Weihnachten sollte eigentlich der Moment sein, in dem man tief durchatmet, zu viel isst und für ein paar Tage so tut, als sei die Welt ein gemütlicherer Ort. Für viele bedeutet „nach Hause fahren“ aber auch: Dort sitzt der Onkel, der „Heute darf man ja gar nichts mehr sagen“ ruft; die Cousine, die ihre politische Bildung ausschließlich über Telegram bezieht; oder der Opa, der nach dem dritten Eierlikör über „die da oben“, „kriminelle Ausländer“ oder „diesen Genderkram“ lamentiert.
Zwischen Gänsebraten und Stammtischparolen
Gegenrede wirkt im privaten Umfeld oft stärker als in jedem Kommentarbereich des Internets. Das liegt nicht daran, dass rechte Parolen am Küchentisch harmloser wären, im Gegenteil. Studien zeigen jedoch, dass Menschen Argumente eher annehmen, wenn sie von vertrauten Personen aus dem eigenen Umfeld kommen und nicht von anonymen Gegenübern. Dort, wo Beziehung, gemeinsame Geschichte und ein Mindestmaß an Vertrauen existieren, entsteht ein Raum, in dem Widerspruch tatsächlich etwas auslösen kann.
Menschen hören eher zu, wenn Kritik von jemandem kommt, der ihnen nahesteht. Wertschätzung bedeutet dabei ausdrücklich keine Zustimmung, sondern ist die Grundlage dafür, dass ein Gespräch überhaupt möglich bleibt. Forschung zur sogenannten sozialen Identität zeigt, dass wir Kritik eher zulassen, wenn sie nicht als Angriff auf unsere Zugehörigkeit empfunden wird. Gerade familiäre oder freundschaftliche Beziehungen können Dynamiken durchbrechen, die im öffentlichen Raum kaum erreichbar sind. Gegenrede im Privaten ist deshalb kein kleines politisches Handeln, sie ist oft der wirkungsvollste Ort, an dem demokratische Kultur verteidigt wird.
Gute Argumentation beginnt nicht mit perfekten Fakten, sondern mit Haltung
Damit du an Weihnachten nicht unvorbereitet am Tisch sitzt, kannst du dir vorher eine kleine antifaschistische Reisetasche packen, nicht voll mit perfekten Fakten, sondern mit einer klaren Haltung. Denn gute Argumentation beginnt selten mit Zahlen oder Studien, sondern damit, wie du auftrittst und wofür du stehst.
Gerade unterm Tannenbaum zeigt sich, was viele aus Erfahrung kennen: Menschen lassen sich nicht einfach mit dem „besseren Argument“ überzeugen. Sie hören hauptsächlich das, was zu ihrem Selbstbild passt, besonders dann, wenn Emotionen, Alkohol und alte Familienrollen ins Spiel kommen. Deshalb bringen reine Faktenchecks beim Weihnachtsessen oft wenig. Wichtiger ist es, ruhig zu bleiben, Position zu beziehen und dich nicht in endlose Diskussionen hineinziehen zu lassen.
Zuerst solltest du prüfen, ob dein Gegenüber überhaupt reden will. Besteht eine Chance, dass Argumente ankommen? Oder geht es darum, eine Grenze zu setzen, weil jemand abwertend, verletzend oder gewaltvoll spricht? Viele Situationen an Weihnachten sind keine Debattierclubs, sondern soziale Räume mit Machtgefällen, Emotionen und alten Rollenmustern. Und trotzdem: Haltung zeigen geht immer.
Mit einem Statement seine Grenzen setzen
Wenn jemand also von der Notwendigkeit von „Remigration“, „Genderwahn“, „Frühsexualisierung“ oder „denen da oben“ anfängt, typische rechte Begriffsverdrehungen, hilft es, ruhig zu bleiben und einen klaren Statementsatz zu setzen. Ein Satz, der nichts erklären muss, aber eine Grenze markiert: „So möchte ich kein Gespräch führen.“ oder „Ich sehe das anders, und solche abwertenden Aussagen akzeptiere ich nicht.“
Klare, ruhige Grenzsetzungen macht soziale Normen sichtbar, auch für die still Mitlauschenden am Tisch. Du stoppst die Eskalationen und signalisierst gleichzeitig allen anderen, dass menschenverachtende Aussagen Widerspruch erfahren.
Wenn Diskussionen sinnvoll sind
Manchmal lohnt sich die Diskussion dennoch, etwa dann, wenn Menschen unsicher sind, Fragen stellen oder andere zuhören. Dann kann Weihnachten tatsächlich ein Moment der Sensibilisierung sein.
