Weiter zum Inhalt

Zwischen Pyro und Fanprojekten Warum Ultras Teil der Zivilgesellschaft sind 

Ultras gelten einigen als Problemfans, dabei kann die Szene auch ein Bollwerk gegen Rechtsextremismus sein. Ein Gastbeitrag von Ruben Gerczikow.

 
(Quelle: Unsplash)

Die Fußball-Saison 2024/25 ist vorbei und auch diese Saison waren Millionen Menschen Feuer und Flamme für ihren Verein – von den Profiligen bis in den Amateurbereich. Deutschlands Fankultur genießt weltweites Ansehen und zieht Fußballbegeisterte aus aller Welt an. Maßgeblich verantwortlich für die Atmosphäre in den Stadien sind aktive Fanszenen und die Ultras, eine der wohl größten Jugendkulturen in Deutschland. In der öffentlichen Wahrnehmung wird diese Sub- bzw. Jugendkultur, die sich in den 1990er-Jahren nach italienischem Vorbild in Deutschland entwickelt hat, eher mit Negativeigenschaften konnotiert. Ein kritischer Artikel jagt den nächsten. So werden Ultras wahlweise als „Pyro-Chaoten“, „gewalttätige Hooligans“ oder mit zu viel Macht innerhalb der Vereinsstrukturen dargestellt.

Tatsächlich gilt es die Entwicklungen seit der Corona-Pandemie in deutschen Fanszenen kritisch zu beobachten. Sei es die vielerorts  zunehmende Vermischung von Ultra-Kultur und Hooliganismus, die steigende Gewaltaffinität oder die martialische Inszenierung in den sozialen Netzwerken. Das  Stadion gilt als „Brennglas der Gesellschaft“, das heißt auch der gesellschaftliche Rechtsruck wird besonders sichtbar. Eine ausführliche Analyse zur Verbindung von Rechtsextremismus und Fußball habe ich für den Blog der Organisation „CeMAS“ geschrieben.

Eine grundlegende Fehlannahme bei der Beschäftigung vieler Medien mit Ultras und aktiven Fanszenen liegt darin, dass die Subkultur auf die 90 Minuten am Spieltag reduziert wird. Dabei bedeutet Ultra sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag für den Verein und die Stadt zu brennen. Der Lokalpatriotismus organisierter Fußballfans führt zu einer engen Verbindung zwischen Fußballvereinen und zivilgesellschaftlichem Engagement, das aus den Städten nicht mehr wegzudenken ist.

Fußballfans als Stütze der Stadtgesellschaft

Kaum eine andere Sportart ist hierzulande so populär wie der Fußball. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) zählte im Juli 2024 7,7 Millionen Mitglieder in Fußballvereinen. Diese Zahlen spiegeln nicht nur die Begeisterung für das runde Leder wider, sondern auch die tiefe gesellschaftliche Verankerung der Fußballvereine, insbesondere in Städten mit einer aktiven Fanszene. Stadien prägen das Stadtbild, Vereinsfarben strahlen auf Graffitis und Aufklebern und lokale Kneipen werden zu Treffpunkten der Jugend der Stadt.

Aus dieser Verwurzelung in Stadt und Region erwächst eine besondere Verantwortung gegenüber der Stadtgesellschaft. Ultras übernehmen häufig Aufgaben, die weit über das Stadion hinausreichen, darunter lokalpolitische Initiativen, soziale Projekte, Erinnerungsarbeit oder Hilfe in Krisenzeiten. So wird zivilgesellschaftliches Engagement zu einem integralen Bestandteil der Fankultur.

Besonders in den vergangenen Jahren multipler Krisen wurde das deutlich. Zu Beginn der Corona-Pandemie griffen Ultra-Gruppen vielerorts auf bestehende Organisationsstruktur zurück und organisierten Einkaufshilfen für die Risikogruppen der jeweiligen Stadt. Und nach den verheerenden Hochwassern im Ahrtal 2021 halfen Mitglieder aktiver Fanszenen aus der Region vor Ort oder sammelten Spenden. Nach dem russischen Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine seit dem 24. Februar 2022 organisierten deutsche Ultras Spendenaktionen für die ukrainische Bevölkerung und zeigten, dass ihr soziales Engagement keine Grenzen kennt. Auch abseits von Krisenzeiten gehörten Aktionen für karitative Zwecke zur Gruppenidentität vieler Ultras. Beispielsweise sammeln über das ganze Jahr und vor allem in der Vorweihnachtszeit Ultra-Gruppen vieler Vereine Spenden in Form von Kleidung oder Lebensmittel für Kinderhilfen oder Wohnungslose.

