Am 14. September finden in Nordrhein-Westfalen Kommunalwahlen statt. In dem bevölkerungsreichsten Bundesland werden dabei über 20.000 Mandate vom örtlichen Integrationsbeirat bis hin zum Kreistag vergeben. Insgesamt kandidieren dabei schätzungsweise mehr als einhunderttausend Menschen. Mindestens 17 von diesen sollen in den letzten Wochen verstorben sein, die meisten bei der AfD.
Hinter jedem der Todesfälle steht ein individuelles Schicksal, und bei jedem einzelnen bleiben trauernde Freund*innen und Verwandte zurück. Das darf nicht in Vergessenheit geraten. Zu häufig verschwindet die einzelne Person hinter Zahlen, Statistiken und Meinungsmache. Vor allem die AfD scheint allerdings bemüht, aus dem Versterben ihrer Kandidaten politisches Kapital zu schlagen.
So teilte die Bundesvorsitzende Alice Weidel auf X einen Post von Stefan Homburg, einem pensionierten Professor für Öffentliche Finanzen aus Hannover, der während der Corona-Pandemie als prominenter Maßnahmen-Kritiker auftrat, in dem die zu dem Zeitpunkt noch vier bekannten Todesfälle als „statistisch fast unmöglich“ bezeichnet wurden. „Es gibt Spekulationen über Vergiftungen, aber nichts Offizielles“, schrieb Homburg weiter. Ein Polizeisprecher bezeichnete diese Aussage gegenüber t-online als „völlig gaga“.
Der stellvertretende Vorsitzende der AfD, Stephan Brandner, stieß dennoch in ein ähnliches Horn: „Aus meiner Sicht ist es statistisch auffällig und zurzeit schwer erklärbar.“ Von Statistik zu sprechen, das klingt nach Wissenschaft. Doch sieht man einmal genauer hin, dann bleibt wenig mehr als verschwörungsideologisches Raunen.
Statistische Auffälligkeiten und mathematische Berechnungen
Insgesamt sind fünf Kandidaten der AfD in den letzten Wochen verstorben: Wolfgang Seitz (59 Jahre) aus Rheinberg (Kreis Wesel), Stefan Berendes (59 Jahre) aus Bad Lippspringe (Kreis Paderborn), Hans-Joachim Kind (80 Jahre) aus Remscheid, Ralph Lange (66 oder 67 Jahre) aus Blomberg (Kreis Lippe) und Wolfgang Klinger (71 oder 72 Jahre) aus Schwerte (Kreis Unna). Hinzu kommen zwei Reservekandidaten aus dem Oberbergischen Kreis, der 42-jährige Patrick Tietze und René Herford (Alter unbekannt).
Wenn Brandner nun behauptet, die Häufung der Todesfälle sei statistisch auffällig, dann hat er durchaus recht. Aber statistische Auffälligkeit an sich bedeutet noch gar nichts. Dass zweimal genau dieselben sechs Zahlen beim Lotto gezogen werden, ist auch extrem unwahrscheinlich. Rein mathematisch sollte das nur einmal in 136.000 Jahren passieren – und trotzdem ist es bereits vorgekommen, nämlich am 20. Dezember 1986 und am 21. Juni 1995.
In Nordrhein-Westfalen sind im August 2024 rund 17.000 Menschen gestorben. Es ist anzunehmen, dass es in diesem August in etwa genauso viele waren. Bei etwa 18 Millionen Einwohner*innen bedeutet das, dass innerhalb dieses Zeitraums knapp 0,01 Prozent der Bevölkerung gestorben sind, oder anders gesagt, eine*r von 1.060 Einwohner*innen.
Die CDU hat zu den kommenden Wahlen rund 25.000 Kandidat*innen aufgestellt. Betrachtet man die reinen Zahlen, hätten allein im August 24 dieser Kandidat*innen sterben müssen. Tatsächlich war es jedoch kein*e einzige*r. Auch das ist statistisch auffällig. Und doch sagt es rein gar nichts aus.
Die Wahrscheinlichkeit, dass und wann jemand stirbt, ist schlicht und ergreifend nicht bei jedem Menschen gleich. Alte Menschen sterben mit einer höheren Wahrscheinlichkeit innerhalb eines bestimmten Zeitraums als junge. Männer sterben früher als Frauen, chronisch Kranke früher als Gesunde. Sieht man sich nun das an, was wir über die Toten aus den Reihen der AfD wissen, dann fällt sofort auf, dass es sich ausschließlich um Männer handelt, die meisten davon bereits im vorgerückten Alter.