Dabei geht es etwa darum zu verstehen, warum Antifeminismus oft als Einstieg in rechte Ideologieräume dient, warum Queerfeindlichkeit keine „Meinung“, sondern verletzend und gefährlich ist, warum Verschwörungserzählungen durch einfache Antworten auf komplexe Probleme wirken und warum Jüdinnen*Juden nicht mit dem Staat Israel gleichzusetzen sind und Shoa-Relativierung kein geeignetes Argument ist.
Und warum rechte Strategien oft nur ein Ziel haben: spalten. Begriffe werden verdreht, Themen rasend schnell gewechselt, soziale Gruppen gegeneinander ausgespielt. Wer das einmal verstanden hat, lässt sich weniger leicht in endlose Debatten ziehen.
Strategien gegen rassistische Debatten unterm Weihnachtsbaum
Wenn deine Tante an Weihnachten sagt, „die kriminellen Ausländer nehmen überhand“, kann es helfen, das Gespräch erst einmal zu verlangsamen, statt sofort dagegenzuhalten. Weise ruhig darauf hin, wenn pauschalisiert wird, und frage nach: Wen genau meint sie eigentlich? Und worauf bezieht sie sich? Oft wird schnell aus einzelnen Schlagzeilen ein allgemeines Urteil.
Du kannst nachfragen, woher diese Einschätzung kommt. Viele solcher Aussagen speisen sich aus zugespitzten Berichten, Social-Media-Clips oder Telegram-Kanälen. Ein möglicher Einstieg ist: „Ich habe dazu sehr unterschiedliche Zahlen gesehen, wollen wir kurz schauen, was davon belegt ist?“
Wenn die Situation es zulässt, kann ein gemeinsamer Blick auf Einordnungen von Kriminalstatistiken oder Faktenchecks helfen, die erklären, wie verzerrt der Eindruck durch mediale Zuspitzung entstehen kann. Zu diesem Beispiel findet ihr etwa hilfreiche Informationen beim Mediendienst Integration.
Reagiert deine Tante sehr emotional, steckt dahinter oft mehr als „nur“ eine politische Betrachtung. Vielleicht fühlt sie sich unsicher, hat selbst eine beängstigende Situation erlebt oder nimmt gesellschaftliche Veränderungen als Bedrohung wahr.
Angst ist ein starker Treiber für Abwertung
Du kannst diese Gefühle ernst nehmen, ohne die rassistische Zuschreibung zu übernehmen: Du kannst anerkennen, dass Sicherheit ein berechtigtes Anliegen ist, und gleichzeitig klar machen, dass „Ausländer“ und „Migranten“ keine homogene Gruppe sind und Kriminalität kein Merkmal von Herkunft ist.
Hilfreich ist es, den Fokus zu verschieben: weg von „den Ausländern“, „den Migranten“, hin zu konkreten Ursachen. Kriminalität hängt nachweislich mit Faktoren wie Armut, sozialer Ausgrenzung, fehlenden Perspektiven oder mangelhafter Prävention zusammen. Wer ganze Gruppen verantwortlich macht, vereinfacht komplexe Probleme und verhindert Lösungen.
Wenn du merkst, dass das Gespräch aggressiv wird oder dich belastet, darfst du auch einen klaren Schlussstrich ziehen. Haltung zeigen heißt nicht, jede Diskussion auszuhalten, sondern Grenzen zu setzen und für dich zu sorgen, auch an Weihnachten.
„Ich steige hier aus“
Und wenn klar wird, dass ein Gespräch gerade nichts bringt, gilt Selbstfürsorge. Du darfst sagen: „Ich steige hier aus.“ Dauerhafte Gegenrede ohne Grenzen führt zu Erschöpfung und Rückzug. Haltung zeigen heißt nicht, sich aufzureiben, sondern bewusst zu entscheiden, was jetzt möglich und sinnvoll ist.
Gleichzeitig muss niemand nur mit Worten anreisen. Gute Geschenke können empowern, Bücher, die feministische, queere oder antirassistische Perspektiven eröffnen. Wenn es in der Familie rechte Tendenzen gibt, kann ein klug gewähltes Buch im Wichtelspiel manchmal mehr auslösen als die lauteste Diskussion.
Weihnachten bei der Familie heißt eben nicht nur, Plätzchen zu essen, es heißt auch, in Kontakt zu bleiben, ohne die eigene Haltung zu verraten. Sich vorzubereiten, um nicht sprachlos zu sein. Sich bewusst zu machen, dass man nicht jede*n über Weihnachten „umdrehen“ muss, aber sehr wohl zeigen kann: Menschenfeindlichkeit bleibt nicht unwidersprochen.


