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„Der Große Austausch“ Wie die AfD Verschwörungsnarrative strategisch nutzt

Die rechtsextreme Partei setzt auf Verschwörungserzählungen, um mit Angst und Misstrauen Stimmen zu sammeln.

 
Symbolbild (Quelle: Unsplah)

Seit Mai 2025 stuft der Verfassungsschutz die AfD als gesichert rechtsextrem ein. Grundlage ist ein über 1.000 Seiten starkes Gutachten, dem zufolge die Partei ein nationalistisches Volksverständnis vertritt, das Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft über ethnische Abstammung definiert – und damit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung fundamental widerspricht. Flankiert wird das völkische Gesellschaftsbild der AfD von menschenfeindlichen Verschwörungserzählungen. Besonders deutlich wird das beim „Großen Austausch“, einem verschwörungsideologischen Konstrukt, das behauptet, eine weiße Mehrheitsgesellschaft solle gezielt durch Geflüchtete und Migrant*innen „ersetzt“ werden – gesteuert von geheimen Akteuren, die eigene machtpolitische Ziele verfolgen. Die Erzählung diente wiederholt als ideologischer Nährboden für rechtsterroristische Anschläge – etwa in Christchurch, El Paso oder Halle.

Verschwörung mit Variationen

Dem „Großen Austausch“ widmet das Gutachten ein eigenes Kapitel – inhaltlich jedoch durchzieht die Idee nahezu das gesamte Dokument des Verfassungsschutzes. Von der Parteibasis bis zur Vorsitzenden Alice Weidel: Die Erzählung vom „Großen Austausch“ wird von allen verbreitet und ist längst Teil der ideologischen DNA der Rechtsextremen. Laut Verfassungsschutzgutachten ist dabei nicht nur die häufige Verwendung des Begriffs selbst feststellbar, sondern auch eine Zunahme alternativer Formulierung. Diese Neuschöpfungen werden als Reaktion auf frühere Beanstandungen des Terminus „Großer Austausch“ durch den Verfassungsschutz gewertet. So ist etwa von einer „Großen Transformation“ die Rede (Matthias Helferich, AfD Bundestagsabgeordneter), oder – in antisemitisch konnotierter Sprache – von einer angeblichen „Umsiedlungspolitik“ durch „Staatszersetzer“ (Kreissprecher der AfD in Paderborn). Besonders drastisch äußerte sich Christina Baum, AfD Bundestagsabgeordnete aus Baden-Württemberg, als sie vom „schleichenden Genozid“ an der deutschen Bevölkerung sprach.

Was der „Große Austausch“ konkret bewirken soll, wird innerhalb der AfD unterschiedlich erzählt. Der Kreisverband Bodensee unterstellt den etablierten Parteien, gezielt „steuerbare“ Wählerinnen und Wähler ins Land zu holen, um ihre Macht langfristig zu sichern. Tomasz Froelich, ehemaliger Vizechef der Jungen Alternative (JA), spricht vom Versuch, die Menschen in Deutschland zu „bloßen Konsumenten“ und „steuerbaren Einheitsmenschen“ zu formen. Hans-Christoph Berndt, Fraktionsvorsitzender der AfD im Brandenburger Landtag, warnt vor dem Aufbau einer „maoistischen Weltkommune“. Darüber hinaus inszenieren AfD-Vertreter*innen den „Großen Austausch“ als Teil eines revisionistischen Opfermythos: Die Bundesrepublik sei ein „strategisches Instrument der USA“, das – so Björn Höcke – durch „Massenmigration und Multikulturalisierung“ ein neu entstehendes Gemeinschaftsgefühl der Deutschen gezielt „abwürgen“ solle.

Hinter den vermeintlichen Plänen stehen – je nach Bedarf – die „Altparteien“, alle voran die Grünen, „LGBTQ-Aktivisten“ oder die „Religion des Wokeismus“. Immer wieder greifen AfD-Politiker*innen auch auf antisemitisch codierte Feindbilder zurück: „Migrations-Globalisten“, „Finanzeliten“, „NGO-Verbrecher“ oder auch namhafte „Philanthropen“, explizit der jüdische Investor George Soros. Auch supranationale und globale Organisationen wie EU, WHO oder UN gelten als Werkzeuge eines gegen das „Volk“ gerichteten Plans. Entsprechend kursieren in der Partei Meta-Narrative und Weltverschwörungsmythen wie die „New World Order“, der „Great Reset“ oder die Idee einer geheimen Weltregierung – Konstrukte, in denen Migration, Pandemiepolitik und Globalisierung zu einem umfassenden, weltumspannenden Verschwörungsmythos verschmelzen.

Vom Mythos zur Mobilisierung

Nach Einschätzung des Verfassungsschutzes handelt es sich bei den Äußerungen von AfD-Politikerinnen und -Politikern weder um bloße Fehlinformation noch um naiven Sprachgebrauch. Vielmehr spräche vieles dafür, dass die Partei verschwörungsideologische Narrative gezielt verbreitet – und das weit über den „Großen Austausch“ hinaus. Das Gutachten belegt dies unter anderem durch dokumentierte Verbindungen zum Reichsbürger-Milieu, das die Bundesrepublik als illegitim betrachtet und an eine von geheimen Eliten gesteuerte Weltverschwörung glaubt.

