
Aktion Noteingang schafft seit 30 Jahren Schutzräume für Menschen, die von rechter Gewalt betroffen sind. Diese Arbeit ist essenziell, denn die Zahl rechter Angriffe ist stark gestiegen. Auch in Berlin. Das belegen sowohl Statistiken als auch die Gespräche mit Menschen vor Ort. Laut der Pressestelle des BKA stieg die Zahl rechter Straftaten in Deutschland im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 23 Prozent. Bis November 2024 erhöhte sich diese Zahl bereits um 17,34 Prozent. Wobei die Dunkelziffer sicherlich höher ist. Auch das Berliner Register berichtet von einem Anstieg von mehr als 1.000 Fällen im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr, durchschnittlich wurden in Berlin 14 extrem rechte Vorfälle pro Tag registriert.
Tegel, im äußersten Norden Berlins, ganz in der Nähe der S-Bahn: Die Gegend ist bürgerlich, geprägt von einem mittleren bis älteren Publikum mit durchschnittlichem finanziellen Hintergrund. Wer hier entlang schlendert, findet sich in einer Straße wieder, die an eine Ostseepromenade erinnert. Da ist die Post neben der Markthalle, gegenüber ein Weinladen und zwischen dem Foto- und einem Spielzeuggeschäft das Bürgerbüro von Sven Meyer (SPD). Im Fenster hängen wechselnde Veranstaltungsankündigungen – ein queerer Filmabend, die Einladung zu einer Vernissage und zu Bürgergesprächen, Thema: Rassismus, Faschismus und Mietenwahnsinn. Ein permanenter Sticker fällt auf – die Aufschrift „Noteingang“. Seit etwa einem halben Jahr klebt der magentafarbene Aufkleber hier. Als Zeichen für Zivilcourage.
Das Team von Sven Meyer besteht aus vier Personen. Eine seiner Mitarbeiterinnen brachte die Idee ein, sich an der Aktion Noteingang zu beteiligen. Die Kampagne, die in den 1990er Jahren in Bernau ins Leben gerufen wurde, entstand als Reaktion auf die sogenannten „Baseballschlägerjahre“, die wegen der Vielzahl rassistischer und rechter Übergriffe in Erinnerung bleiben. Seit 2022 unterstützt die Amadeu Antonio Stiftung die berlinweite Koordination der Kampagne. Sie sorgt für Schutzräume für Betroffene und schafft Aufmerksamkeit für Ausgrenzung und Hassgewalt im öffentlichen Raum. Betroffene eines Angriffes können in einen solchen Schutzraum fliehen, ihnen wird unmittelbare Hilfe geboten. Gleichzeitig eröffnet sie der Zivilgesellschaft mit der Bereitstellung von Workshops und Beratungsmaterial einen Handlungsraum. Die angebotenen Schutzräume sind dabei so vielfältig wie die Menschen, die sie ansprechen sollen.
„Die gesamtpolitische Lage [ist] desaströs […] und der unglaubliche Rechtsruck […] macht mir ganz massiv Angst“, sagt Sven Meyer, der im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt. Für ihn war 2024 also der perfekte Zeitpunkt, sich der Aktion anzuschließen. „Politische Arbeit ist niederschwellig, sie ist praktisch und sie formt die Gesellschaft“, erklärt er. Für Meyer liegt kein Unterschied in der politischen Arbeit und zivilcouragiertem Engagement wie der Aktion Noteingang: Ein gelebtes Prinzip, „sich einzusetzen, auch wenn’s unangenehm wird“, das versteht Meyer unter Zivilcourage.
Ähnlich sieht es Noah Gregor, einer der beiden Inhaber*innen des Neuköllner Buchladens „Die Gute Seite“. Für ihn gehe es nicht darum, den Blick zu senken und darauf zu hoffen, dass sich jemand anderes kümmert. Vielmehr sei es wichtig, die eigenen Privilegien zu erkennen, aufzustehen und etwas zu sagen.
Als der Buchladen vor elf Jahren die großzügigen Räume bezog, hinterließen die Vormieter den Aufkleber der Noteingang-Kampagne. Für Gregor war es immer wichtig, sich sichtbar gegen Diskriminierung zu engagieren. Als dann vor einigen Jahren die Glastür des Ladens eingeschlagen wurde, musste auch ein neuer Aufkleber her. In diesem Zuge trat Gregor mit der Amadeu Antonio Stiftung in Kontakt und belegte mit seinem Team einen Workshop. „Es war megawertvoll als Gesprächseröffnung für das Team, um eine Form von Standards für Situationen entwickeln zu können“, sagt Gregor. Sie haben sich vorgenommen, die Noteingang-Aktion auch in ihrem Neuköllner Kiez weiter zu verbreiten.
Für Sven Meyer geht es auch darum, ein Zeichen zu setzen, erzählt er. Wirklich viele sichtbare Übergriffe gäbe es in seiner Gegend nicht. Obwohl das Büro erst kürzlich Ziel einer Schmiererei wurde: „Migration stoppen“ stand eines Morgens groß auf der Glasfront. Hin und wieder kämen Menschen ins Büro, um sich über politische Themen zu beschweren – auch mit rassistischen Bemerkungen. Und manches Mal musste das Team bereits „Grenzen setzen“ und Menschen der Räumlichkeiten verweisen. In Zeiten, in denen sich die Gesellschaft zunehmend darauf verlegt hat, nach unten zu treten, wünscht sich Meyer mehr Engagement der Zivilgesellschaft. Die Demonstrationen gegen Rechts haben ihn emotional zwar bewegt, wichtig sei es aber, nicht nur in Aktionismus zu verfallen, sondern langfristiges Engagement zu zeigen. Strukturell und nachhaltig soll es sein, ansonsten „ist die Demokratie tot“, so der Abgeordnete.
Noah Gregor sieht die Entwicklung der Zivilgesellschaft ambivalent. Er sagt, es sei eine politisierende Zeit, in der sich mehr Menschen wieder mit gesellschaftlichen Missständen auseinandersetzen und erkennt eine Tendenz zu mehr politischem Engagement: „Schön wär’s, wenn’s mehr in die positive Richtung ginge.“ Dem Buchhändler ist es wichtig, niedrigschwellige Hilfe und einen sogenannten safe space zu bieten. Er selbst beobachtet in den letzten Jahren einen Anstieg an queerfeindlichen Übergriffen. Leider fehlt es in diesen Situationen oft an Zivilcourage von außen. Das ist es, was für viele Betroffene eine der schlimmsten Erfahrungen ist. Es ist einer der Gründe für Gregor, bei Aktion Noteingang dabei zu sein. Für ihn bedeutet es, die Tür zu öffnen und einen buchstäblichen Schutzraum zu bieten, wenn er benötigt wird.