfangs war es ein syrischer Ableger der Terrororganisation „Islamischer Staat“, später trat es als Teil von al-Qaida auf, bis es 2017 den organisatorischen Bruch erklärte. Dennoch blieb die ideologische Nähe bestehen. Trotz seiner extremistischen Ausrichtung gelingt es dem HTS-Regime, sich außenpolitisch zu legitimieren, während es im Inneren mit erheblichen Problemen konfrontiert ist.

HTS an der Macht – ein salafistisches Regime mit neuer Fassade

Das neue Regime versucht, sein jihadistisches Image und seine gewalttätige Vergangenheit zu relativieren. Statt sich kritisch mit der eigenen salafistischen Ideologie auseinanderzusetzen, verfolgt es eine Strategie der äußeren Inszenierung. HTS-Männer tragen jetzt Anzüge und Krawatten, kürzen ihre Bärte, und manche geben Frauen zur Begrüßung sogar die Hände, um den Eindruck zu erwecken, das Regime habe nun die Mentalität einer Staatsführung entwickelt und entferne sich vom islamistischen Weltbild. Doch das Handeln dieses Regimes spricht eine andere Sprache: Die salafistische Ideologie ist unverändert und damit nicht nur für Minderheiten, sondern auch für viele syrisch-sunnitische bzw. nichtsalafistische Araber*innen eine Gefahr. Denn Salafist*innen verstehen sich als die einzige Gruppe, die den islamischen Glauben wahrhaftig vertritt.

Nach der HTS-Machtübernahme profitieren salafistische Akteur*innen von staatlichen Fördergeldern und kontrollieren Moscheen, Lehrpläne, Predigten, organisierte Straßenmissionen und kostenlose Verteilaktionen. Geschlechtertrennung im öffentlichen Verkehr, die Moralisierung der Kleidung, unerwartete salafistische Predigten in Cafés und Restaurants sowie die Entleerung von Unterhaltungsgeschäften zielen auf eine schleichende Salafisierung der syrischen Öffentlichkeit ab, inspiriert vom Vorbild der Provinz Idlib – dem Hautgebiet der HTS-Macht. Dabei profitieren die Islamist*innen von langjährigen Erfahrungen in der Wissensvermittlung, bürokratischer Infrastruktur und organisierter Missionierungsarbeit. Während sich die Salafisierung in der sunnitischen Bevölkerung ausbreitet, erleben die religiösen Minderheiten wie Alawit*innen und Drus*innen schwere Massaker.

Gezielte Gewalt: das Massaker an der alawitischen Minderheit

Die alawitische Konfession lebt überwiegend in den von Armut betroffenen Küstengebieten im Nordwesten Syriens. Sie stand bzw. steht unter Generalverdacht, Assad-Anhänger*innen zu sein, da die Assad-Familie dieser Konfession angehört. Im März begannen islamistisch motivierte Kämpfer Massakerangriffe gegen Alawit*innen. Aus ganz Syrien wurden Kämpfer mit jihadistischen Rufen in Richtung der Küstengebiete mobilisiert. Laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden dabei mehr als 1.300 Menschen getötet, darunter mindestens 830 Angehörige der alawitischen Minderheit. Zudem kam es vermehrt zu sexualisierter Gewalt gegen Alawitinnen in Form von Vergewaltigung und Entführungen.

Die Gewalt wird mit dem Vorwurf „Fulul al-Nizam“ („Überreste des Assad-Regimes“) und einem angeblich geplanten Militärputsch gegen das HTS-Regime gerechtfertigt: Nach Angaben des von HTS eingerichteten Untersuchungsausschusses versuchten „Assad-Anhänger*innen“, Gebiete an der Küste zu kontrollieren, um einen „alawitischen Ministaat“ zu errichten. Der Vorwurf des „Separatismus“ wird nicht nur gegen Alawit*innen, sondern auch gegen Drus*innen im Südsyrien erhoben, wo in den letzten Tagen ebenfalls Massaker verübt wurden.

„Bist du Druse?“ – eine Frage mit tödlicher Konsequenz

Seit Beginn des Bürgerkriegs haben die Drus*innen in der Provinz Swaida eigene politische Strukturen geschaffen, deren Auflösung von der HTS gefordert wird. Dass die Drus*innen eine solche Aufforderung ablehnen und Sorgen gegenüber der HTS-Macht äußern, ist berechtigt. Denn in der salafistischen Ideologie werden die Drus*innen als „Ungläubige“ betrachtet, gegen die Gewaltanwendung gerechtfertigt ist. Massaker an Drus*innen sind kein neues Phänomen: Im Juni 2015 wurde in Qalb Luzeh in Idlib ein Massaker durch Jabhat al-Nusra (Vorgängerorganisation der HTS) verübt, bei dem 20 Menschen getötet wurden. Ende April 2025 kam es erneut zu Gewalt, diesmal in Jaramana, einem drusisch- und christlich geprägten Vorort von Damaskus. Nach einer Einigung kehrte dort wieder Ruhe ein. Doch die Gewalt gegen Drus*innen setzt sich fort, vor allem in der mehrheitlich drusisch bewohnten Provinz Swaida. Zahlreiche Videos aus Swaida zeigen die Brutalität der jihadistischen Ideologie.