Besonders deutlich wurde dieser strategische Umgang während der Coronapandemie. Nach anfänglichen Forderungen strikter Kontaktverbote und weitreichender Schutzmaßnahmen vollzog die AfD einen Kurswechsel und inszenierte sich als parlamentarisches Sprachrohr der Querdenken-Proteste. Der Schulterschluss mit dem verschwörungsoffenen Milieu aus Impfgegner*innen, Esoterik-Szene, „alternativen“ Medien und Reichsbürger-nahen Gruppen bot neue Aufmerksamkeit – in einer Phase, in der die Partei politisch stagniert war. Sie griff gezielt gesellschaftliche Verunsicherung, Gefühle von Kontrollverlust und Zukunftsängste auf und übersetzte diese in Positionen, die genau auf dieses Spektrum zugeschnitten waren.


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Strategisches Erzählen

Ob AfD-Politiker*innen selbst an die von ihnen verbreiteten Verschwörungsmythen glauben, bleibt offen – ihr strategischer Umgang damit ist jedoch klar erkennbar. Je nach politischem Kontext werden Narrative aufgegriffen, angepasst oder fallengelassen. Ein typisches Beispiel für die widersprüchliche Rhetorik in AfD-Kreisen lieferte 2023 der Europaabgeordnete Tomasz Froelich: Auf Social Media behauptete er zunächst, ein „Parteienkartell der Altparteien“ betreibe einen gezielten Bevölkerungsaustausch – nur wenige Monate später warf er dem amtierenden Kanzler Olaf Scholz (SPD), einem führenden Vertreter dieser angeblichen Elite, vor, AfD-Forderungen wie „massenhafte Abschiebungen“ zu übernehmen. Der politische Gegner wird so wahlweise als Teil einer Verschwörung dämonisiert oder dient als Beleg dafür, dass die eigenen Positionen richtig, wirkungsvoll und gesellschaftlich anschlussfähig seien.

Der Literatursoziologe Leo Löwenthal erkannte bereits in den 1950er Jahren, dass Agitator*innen – politische Akteur*innen, die gezielt Emotionen und Feindbilder mobilisieren – nicht zwangsläufig glauben, was sie propagieren. Ihre Motivation liege in der politischen Wirkung. Gerade das Narrativ vom „Großen Austausch“ nutzt der AFD dabei als ideologische Klammer: Es verbindet ihr ethnonationalistische Volksverständnis mit der Vorstellung einer Vernichtungsstrategie gegen das „eigene Volk“. So entsteht ein emotional aufgeladener Bedrohungsrahmen, in dem ein ethnisch definiertes „Wir“ als existenziell gefährdet erscheint – bedroht von äußeren wie inneren Feinden.

Affekt, Abgrenzung, Eskalation

Während rassistische Ausgrenzung ohnehin zum Repertoire der AfD gehört, kanalisiert die Geschichte vom „Großen Austausch“ destruktive Affekte – wie Angst, Wut und Ohnmacht – nach oben, gegen angeblich übermächtige Eliten. Anders jedoch als populistische Strategien, die auf eine klare Gegenüberstellung von „Volk“ und „Elite“ setzen, entwerfen verschwörungsideologische Erzählungen ein diffuses Bedrohungsszenario, in dem eine geheime Instanz im Hintergrund die Fäden zieht. Diese Vorstellung wirkt stärker emotionalisierend, schürt Misstrauen gegenüber allen Institutionen – und entzieht sich jeder Form von legitimer Kritik oder Vermittlung. So entsteht ein Resonanzraum für Eskalation, Abschottung und dämonisierende Feindbilder.

Die fortwährende Wiederholung – ob offen oder codiert – verstärkt das Gefühl permanenter Bedrohung und schafft den Nährboden für kollektive Widerstandsfantasien. Zugleich befeuern solche Erzählungen autoritäre Sehnsüchte: nach nationaler Einheit, Disziplin, Kontrolle – und nach harter Bestrafung all jener, die als „Volksfeinde“ markiert werden. Das Verschwörungsnarrativ ist politisches Werkzeug: zur Feindbildpflege, zur Radikalisierung – und zur Herstellung einer kollektiven Identität, die sich nur durch Abgrenzung, Eskalation und notfalls Gewalt stabilisieren lässt.

Vom Mythos zur Realität rechter Politik

Auch wenn viele Inhalte des Verfassungsschutz-Gutachtens für jene, die die AfD längst als rechtsextreme, demokratiefeindliche Kraft erkennen, kaum überraschend sind, zeigt sich deutlich: Die völkisch-nationalistische Ideologie der Partei funktioniert nicht ohne verschwörungsideologische Erzählungen.

Wer über den Umgang mit der AfD nachdenkt, darf deren Einsatz von Verschwörungsmythen weder als Randphänomen noch als bloße Provokation abtun. Narrative wie die vom „Großen Austausch“ stützen die ideologische Ausrichtung der Partei, emotionalisieren zentrale Feindbilder und schaffen Anschluss an ein Milieu, das sich durch Angst, Misstrauen und gesellschaftliche Abwertung mobilisieren lässt. Sie bieten ein geschlossenes Weltbild, das diffuse Ohnmachtsgefühle, Kontrollverluste und soziale Unsicherheit in eindeutige Schuldzuschreibungen, kollektive Aufwertung und aggressive Abgrenzung übersetzt. Ein rein faktenbasierter Umgang mit solchen Mythen bleibt wirkungslos, solange diese Dynamiken unberücksichtigt bleiben. Notwendig ist eine politische Auseinandersetzung, die die ideologische Funktion dieser Erzählungen ebenso ernst nimmt wie die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie hervorbringen und begünstigen.


Lisa Wassermann leitet die Fachstelle für Politische Bildung und Entschwörung der Amadeu Antonio Stiftung. Als Politikwissenschaftlerin und Soziologin setzt sie sich mit dem gesellschaftlichen Potenzial politischer Bildungsarbeit auseinander und befasst sich mit den Themen Rechtsextremismus, Verschwörungsideologien und Demokratieförderung.

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