20 Uhr, das „letzte Lagerfeuer des Landes“ flackert auf, der Gong zur Hauptausgabe der tagesschau ertönt; der Vorhang hebt sich für Alice Weidel. Ausführlich berichtet die wichtigste Nachrichtensendung im deutschsprachigen Raum vor einem Millionenpublikum über die Aussagen der Co-Vorsitzenden der AfD aus dem Sommerinterview mit dem ARD-Hauptstadtstudio. Das Interview selbst war zuvor in der ARD ausgestrahlt worden, auf der Streaming-Plattform Twitch hatten Nutzer*innen zudem noch die Möglichkeit, Fragen an Weidel zu stellen.

Weidel forderte in den Gesprächen unter anderem, das Bürgergeld für ausländische Menschen zu streichen, zweifelte den von Menschen verursachten Klimawandel an, nannte eine grotesk falsche Zahl zu ausreisepflichtigen Menschen aus Syrien und auch der rassistische Kampfbegriff der „Remigration“ wurde diskutiert. Dazu veröffentlichte die tagesschau online einen Faktencheck, in dem dankenswerterweise mit einigen falschen oder irreführenden Aussagen Weidels aufgeräumt wurde.
Ungeachtet des überschaubaren Nachrichtenwerts (die Positionen in den Interviews sind quasi immer bereits hinlänglich bekannt), werden die Interviews anschließend in den Nachrichtensendungen von ARD oder ZDF bisweilen sogar zu Aufmachern hochgejazzt. Ehrlicherweise bewegen diese seit Monaten geplanten Interviews die Menschen offenbar kaum – auch in den Nachrichtenredaktionen selbst bricht wenig Begeisterung aus. Eingeübtes Ritual und Hauspolitik schlagen in diesen Fällen das journalistische Kriterium Nachrichtenrelevanz.
Sommerinterviews sind kein Naturgesetz
Im Gegensatz zu Jahreszeiten ist ein Sommerinterview kein Naturphänomen. Vielmehr manövrieren sich die Sender durch solche Formate und ihre eigene Argumentation in eine Zwickmühle: Denn im Gegensatz beispielsweise zu Berichten über Bundestagsdebatten, in denen auch die Positionen der AfD abgebildet werden, um ein vollständiges Bild zu transportieren, ist bei den Sommerinterviews der Grund für die Berichterstattung selbst geschaffen worden.
Die Sommerinterviews blicken mittlerweile auf eine fast 40-jährige Tradition zurück. Das macht sie nicht besser. Helmut Kohl empfing in seinem Urlaubsdomizil am Wolfgangsee zum Interview, um sich ausgeruht befragen zu lassen. Nach und nach wurde das Konzept erweitert, das inzwischen wie selbstverständlich alle Fraktionsspitzen einschließt. Und daraus folgt in der Logik der Sender: Wer allen anderen Parteivorsitzenden eine Bühne gibt, müsse auch die AfD einladen.
Anderen Perspektiven Raum geben
Diese Logik, ohnehin höchst diskussionswürdig, ließe sich durchbrechen. Die Verantwortlichen der Sender müssen nicht Alice Weidel einmal mehr eine Bühne bieten, um über rassistische Schlagworte zu sprechen und falsche Zahlen zu präsentieren. Die Sommerinterviews müssten auch nicht einfach Machtverhältnisse reproduzieren und Zuschauer*innen zumeist langweilen. Gerade in Zeiten wachsender Skepsis gegenüber Institutionen könnten Sommerinterviews eine Bühne für jene sein, die selten Gehör finden – Menschen mit Expertise, Engagement und Haltung, die das demokratische Gefüge tragen.
