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Rechte Gewalt „Erschütternd! Unfassbar! Unvergessen!“

Die Opferberatung des RAA Sachsen e.V. zeigte 2013 im St. Marien Dom Zwickau  eine Ausstellung zum Thema rechte Gewalt. In der Ausstellung werden 169 Menschen porträtiert, die zwischen 1990 und 2011 aufgrund rechter oder rassistischer Motive ermordet worden sind. Die Ausstellung gibt den in der Öffentlichkeit oft vergessenen Menschen ein Gesicht, eine Geschichte und hält die Erinnerung wach.

 

„Wut, Trauer, Scham!“ lautet ein Eintrag im Gästebuch des Zwickauer St. Marien Doms. Insgesamt acht Seiten sind gefüllt von Kommentaren zur Ausstellung, die deutlich machen welche Gefühle die Ausstellung bei den Besucher*innen weckte. Viele von ihnen kamen als Tourist*innen und gingen mit großer Betroffenheit und Dankbarkeit darüber, dass die Erinnerung an die Opfer wach gehalten wird. Der Dom bot dazu eine besonders beeindruckende Atmosphäre. Die Ausstellung bietet die Chance, über die tödlichen Konsequenzen von Ausgrenzung, Rassismus und Neonazismus in unserer Gesellschaft zu diskutieren. Schüler*innen einer Zwickauer Mittelschule nutzten dieses Angebot und nahmen an einer der kostenfreien Führungen durch die Ausstellung teil. In einer dieser Führungen gab eine Besucherin ihrer Gruppe preis, dass eines der Todesopfer ihre Oma sei. Das war für alle Anwesenden ein besonderer Moment, der erfüllt war von Anteilnahme und Betroffenheit.

Die Idee die Ausstellung nach Zwickau zu holen entstand im Frühjahr 2012. Die Mitarbeiter*innen der Opferberatung wollten mit der Ausstellung eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Rolle Zwickaus am Gedenken an die Ermordeten des NSU vorantreiben. Zudem sollte die aktuelle Angriffssituation in Sachsen und Zwickau verdeutlicht werden um damit u.a. Empathie für Betroffene zu fördern.

Sachsen und insbesondere die Stadt Zwickau haben eine besondere Rolle im NSU Komplex. Zwickau war ein Rückzugs- und Planungsort der Täter. Die in Sachsen aktiven und  gut vernetzten Neonazistrukturen, welche seit langer Zeit Bestand haben, waren vermutlich ein wichtiger Grund für die Täter, Zwickau als Versteck zu wählen.

Eine rückwirkende Anerkennung eines Todesopfers rechter Gewalt

Was das für Menschen bedeutet, die nicht in das Weltbild der Neonazis passen, wird bereits am 3. Oktober 1999 in Hohenstein Ernstthal deutlich. In dem Ort zwischen Chemnitz und Zwickau wird der 17-jährigen Patrick Thürmer gemeinsam mit einem Freund auf dem Heimweg von einem Punkfestival in Hohenstein-Ernstthal von drei Männern überfallen, die mit ihrem Auto „Jagd auf Punks“ machen. Mit einem Axtstil und einem Billardqueue fügen sie dem schmächtigen, 1,56 Meter großen Malerlehrling tödliche Kopfverletzungen zu. Vorausgegangen war ein Angriff von drei Dutzend Naziskins auf das Punkfestival und ein Gegenangriff von Punks auf eine Diskothek, in der sie die rechten Schläger vermuteten. Der Malerlehrling Patrick Thürmer starb „stellvertretend für jene Linken“, die an dem Angriff auf die Diskothek beteiligt gewesen sein sollten, stellt das Landgericht Chemnitz im September 2000 fest. Einen rechtsextremen Hintergrund erkennt das Gericht nicht an. Erst mit Überprüfung aller Urteile nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 wird auch der Mord an Patrick Thürmer rückwirkend offiziell als rechtsmotivierter Mord gewertet. Die Tat zeigt, dass antipluralistische Einstellungen sowie eine verfestigte Neonaziszene lange vor dem Zuzug des Trios nach Sachsen existierte. Der Mord an Patrick Thürmer verdeutlicht auch, wie das Tatmotiv über Jahre durch staatliche Stellen geleugnet und wie unsensibel mit Betroffen rechter Gewalt umgegangen wird.

Die Verantwortung der Stadt Zwickau

Die Gespräche über die Verantwortung der Stadt als ein Wohnort des NSU wirken nach wie vor zäh. Die Frage scheint für viele Zwickauer eine enorme persönliche und emotionale Last mit sich zu bringen. Die Diskussion über mögliche Formen des Gedenkens, welche im Rahmenprogramm der Ausstellungseröffnung stattfand, machte deutlich, dass es keine perfekte Lösung für alle Zwickauer*innen, wie von der Stadtverwaltung angestrebt wird, geben wird. Einen kreativen und offenen Umgang mit dem Thema versuchen die „Grass-Lifter“. Sie haben zum ersten Jahrestag der Selbstenttarnung des NSU symbolisch ein Stück Gras an der Stelle entnommen, an welcher einst das Wohnhaus des NSU stand. Die „Grass Lifter“ sind nominiert für den sächsischen Förderpreis für Demokratie, welcher im November in Dresden verliehen wird. An diesem kreativen Potential könnten  die Entscheidungsträger der Stadt ansetzen und aktiv werden. Dies scheint allemal besser, als zu hoffen, dass sich die „Grasnarbe“  schnell wieder schließt.

Vor Ort wurde die Opferberatung von der Ortsgruppe Zwickau des „Roten Baum e.V.“ und durch das Mobile Beratungsteam des Kulturbüro Sachsen e.V. unterstützt. Die Amadeu-Antonio-Stiftung, die Rosa-Luxemburg-Stiftung sowie der Solidaritätsfond der Hans-Böckler-Stiftung war unter den Unterstützern. Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrates der Muslime übernahm die Schirmherrschaft der des Projektes.

Text: Opferberatung für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt des RAA Sachsen e.V.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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