Inhaltswarnung: Es folgen drastische Gewaltdarstellungen

Ein Beispiel: Ein jihadistischer Kämpfer in Militäruniform fragt einen alten Mann, der auf dem Boden liegt und seine Hände hebt: „Was bist du?“ Der Mann antwortet ängstlich: „Ich bin ein Syrer.“ Der Jihadist wiederholt: „Was bedeutet das? Bist du ein Dursi oder ein Muslim?“ Mit zitternder Stimme sagt der Mann: „Ich bin ein Dursi.“ Daraufhin eröffnen die Kämpfer das Feuer auf ihn.

Hunderte Leichen liegen vor dem Nationalkrankenhaus. Sie werden in Massengräbern beigesetzt, da sowohl die logistische Unterstützung als auch die personellen Kapazitäten fehlen. Seit mehreren Tagen ist die Stadt belagert. Die Drus*innen fordern humanitäre Korridore nach Jordanien sowie in die kurdischen Gebiete Nordostsyriens (Rojava), jedoch nicht nach Damaskus, von wo die Massakerangriffe ausgingen. Das Vertrauen der Menschen in die HTS-Regierung ist stark erschüttert.

Die syrische Gesellschaft wurde durch die Mobilisierung arabisch-radikaler Stämme zunehmend polarisiert. Neben Waffen und militärischer Präsenz setzen sie auch Gegenstände wie Scheren, Rasiermaschinen und Klingen ein, um die drusischen Männer zu demütigen, die für ihre Bärte und Schnurbärte bekannt sind. Weitere Entmenschlichungsmethoden, z.B. „Bellen wie Hunde“, werden bei Gefangenen ebenfalls eingesetzt. Während vor allem Männer von solchen Erniedrigungen betroffen sind, leiden die drusischen Frauen unter sexualisierter Gewalt und Entführungen.

Während die Solidarität aus der syrischen Gesellschaft mit allen Opfern kriminalisiert wird, wächst gleichzeitig die Verbreitung von Hass gegen die konfessionellen Minderheiten, die existenzielle Angst haben. Auch ethnische Minderheiten, wie die Kurd*innen in Rojava, sind Ziel organisierter Hasskampagnen. Sie werden vom HTS-Regime vor zwei Möglichkeiten gestellt: Entweder Unterwerfung unter die Macht von HTS durch Entwaffnung oder das gleiche Schicksal wie andere Minderheiten.

Syrien in Deutschland: Exil voller Spaltung

Die Gewalt gegen Minderheiten in Syrien endet nicht an den Landesgrenzen. Vielmehr erreicht sie auch Deutschland, nicht in Form von Massakern, sondern durch Worte, Symbole, Gesten und soziale Ausgrenzung. Inmitten der syrischen Diaspora, die in Deutschland Schutz und einen Neuanfang suchte, wächst eine neue Form der Bedrohung, gespeist aus ideologischen Konflikten des Herkunftslandes und oftmals unterschätzt von deutschen Sicherheits- und Integrationsinstitutionen.

Ein besonders eindrückliches Beispiel war die Demonstration in Düsseldorf im Juli 2025, die unter dem Vorwand politischer Meinungsäußerung organisiert wurde. Teilnehmer*innen, überwiegend männlich, jüngeren Alters, trugen Symbole, die in Syrien für Gewalt, Demütigung und Mord an Minderheiten stehen: Friseurscheren, Rasiermaschinen, und sogar unechte Blutspuren an Plakaten, auf denen Begriffe wie „Reinigung“ oder „Verräter“ standen. Symbole der türkisch-rechtsextremistischen Grauen-Wölfe-Bewegung waren ebenfalls bei der Demo zu sehen.

Parolen wie „al-Fulul“ („Überreste des Assad-Regimes) oder „Dursi kafir“ („der Druse ist ein Ungläubiger“) wurden offen skandiert. Zahlreiche Minderheitenangehörige, darunter Drus*innen, Alawit*innen und Kurd*innen, empfanden diese Demonstration nicht nur als politische Provokation, sondern als klare Drohung. Auch die syrisch-arabischen Sunnit*innen, die sich mit den Opfern solidarisieren, werden mit dem abwertenden Begriff „Cute-Sunni“ abgestempelt, der von HTS-Propagandist*innen etabliert wurde. Mit diesem Begriff werden sunnitische Araber*innen bezeichnet, die zum Weltbild der HTS nicht passen und als „Hochverräter*innen“ dargestellt werden.