Von René Herford ist zudem bekannt, dass er eine Vorerkrankung an der Leber hatte und an Nierenversagen gestorben ist. Patrick Tietze hingegen beging Suizid – eine Todesursache, die bei Männern etwa dreimal so häufig vorkommt wie bei Frauen. Bei den restlichen fünf ist die Todesursache nicht bekannt. Die Polizei schließt jedoch in allen Fällen ein Fremdverschulden aus.
Dass vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen mehr Kandidat*innen der AfD als von anderen Parteien gestorben sind, lässt sich zumindest teilweise damit erklären, dass sie älter und männlicher zu sein scheint als die anderen großen Parteien. Schaut man sich die Fraktion der Partei im Bundestag an, so hat sie mit nur 11,8 Prozent den mit Abstand niedrigsten Frauenanteil und mit 50,7 Jahren auch den höchsten Altersschnitt. Ältester Abgeordneter des gesamten Bundestags ist Alexander Gauland mit 84 Jahren.
Sieht man sich diese Zahlen an, so stellt man fest, dass die AfD offenbar tatsächlich zu großen Teilen aus alten weißen Männern besteht, und alte Männer sterben einfach häufiger als viele andere Bevölkerungsgruppen.
Nicht nur bei der AfD gab es Todesfälle
Es ist auch nicht so, dass nur Kandidat*innen der AfD vor der Wahl verstorben sind. Auch die SPD in Bad Münstereifel, die Grünen in Hellenthal und die FDP in Krefeld trauern um tote Kandidat*innen, genauso wie die Tierschutzpartei in Essen, die Freien Wähler in Wuppertal sowie Wählergruppen und Wählergemeinschaften aus Solingen, Brilon und Kamen.
Auch die Kleinstpartei „Ab jetzt…Demokratie durch Volksabstimmung – Politik für die Menschen“, kurz: „Volksabstimmung“, verlor mit Uwe Arthur Josef Philippsen (63 oder 64 Jahre), der in der Gemeinde Much bei Siegburg für einen Sitz in der Gemeindevertretung zur Wahl antrat, einen Kandidaten.
Hinter dem auf den ersten Blick harmlos klingenden Namen „Volksabstimmung“ verbirgt sich eine bereits 1997 gegründete Partei mit klar extrem rechtem Profil. Ihr Vorsitzender Helmut Fleck war früher Mitglied der Partei Bund für Gesamtdeutschland, die ganz im Geiste sogenannter Reichsbürger gleich im ersten Satz ihres Programms behauptete, das Deutsche Reich würde noch immer existieren, und die Rückgabe der 1945 verlorenen Gebiete forderte. 1997 unterzeichnete Fleck gemeinsam mit Politikern der NPD und Holocaustleugnern ein rassistisches Pamphlet mit dem Titel „Aufruf an alle Deutschen zur Notwehr gegen die Überfremdung. Der Völkermord am deutschen Volk“.
Heute bewegt sich die „Volksabstimmung“ in der Braunzone zwischen extreme Rechte, Reichsbürgermilieu und Verschwörungsgläubigen und ist sowohl im Stadtrat Siegburg als auch im Kreistag des Rhein-Sieg-Kreises vertreten. Sie leugnet den menschengemachten Klimawandel, fürchtet sich vor 5G und hetzt gegen Windräder. Selbstverständlich lehnte sie auch die eingeleiteten Schutzmaßnahmen während der Covid-19-Pandemie ab. In einer Anfrage zu dem Thema im Siegburger Stadtrat verwies sie unter anderem auf den AIDS-Leugner Stefan Lanka und gleich mehrfach auf Veröffentlichungen im rechts-esoterischen Kopp Verlag. Auf ihrer Internetseite verlinkt die Partei unter anderem die antisemitische Verschwörungsplattform Klagemauer.tv und die Europäische Aktion, einen bereits 2017 aufgelösten Zusammenschluss extrem rechter Holocaustleugner*innen.
