Dundee, Stadtteil Lochee, in St Ann Lane – mehrere Jugendliche, darunter auch zwei Schwestern, liefern sich einen verbalen Schlagabtausch mit einem Mann, der das ganze auf seiner Handykamera filmt. Die Stimmen überschlagen sich, der Ton und das Bild sind leicht verzerrt, die Kamera schwenkt von zwei Teenager-Mädchen kurz zu einer Gruppe Jugendlicher, wieder zurück auf die Mädchen, um schließlich auf die Jüngere der Beiden zu fokussieren. Dieses Mädchen, zwölf Jahre alt, zuckt ein Messer und eine Axt aus der hinteren Hosentasche, hebt sie drohend in die Höhe und schreit, man solle sie in Ruhe lassen.
Das am 27. August 2025 aufgenommene Video wird rasant von rechten Netzwerken aufgegriffen, massenhaft auf X geteilt und schließlich sogar von Elon Musk selbst verstärkt, wie der Guardian berichtet. Noch bevor sich die Hintergründe und der Kontext, in dem die Szene entstanden ist, klären lassen, verfestigt sich bereits ein dominantes Narrativ auf Social-Media. Der Mann mit der Kamera sei vermeintlich ein „Flüchtling“ aus dem Nahen Osten, der zwei Mädchen angegriffen habe. Aus einem unübersichtlichen Video ohne Kontext wird so augenblicklich eine rassistische Symbolpolitik, zugeschnitten auf eine bewährte rechtsextreme Dramaturgie, nämlich das Bild des „fremden Bedrohers“ gegen die „wehrhafte Tochter Europas“.
Die Ermittlungen der schottischen Polizei zeichnen dabei ein differenzierteres Bild, das hier bewusst ausgeklammert wurde. Laut BBC News handelt es sich bei dem Mann um einen Bulgaren, Teil eines Paares, das gegen 19:40 Uhr von einer Gruppe Jugendlicher angesprochen wurde. Von einem sexuellen Übergriff könne laut Angaben keine Rede sein; es gebe keinerlei Beweise, dass die Mädchen in Gefahr gewesen seien. Fest steht nur, dass die Zwölfjährige wegen des Besitzes von Waffen angeklagt wurde, weitere Festnahmen gab es nicht.
Virale Kampgagne
Genau diese Lücke zwischen Fakt und rassistischer Fiktion wird zum Nährboden für eine virale Kampagne, die international Aufsehen erzeugt. Gezielt wird der Kontext verzerrt, um eine Märtyrerfigur zu erschaffen, die von der Online-Rechten zur ‚Young Queen of Scots‘ stilisiert wird. Doch der eigentliche Motor dieser Transformation ist längst nicht mehr das Video selbst, sondern die anschwellende Bilderflut, die darauf folgt. Innerhalb weniger Stunden überschwemmt sogenanntes AI-Slop die Social-Media-Feeds, allen voran auf X: massenhaft generierte Porträts des „girl with knife and axe“ (zu Deutsch: „Mädchen mit Messer und Axt“), stilisiert zur Jeanne d’Arc, zur Mary Stuart, zur Braveheart-Erbin, zur Tempelritterin, zur letzten Überlebenden einer apokalyptischen Dystopie.
Wer die Handschrift generativer Programme kennt, erkennt unschwer den typischen Illustrationsstil von ChatGPT, Grok oder SORA, allesamt ausgestattet mit kostenlosen Bildgeneratoren, mit denen sich in Minuten ganze Ikonografien erschaffen lassen. Aus einem random Handyvideo wird eine endlose Serie ikonischer Posen, die nichts mehr mit dem eigentlichen Vorfall in Dundee zu tun haben, sondern mit den Sehnsüchten, Ängsten und Feindbildern rechtsextremer Bewegungen.


Auch deutsche und österreichische Rechtsextreme wie Martin Sellner, Gernot Schmidt, oder die AfD-nahe Content-Schmiede Wilhelm Kachel nutzen das Meme. Allesamt mit dem gleichen Ragebating-Muster: maximale Empörung generieren und sich über die „Migrantengewalt“ echauffieren. Parallel dazu lassen es sich Presseerzeugnisse wie Report 24 oder der Meinungsblog von Kettner Edelmetalle nicht nehmen, den vermeintlichen Verfall der westlichen Gesellschaft anhand des Bildbeispiels zu kommentieren. Die Ästhetik folgt einer klaren Logik: Junge europäische Frauen, am besten blond, eignen sich besonders gut als Projektionsfläche für rechte Erzählungen. Sie verkörpern eine zu schützende Unschuld, bedroht von außen, bedroht vom „wilden Fremden“. Gleichzeitig wecken sie in der Bildsprache Schutzbedürfnis, Stolz und Abwehrreflexe. Dass das Mädchen mit dem Messer minderjährig ist, steigert die Wirkung nur noch, sie wird zu einem nationalistischen Mythos, einer Tochter des Volkes, die sich gegen die vermeintliche Überfremdung im bewaffneten Widerstand zur Wehr setzt.

Was hat das Ganze mit Desinformation zu tun?
Drei Elemente von Falschmeldungen greifen hier ineinander: Dekontextualisierung, Re-Inszenierung und Affektpolitik. Ein zentrales Muster ist die Dekontextualisierung. Das Video aus Dundee ist verwackelt, unverständlich, wichtige Fragen, wer filmte, wer begann den Streit, warum hatte das Mädchen Waffen, bleiben bewusst ausgeklammert. Trotzdem wird der Clip sofort als klares Beweisstück gelesen und dient als Ausgangsmaterial für weitere Verfremdungen. Darauf folgt die Re-Inszenierung: Mit Hilfe generativer Programme entsteht eine Bilderflut, KI-Illustrationen, die das „Mädchen mit Messer und Axt“ zur Jeanne d’Arc, zur Braveheart-Erbin oder zur Überlebenden einer apokalyptischen Dystopie stilisieren. Und schließlich greift die Taktik des Ragebating als digitale Affektpolitik. Bilder wirken schneller als Worte, sie provozieren Empathie, Stolz oder Angst, noch bevor rationales Denken einsetzen kann.
Rechtsextreme Strategie im Zeitalter von KI
Für rechtsextreme Akteur*innen ist KI ein Geschenk. Alles, was sie benötigen, ist ein viraler Ausgangspunkt – und ab diesem Moment lassen sich unendliche Bild-, Sound- und Textwelten erzeugen, die ihren menschenfeindlichen Mythos stützen. Ein Laptop oder Handy genügen, um in Minuten dutzende Meme-Heroisierungen zu produzieren. Die Kosten für Grafik oder Textarbeit sind inexistent, der Ertrag dafür enorm: Jede neue Pose, jede neue Szenerie verstärkt den Mythos. KI-Bilder docken nahtlos an memetischer Kriegsführung an. Das Mädchen erscheint als Fantasy-, Science-Fiction‑ oder geschichtsträchtige Figur.
Damit passt AI-Slop perfekt zur Funktionsweise rechter Kommunikation: Es beschleunigt exponentiell, ästhetisiert und kanonisiert.


