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Ungarn – Hass und Antisemitismus fest verankert

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In einer neuen, repräsentativen Studie weist der Budapester Soziologe Pal Tamas nach, dass rechtsradikale Ideologie nicht nur von rechtsextremistischen Randgruppen verbreitet wird, sondern in Teilen der ungarischen Gesellschaft tief verankert ist. „Wir finden solche Denkmuster in allen politischen Lagern“, sagt Tamas. Damit seien sie ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung vorgedrungen.

Knapp 16 Prozent der von ihm und seinen Mitarbeitern Befragten meinten, dass ihre politischen Auffassungen extrem rechts seien. Weitere 29 Prozent definierten ihren Standpunkt als rechts von der Mitte. In der Studie wird auch nachgewiesen, dass gerade Teile der Wählerschaft der großen Parteien für Fremdenhass und Antisemitismus anfällig sind. Das gelte für 50 Prozent der Wähler der Partei Fidesz und 30 Prozent der Wähler der sozialdemokratischen MSZP. Die oppositionelle, konservative Bürgerbewegung Fidesz des früheren Regierungschefs Viktor Orban kommt in den aktuellen Parteiumfragen auf etwa 40 Prozent, die sozialistische MSZP von Premier Ferenc Gyurcsany auf gut 20 Prozent.

Aber nicht nur die Parteien sind Einfallstore für rechtsextremes Gedankengut. Auch einflussreiche Medien wie der private Fernsehsender Echo TV und die Tageszeitung „Magyar Hirlap“ verbreiten Xenophobie und Antisemitismus. Bei einer Tagung des Budapester Forschungsinstituts „Demos Hungary“ über „Rechtsradikalismus und Medien“ erklärte die Soziologin Judit Barta: „Im Vergleich mit der gesamten EU gibt es in Ungarn ein überdurchschnittlich einflussreiches Mediennetzwerk, das rechtsradikale Ideologie präsentiert.“

Hass auf „die Roma“

Im Zentrum dieser Ideologie steht der Hass auf die Roma. 69 Prozent der von Pal Tamas und seinen Mitarbeitern Befragten nannten diese gerade auch in Ungarn sehr zahlreiche Minderheit „asozial“ und „ungarnfeindlich“. Virulent ist außerdem der Antisemitismus. Die von Tamas vertretene Einschätzung, dass jeder dritte Ungar judenfeindliche Meinungen vertrete, wird auch von den Wissenschaftlern anderer Budapester Forschungsinstitute wie Tarki geteilt. Beide Phobien korrespondieren mit einer allgemeinen Ablehnung gegenüber Ausländern und sonstigen „Fremden“.

Fragt man nach den Hintergründen, dann verweisen Wissenschaftler insbesondere auf zwei Aspekte. Zum einen, so heißt es, seien bestimmte Denkmuster aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen bis heute wirksam. Daran hätten auch die Jahrzehnte realsozialistischer Herrschaft kaum etwas geändert. Zum anderen fühlten sich viele Ungarn durch die Auswirkungen der Globalisierung, des internationalen Kapitaltransfers und der EU-Mitgliedschaft ihres Landes in ihrer Existenz bedroht. „Sie fühlen sich als Opfer und machen dafür Schichten der Gesellschaft verantwortlich, die sie als nicht ungarisch empfinden“, sagt die Budapester Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky.

Da viele Wähler, die für rechtsextremes Gedankengut anfällig sind, den großen Parteien treu bleiben, hatten die kleinen rechtsextremistischen Gruppen wie „Jobbik“ und „Ungarische Garde“ keine Chance, ins Parlament einzuziehen. Bei der letzten Parlamentswahl bekamen sie zusammen etwa zwei Prozent der Stimmen. Viele Wähler denken radikal, aber sie lehnen Randalieren ab. Und diese Gruppierungen zeichnen sich ja gerade durch gewalttätiges Auftreten in den Straßen ab. „Sie sind somit in erster Linie ein Problem der öffentlichen Sicherheit“, sagt Gabor Györi von „Demos Hungary“.

Drohungen gegen Richterin

Der Prozess wegen eines möglichen Verbots der „Ungarischen Garde“ zieht sich allerdings seit Monaten hin. Die Richterin, die ursprünglich das Verfahren leitete, wurde ausgetauscht, nachdem sie massiv durch die rechtsextreme Szene bedroht worden war. Aber es gibt auch juristische Hindernisse. So hat das ungarische Verfassungsgericht die Anwendung des Paragrafen, der Hetze gegen die Gemeinschaft und gegen Minderheiten unter Strafe stellt, von weitreichenden Bedingungen abhängig gemacht. Dazu zählt die Festlegung, dass derlei Straftaten „vor einer großen Öffentlichkeit“ ausgeführt werden müssen, was sich nicht immer für das Auftreten der rechtsextremistischen Gruppen nachweisen lässt.

Diejenigen Wähler, die rechts- oder gar rechtsextrem denken, sind ein Potenzial, auf das die großen Parteien nicht verzichten wollen. Das gilt besonders für die bürgerlich-konservative Oppositionspartei Fidesz, die zwar Auswüchse der rechtsextremistischen Szene kritisiert, sich aber nie systematisch von ihr abgegrenzt hat. Fidesz-Chef Orban machte wiederholt die verharmlosende Bemerkung: „Man sollte ihnen ein paar Ohrfeigen geben und sie nach Hause schicken.“ Auch einzelne Fidesz-Funktionäre sind nicht frei von antisemitischen Denkweisen.

Ungarns sozialistischer Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany hat immerhin im Sommer die „Ungarische Demokratische Charta“ initiiert, die seither wiederholt öffentlich gegen die rechtsextreme Szene aufgetreten ist. Aber das allein ist noch kein wirksames Mittel gegen Phobien wie Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus, von denen auch so mancher seiner Parteigenossen nicht frei ist.

Insgesamt ist der Widerstand engagierter Bürger gegen das Auftreten rechtsextremer Propheten und deren Einfluss noch relativ schwach. „Betroffene Gruppen der Gesellschaft müssen also weiter mit ihrer Angst leben“, sagt Gabor Györi von „Demos Hungary“.

Dieser Artikel erschien am 7.Oktober 2008 im Handelsblatt. Wir bedanken uns für die freundliche Unterstützung.

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