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Rezension Geografie des Holocaust – eine jüdische Odyssee

Ruth Zimmermann, 92 Jahre, meldet sich aus Hadera, Israel, mit ihrer Lebensgeschichte zu Wort. Einer Erzählung, die im Ungewöhnlichen, in der Katastrophe, das Gewöhnliche versucht und die einige kaum bekannte Facetten jüdischen Überlebens erhellt.

 
Ausschnitt aus dem Cover des Buches "»Vertrieben und doch angekommen. Von Sondershausen nach Schanghai, New York und Israel« von Ruth Zimmermann und Dina Zimmermann-Vakrat. (Quelle: Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas)

Shanghai? Was hat Shanghai mit dem Holocaust zu tun? Das schmale Büchlein „Vertrieben und doch angekommen“ bietet denen, die mehr wissen wollen als das, was Lehrbücher erzählen, einige interessante Einblicke. Einblicke nicht nur in weniger bekannte Fakten zu Flucht und Exil deutscher Juden während des Nationalsozialismus, sondern vor allem auch in die Verfassung derer, die es schafften, der Vernichtung zu entkommen, und dabei zu Odysseen quer über die Ozeane gezwungen wurden. Zu immer neuen Veränderungen der Fluchtpläne. Immer neuen Abschieden von Familienmitgliedern, Mitfliehenden, alten und neuen Freunden.

Sachlich, ohne rhetorische Ausschmückungen, erzählt Ruth Zimmermann ihre (Über-)Lebensgeschichte. Diese ist kein Roman, kein künstlerisches Werk, sondern eine Lebenserzählung, die den Leser nicht mit emotionalisierten Beschreibungen leitet, sondern allein durch die Macht des Faktischen mitnimmt. Das berührt umso mehr, als wir spüren, dass Zimmermann uns hier an einer höchst privaten Erfahrung teilhaben lässt, die zugleich gesellschaftliche Geschichte schreibt: von Sondershausen bis Shanghai und Israel, von 1930 bis 2022. Vom organisierten Massenmord über das Leben im Getto bis hin zum schweren, schönen Neuanfang im jungen Staat und – damals – Entwicklungsland Israel.

Ganz nebenbei erfahren wir viel auch über und durch die Menschen, denen Zimmermann begegnete und zeitweise freundschaftlich verbunden war. Sowie über die Kontinuität des Grauens: Da entkommt ein Paar dem Holocaust, um dann in Israel einem Bombenattentat im Autobus zum Opfer zu fallen. Und die Überlebenden kämpfen mit dem schweren Alltag der Nachkriegszeit und mit dem Trauma, sie suchen ihre Angehörigen weltweit, sammeln deren Lebens- und Todeszeichen, versuchen die Wege der Ermordeten, Verstorbenen und der Entkommenen nachzuzeichnen. Für eine nächste Generation.

Das ganz Persönliche ihrer Erzählung macht Zimmermanns Bericht so nachvollziehbar und zugleich exemplarisch. Zur Familienchronik, der Weltkarte und der Sammlung von Fotos am Ende des Bändchens hätte sich die Leserin nur noch einen grafischen Stammbaum gewünscht, der die weitverzweigte Familiengeschichte und ihrer vielen gewalttätigen Abbrüche auch optisch dargestellt hätte. Aber vielleicht wäre das ja eine lohnende, spannende Aufgabe für Schüler:innen, die anhand des Büchleins zur Shoah arbeiten wollen. Dafür, zur gemeinsamen Lektüre und zum Gespräch sei es Jugendlichen, Erwachsenen, Pädagog:innen und allen anderen Interessierten empfohlen.

Ruth Zimmermann mit Dina Zimmermann-Voigt:
Vertrieben und doch angekommen. Von Sondershausen nach Shanghai, New York und Israel
.
Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas 2022. 7,50 Euro.

Online hier bestellbar: https://www.stiftung-denkmal.de/publikation/vertrieben-und-doch-angekommen-von-sondershausen-nach-schanghai-new-york-und-israel/

Lesung aus dem Buch:

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