Verschwörungsmythen und Propaganda
Dass Kandidat*innen vor einer Wahl versterben, ist bei Kommunalwahlen mit zigtausenden Kandidat*innen der Regelfall und nicht die Ausnahme. Dennoch scheinen einige sich mit dieser Tatsache nicht anfreunden zu können. Die rechte Nachrichtenplattform NiUS schrieb von einem „mysteriösen Wahl-Phänomen“. Das extreme rechte Compact Magazin legte Alice Weidel sogar ein laut deren Sprecher frei erfundenes Zitat in den Mund und behauptete: „Der Hass gegen die AfD eskaliert – diese Todesfälle sind ein Weckruf“.
Auch in den sozialen Medien kursieren zum Teil absurde Verschwörungserzählungen. Homburgs Post etwa wurde nicht nur von Alice Weidel, sondern auch von über 3.400 weiteren Nutzer*innen geteilt – darunter auch Elon Musk.
Der „Crash-Prophet“ Markus Krall, der 2024 der rechten Kleinstpartei Bündnis Deutschland beigetreten ist, teilte zum Beispiel Berechnungen, die er ChatGPT hatte durchführen lassen, und die angeblich besagen, die Wahrscheinlichkeit des Geschehenen sei „praktisch Null“. Das Problem dabei ist, dass er die KI mit einer völlig falschen und tendenziösen Frage gefüttert hatte. Der Verschwörungsideologe Paul Brandenburg zitierte Kralls Post dennoch und ging sogar noch einen Schritt weiter. „Ist Deutschlands Regime zu offenen Morden übergegangen?“, fragte er.
Kay Gottschalk, stellvertretender Landesvorsitzender der AfD in Nordrhein-Westfalen äußerte sich gegenüber Politico dagegen vorsichtiger. Was ihm an Information vorliege „bestätigt zumindest diese Verdachtsmomente im Moment nicht“, sagte er. Und doch sollten die Fälle überprüft werden. Dass er sich dabei umgehend dagegen verwehrt, dadurch „gleich in ein verschwörungstheoretisches Fahrwasser zu kommen“, passt ins Bild der allgemeinen Kommunikationsstrategie seiner Partei. Einerseits sät er selbst Verdachtsmomente, andererseits verteidigt er sich bereits präventiv gegen mögliche Kritik und nimmt die bei Rechten so beliebte Opferrolle ein.
Unwahrscheinlich ist nicht unmöglich
„Wir neigen dazu, die Konsistenz und Kohärenz dessen, was wir sehen, zu überzeichnen“, schreibt Daniel Kahneman in seinem wegweisenden Buch Schnelles Denken, langsames Denken. Anders gesagt: Wir suchen nach logischen Zusammenhängen und nach Mustern, wo sich viel einfacher alles durch Zufall und Wahrscheinlichkeit erklären lässt.
Roy Sullivan, Ranger im Shenandoah National Park in den USA, wurde zwischen 1942 und 1977 siebenmal von einem Blitz getroffen. Das ist sehr viel unwahrscheinlicher als, dass sieben von mehreren tausend Kandidat*innen einer Partei in einem Bundesland sterben. Und dennoch ist es passiert.
Wir vergessen gerne, dass unwahrscheinlich nicht dasselbe ist wie unmöglich. Und wir übersehen häufig, dass Wahrscheinlichkeiten oft ungleich verteilt sind.
Verschwörungserzählungen nutzen diese beiden Tendenzen in unserem Denken, indem sie behaupten, es gäbe keine Zufälle und hinter allem, was geschieht, verbergen sich dunkle Mächte. Und die AfD spielt immer wieder ganz bewusst auf diese Art von Erzählungen an, weil Unsicherheit und Angst das Öl sind, das ihre Hassmaschine schmiert.
Dabei ist bei der AfD in Nordrhein-Westfalen nichts wirklich Ungewöhnliches passiert. Landesweit ist eine erwartbare Zahl von Kandidat*innen gestorben, und Mitglieder einer Partei, die mehr noch als andere dazu neigt, alte Männer als Kandidaten aufzustellen, sind unter diesen überproportional vertreten. Auch dass die AfD versucht, den Tod von Menschen für ihre eigene Politik auszunutzen, ist zwar traurig und ein Zeichen fehlender ethischer Grundsätze, aber ungewöhnlich ist es nicht. Ganz im Gegenteil ist es – leider – überaus erwartbar.