Warum also nicht die „nachrichtenarme“ Zeit nutzen, andere Stimmen hörbar zu machen, die sonst kaum medial zu Wort kommen? Es gäbe genug Alternativen: die jüngste und die älteste Abgeordnete des Bundestags im Gespräch, Politiker*innen, die abseits des Rampenlichts bemerkenswerte Ideen eingebracht haben, Lokalpolitiker*innen, die in ihrer Freizeit an der Basis mit Alltagsproblemen, Bürgerwut und Paragrafen umgehen müssen. Fachleute und Sachverständige, die erklären können, warum einfache Antworten auf komplexe Fragen keine Alternative sind. Die Abrufzahlen von Podcasts zeigen, wie viel Potenzial hier schlummert. Oder wie wäre es mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft, die aus erster Hand berichten, wie sich politische Entscheidungen vor Ort auswirken und welche Ängste Sommerinterviews verstärken, in denen von „Remigration“ die Rede ist.
Vom Umgang mit menschenfeindlicher Hetze
Für Medien ist es eine journalistische Herausforderung, mit bewussten Falschbehauptungen und menschenfeindlichen Aussagen von Interview-Gästen umzugehen. Für viele Millionen Menschen ist die prominente Darstellung von Konzepten wie der „Remigration“ hingegen eine handfeste Drohung. Die Anwesenheit von Menschen mit Migrationsgeschichte wird zur besten Sendezeit zur Disposition gestellt, ohne Not und mit Ansage. Menschenfeinde haben Zugang zu Medien, die Betroffenen kommen nicht zu Wort. Das erzählt viel über Machtverhältnisse, die reproduziert werden.
Viele Menschen müssen nach solchen Sendungen zumindest nicht überlegen, ob es nun wohl gelungen sei, AfD-Konzepte zu enttarnen; sie diskutieren auch nicht, ob sich die Partei wohl derzeit etwas moderater gibt; und es ist für sie auch nicht relevant, in Dokumentationen Alice Weidel privat kennenzulernen und sich auf Spurensuche zu begeben, warum sie wohl so geworden ist, wie sie ist. Für viele Menschen stellen sich andere Fragen: Habe ich noch eine Zukunft in diesem Land? Kann ich hier meine Kinder aufwachsen lassen? Welche Optionen gibt es für mich und meine Familie, um im Fall der Fälle einen Zufluchtsort zu haben? Es gibt Menschen, die gehen nach solchen Interviews zu einer Botschaft, um einen Reisepass zu beantragen für das Land, aus denen einst die Familie nach Deutschland kam.
Sie meinen es ernst
Die Menschenfeinde meinen es ernst. Verdammt ernst. Das zeigen die Verhältnisse in den USA und anderen Staaten, wo Autoritäre die Macht übernommen haben und den Staat nun auf der einen Seite zertrümmern, wenn es um Sozialleistungen und Schutz von Grundrechten geht, ihn auf der anderen Seite aufrüsten, wenn es um innere Sicherheit, Überwachung und Druck auf Minderheiten und Opposition geht. Jagdszenen auf „Illegale“ sind keine Dystopie mehr, sondern schockierende Realität.
Medien haben die Pflicht, verantwortungsbewusst zu handeln. Dazu gehört es, menschenfeindliche Aussagen und Konzepte nicht einfach zu reproduzieren. Sie sollten sich weniger darum sorgen, ob die AfD wohl nun gerecht behandelt werde, sondern auch die Menschen im Blick haben, die von den rassistischen Konzepten der Rechtsextremen bedroht sind. Faktenchecker*innen, die während und nach solchen Interviews unter Hochdruck einige Falschbehauptungen wieder richtigstellen, können die Scherben nicht zusammenkehren.
Das Grundproblem bleibt auch im Fall der Sommerinterviews, dass die AfD wie eine „normale“ Partei behandelt wird, dies aber schlicht nicht ist. Und zwar, weil sie selbst grundlegende Regeln missachtet und bekämpft. In solchen Fällen ist eine kompromisslose Haltung für Demokratie und Rechtsstaat keine Parteinahme, sondern Teil des öffentlich-rechtlichen Auftrags.