Menschen, die ohnehin durch Krieg, Flucht und Diskriminierung traumatisiert sind, fühlen sich in Deutschland nicht sicher. Polizeibehörden verkennen oft die politischen oder ideologischen Hintergründe der Bedrohungsszenarien und behandeln sie als bloße Nachbarschaftskonflikte oder Streitigkeiten. Das wiederum stärkt das Gefühl von Ohnmacht und Isolation bei den Betroffenen und führt zu massivem Vertrauensverlust gegenüber staatlichen Institutionen, da die Menschen mit ihren Sorgen und Ängsten allein gelassen werden.

In der öffentlichen Debatte ist viel vom Rassismus der Mehrheitsgesellschaft die Rede, zu Recht. Doch es fehlt an Bewusstsein für eine andere, subtilere, aber nicht minder gefährliche Form: innermigrantischer Rassismus. Dabei handelt es sich um Diskriminierung, Bedrohung und Entmenschlichung von Geflüchteten und Migrant*innen untereinander, basierend auf ideologischer Überzeugung, ethnischer Identität oder politischer Haltung.

Wer in Syrien zu einer verfolgten Minderheit gehörte, ist oft auch in Deutschland nicht vor Bedrohung sicher. Drusische Jugendliche berichten davon, von anderen Syrer*innen als „Götzendiener“ oder „Verräter“ beschimpft zu werden. Alawit*innen erleben Stigmatisierung und werden als „Assad-Anhänger*innen“ bezeichnet, welche angeblich die Macht in Syrien verloren hätten. Kurd*innen, insbesondere aus Rojava, werden nicht selten mit dem Etikett „Separatist*innen“ oder „PKK-Unterstützer*innen“ diffamiert; Vorwürfe, die aus der syrisch-türkischen Propaganda stammen, aber hier wiederholt und weiterverbreitet werden. Diese Form der Diskriminierung bleibt oft unsichtbar, da sie innerhalb von Gruppen geschieht, die in der deutschen Öffentlichkeit als homogen wahrgenommen werden. Doch genau diese Unsichtbarkeit macht sie gefährlich und lässt die von dieser Diskriminierungsform betroffenen Menschen im Stich.

In Reaktion auf diese Entwicklungen wächst der Ruf nach „HTS-freien Räumen“ bzw. geschützten Orten, an denen sich Menschen frei von Einschüchterung, ideologischer Bevormundung und Gewaltandrohung begegnen können. Initiativen von Minderheitenangehörigen fordern Treffpunkte, Bildungszentren und Community-Räume, in denen keine Symbole, Parolen oder Personen geduldet werden, die mit HTS, jihadistischer Ideologie oder Gewaltverherrlichung in Verbindung stehen.

Die Gesamtgesellschaft in Deutschland muss den Minderheitenschutz auch innerhalb der migrantischen Community ernstnehmen. Die Auswirkungen der Gewalt in Syrien reichen bis in deutsche Klassenzimmer, Jugendzentren und Demonstrationszüge. Es braucht ein tieferes Verständnis für die politische Geschichte, die Ideologie und die sozialen Dynamiken innerhalb der syrischen Diaspora und den Mut, nicht nur Rassismus von außen, sondern auch den von innen klar zu benennen. Denn ein Schutzraum kann nur dort entstehen, wo der Hass nicht toleriert wird; egal, woher er kommt.

Sicher ist nur das Narrativ

Statt sich mit den Sorgen und Ängsten der Betroffenen auseinanderzusetzen, beschäftigt sich die Bundesregierung mit Abschiebepolitik. Dafür wird das Narrativ „Syrien ist sicher“ konstruiert, was nur dem radikalen HTS-Regime zugutekommt und ihm internationale Legitimation verleiht, die es zur Festigung seiner Macht benötigt. Die Realität sieht jedoch anders aus: Für alle Minderheiten und für alle, die nicht ins Weltbild der HTS passen, ist Syrien keineswegs sicher. Menschen, die sich gegen die extremistische Ideologie stellen, werden als Bedrohung angesehen und die Gewalt gegen sie wird gerechtfertigt.

Für das zerstörte Syrien nach einem langjährigen Bürgerkrieg sind die Förderung einer pluralistischen Identität, Demokratisierungsprozesse sowie die Dezentralisierung politischer Strukturen von großer Bedeutung. Ohne diese drei Säulen wird Syrien keine Stabilität erleben, und extremistische Kräfte werden ihre Macht weiter ausbauen, während syrische Demokrat*innen von der Weltgemeinschaft im Stich gelassen werden.


Duleem Ameen Haji (er/ihm) ist 2016 aus Mosul nach Deutschland geflohen. Aktuell studiert er Medizin. Monzer Haider (er/ihm) ist 2013 aus Afrin nach Deutschland geflohen. Er studierte Politik- und Islamwissenschaften sowie Philosophie und Islamische Theologie. Aktuell promoviert er in Islamischer Theologie.

Beide Autoren sind die Herausgeber der ÇÎYA-Zeitschrift; einer Plattform, die geflüchteten, migrantischen und marginalisierten Stimmen Raum gibt und ihre Perspektiven sichtbar macht.

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