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Rezension Terror gegen Juden in Deutschland – wie er funktioniert und wer ihn zulässt

Ronen Steinke gewährt Einblicke in eine bedrohte Selbstverständlichkeit: Gibt es ein jüdisches Leben in Deutschland ohne Angst?

 
Ausschnitt aus dem Cover des Buches "Terror gegen Juden" von Ronan Steinke. (Quelle: Berlinverlag / Piper Verlag)

Terror? Darunter ging’s wohl nicht?

Eine Freundin, der ich von diesem Buch erzählte, fragte mich, ob es darin um Israel ginge. Nein. Um den Nationalsozialismus und den Holocaust? Nein. Es geht um die Bundesrepublik, genauer: um jüdisches Leben in Deutschland nach der Shoah. Das ist es, wovon Ronen Steinke in seinem soeben erschienenen Buch „Terror gegen Juden“ berichtet.

Wer glaubt, der reißerische Titel stelle eine aufmerksamkeitsheischende Übertreibung dar, wird beim Lesen bald eines Besseren belehrt: Steinkes Buch erzählt von wirklichen Terrorakten. Von Gewalt, die systematisch und gezielt ausgeübt oder angedroht wird, um neben den Morden und Körperverletzungen selbst weitergehend Angst und Schrecken zu verbreiten.

Es liegt an uns, dass wir diese Terrorakte nicht als solche wahrgenommen haben. Und das ist der eigentliche Skandal. Der Terror hinter dem Terror.

Immer wieder höre ich Menschen die deutsche Aufarbeitungsleistung nach dem Holocaust rühmen. Wer sich genauer mit der Nachkriegsgeschichte beschäftigt, wird – in Ost und West – durch zahlreiche, tiefe Lücken dieser Aufarbeitung stolpern. Noch lückenhafter ist das Verständnis dessen, was jüdisches Leben heute in Deutschland ausmacht. Wie sich das anfühlt, ist weniger auf einem Klezmerkonzert zu erfahren als vielmehr bei Berliner Schulkindern zu erfragen, die jeden Morgen einen zweieinhalb Meter hohen Sicherheits-Stahlzaun und Security-Leute passieren müssen, oder bei den Gemeindegliedern der Hallenser Gemeinde, die am Jom Kippur 2019 schier unendlich lange unter Schusshagel hinter ihrer Synagogentür ausharren mussten.

Solchen Erfahrungen geht Ronen nach: penibel recherchiert, detailgetreu analysiert, sachlich und dennoch nicht ohne Position erzählt. „Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt. Eine Anklage“, hat er sein Buch untertitelt. Dafür hat er, wie ein Anwalt, Prozessakten gewälzt, Medienberichte ausgewertet, Polizeiberichte und Chroniken von NGOs abgeglichen – und vor allem immer wieder Betroffene befragt. Er geht rechtsradikalen, linksextremen und islamistischen Bedrohungen und Angriffen nach und in all diesen stets der Frage: Wo ist der Staat? Wie nimmt er sein Gewaltmonopol wahr? Wie verfolgt er Täter, wie schützt er Opfer und ihre Integrität?

Steinkes Befund ist erschütternd. Sein Buch, brillant geschrieben und gut sortiert, hat mich gleichermaßen gefesselt wie aufgewühlt. Wer (wie ich es tat) denkt zu wissen, wie es um jüdisches Leben in Deutschland steht, wie fragil und zugleich reich es ist und engagiert in gesamtgesellschaftlichen Belangen, dem sei dies Buch zur tieferen Innenansicht und Draufsicht unbedingt empfohlen. Wer bislang wenig Zugang dazu hatte, dem sei es zum Verständnis deutsch-jüdischer Lebensverhältnisse dringend ans Herz gelegt.

Seine exemplarische Faktensammlung, Analyse und Interviews beschließt Steinke mit einem besonders bestürzenden Kapitel: einer Chronik antisemitischer Gewalttaten seit 1945. Dabei beschränkt er sich streng auf Gewalttaten (inklusive Friedhofsschändungen, d.h. Gewalt gegen Verstorbene), ohne Propaganda- oder andere Delikte. Und er listet ausschließlich gemeldete bzw. dokumentierte Fälle auf, die nach Ansicht aller Experten nur einen Bruchteil aller Vorkommnisse ausmachen.

Die Chronik umfasst, eine reine Aufzählung der Fälle, 90 Seiten.

Besonders schmerzhaft sind auch hierbei immer wieder die Lücken in den Polizeistatistiken und in der Rechtsprechung, vor allem die Nicht-Einordnung von Angriffen als antisemitisch trotz unübersehbarer Hinweise auf Ideologie und Umfeld der Täter. Und die Beschuldigung der Opfer, die sich durch die Geschichten vieler Betroffener zieht.

In Zeiten, in denen wir erneut über das ganz ähnliche Versagen der Ermittlungsbehörden beim NSU sprechen und über die Verwicklungen der Polizei mit dem „NSU 2.0“, in Zeiten, da Racial Profiling endlich öffentlich thematisiert und zugleich von Entscheidungsträgern mit irrwitzigen Begründungen als Problemanzeige abgewehrt wird – in diesen Zeiten liefert Steinke einen höchst aktuellen, gesicherten und wichtigen Befund. Einen Befund, der uns endlich aufrütteln muss. Die permanenten, massiven Bedrohungen und Angriffe auf Juden (wie auch die auf andere Minderheiten) – und unser systematisches Wegsehen – sind keine selbst verschuldete Unannehmlichkeit. Das ist Terror.

Ja, darunter geht es nicht.

 

Cover des Buches „Terror gegen Juden“ von Ronan Steinke.

Ronen Steinke: Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt

Eine Anklage. Berlin Verlag 2020, ISBN 978-3-8270-1425-2.

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