Lieben, Leben und Lernen

Als eine der größten Jugendkulturen bieten Ultras auch einen wichtigen sozialen Raum für Jugendliche und junge Erwachsene, um soziale Kompetenzen, Selbstbewusstsein und bestimmte Fähigkeiten auszubilden. Trotz der oft auch hierarchisch geprägten Gruppenstrukturen lernen junge Menschen früh Eigenverantwortung zu übernehmen: Sei es beim Malen von Fahnen, dem Planen und Umsetzen aufwendiger Choreografien oder dem Koordinieren gemeinschaftlicher Aktionen. Obgleich davon einiges in breiten Teilen der Gesellschaft auf Unverständnis stoßen mag, spiegelt sich darin vielleicht auch das rebellische Selbstbild der Ultras wider. Eben das, was eine Sub- und Jugendkultur auch ausmacht. Trotzdem darf nicht jedes Fehlverhalten, wie beispielsweise das Werfen von pyrotechnischen Gegenständen in benachbarte Blöcke, als jugendlicher Leichtsinn abgetan werden.

Ultras mit einem antirassistischen Grundkonsens vermitteln zusätzlich politische Haltungen. Sie sind es, die vielerorts die kritische Auseinandersetzung mit der Rolle des eigenen Vereins während der nationalsozialistischen Zustimmungsdiktatur vorangetrieben haben. Die Ultra-Kultur ist damit nicht nur ein Ausdruck von Leidenschaft für das runde Leder, sondern auch ein niedrigschwelliger Zugang zu Selbstorganisation, Gestaltungskraft und Mitbestimmung in einem jugendkulturellen Kontext.

Die unterschätzte Arbeit der Fanprojekte

Auch wenn Ultras für sich die Liebe zur Freiheit beanspruchen, sind sie als Teil der Gesellschaft nicht frei von Machtstrukturen und Hierarchien, in denen auch Ideologien der Ungleichheit herrschen. Gerade, weil junge Menschen im Rahmen des Auslebens ihrer Subkultur mit dem Gesetz in Konflikt geraten können und Rechtsextreme ihr zweites Wohnzimmer als Rekrutierungsort nutzen, braucht es sozialpädagogische Begleitung. Diese Aufgaben übernehmen mitunter die 68 Fanprojekte in ganz Deutschland, die als vertrauensvolle Ansprechpersonen am und außerhalb des Stadions vor allem für die jüngeren Fans des Vereins erreichbar sind. Ihre Gründung geht auf die 1980er zurück, als Fan-Gewalt und Auseinandersetzungen zwischen Hooligans die Schlagzeilen dominierten.

Seit 1993 gibt es mit der „Koordinationsstelle Fanprojekte“ einen zentralen Anknüpfungspunkt für bestehende und neu gegründete Fanprojekte. Getragen werden diese häufig durch freie Träger der Jugendhilfe oder kommunale Stellen. Finanziell gefördert werden sie durch eine „Dreierfinanzierung” bestehend aus der Kommune, dem jeweiligen Bundesland und seit 2013 durch den DFB und die „Deutsche Fußball Liga“. Damit leisten Fanprojekte einen unverzichtbaren Beitrag zur präventiven Jugendsozialarbeit und Demokratieförderung. So stärken sie nachhaltig eine vielfältige, reflektierte und sozial verantwortliche Fankultur im deutschen Fußball.


Ruben Gerczikow ist Autor und schreibt über Rechtsextremismus, Islamismus und jüdische Gegenwart. Anfang 2023 ist sein gemeinsam mit Monty Ott verfasster Reportageband Wir lassen uns nicht unterkriegen – Junge jüdische Politik in Deutschland bei Hentrich & Hentrich erschienen. Im Herbst 2025 erscheint im Verlag Die Werkstatt der von Monty Ott und Ruben Gerczikow herausgegebene Sammelband Juden auf dem Platz, Juden auf den Rängen – Jüdische Lebenswirklichkeiten und Antisemitismus im Fußball heute.

Belltower.News macht gemeinnützigen Journalismus, denn wir klären auf und machen das Wissen von Expert*innen zu Antisemitismus, Rassismus und
Rechtsextremismus und allen anderen Themen der Amadeu Antonio Stiftung für ein breites Publikum zugänglich.
Unsere Reportagen, Recherchen und Hintergründe sollen immer frei verfügbar sein und nie hinter einer Paywall verschwinden.
Dafür brauchen wir aber auch Ihre Hilfe.
Bitte unterstützen Sie unseren Journalismus, Sie helfen damit der digitalen Zivilgesellschaft!

Weiterlesen

469629700

EM rechtsaußen Die Mär vom unpolitischen Fußball

Die Fußball-Europameisterschaft ist vorbei. Zeit, die letzten Wochen Revue passieren zu lassen: Ein Worst-of von Rassismus und Nationalismus.

Von
421999210

Studie Der Berliner Fußball im Nationalsozialismus

Der Berliner Fußballverband hat eine Studie in Auftrag gegeben, um seine Rolle im Nationalsozialismus aufzuarbeiten: Die Studienleiter im Interview.

Von
Im Gespräch: Monty Ott und Ruben Gerczikow

Ruben Gerczikow und Monty Ott „Wir lassen uns nicht unterkriegen“

In ihrem Reportagenband „Wir lassen uns nicht unterkriegen“ berichten Ruben Gerczikow und Monty Ott über die Vielfältigkeit junger jüdischer Politik…

Von

Schlagen Sie Wissenswertes in unserem Lexikon nach.