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12. Prozesstag Brandanschlag in Solingen – NS-Propagandamaterial

Am 12. Verhandlungstag im Prozess gegen Daniel S. rückten brisante Funde in den Fokus: NS-Propagandamaterial, das bei einer Hausdurchsuchung entdeckt, aber nicht den Ermittlungsakten beigefügt wurde. Es wurde mehr als deutlich, dass die politisch-ideologische Dimension des Brandanschlags bislang keine Rolle gespielt hat – und vielleicht auch nicht spielen sollte.

 
Ein rechtsextremer Täter zündet in Solingen (NRW) ein Wohnhaus an, in dem vor allem migrantische Menschen leben. Ein dreijähriges Kind, ein Säugling sowie ihre Eltern kommen bei dem Anschlag ums Leben. (Quelle: Adalet Solingen)

Die Prozessberichterstattung stammt von Adalet Solingen und wurde dort zuerst veröffentlicht.

Vorenthaltene Beweismittel und skandalöse Aktenführung

Nebenklagevertreterin Seda Başay-Yıldız stellte fest, dass bei den Hausdurchsuchungen am 8. und 9. April 2024 entdeckte, hochrelevante Beweisstücke – darunter NS-Fotos, Bücher und Tonaufnahmen – nicht in die Ermittlungsakten aufgenommen wurden. Unklar bleibt, wer für die lückenhafte Dokumentation verantwortlich ist – ebenso, wo sich das Material aktuell befindet und wer Zugriff darauf hatte. Richter Kötter zeigte sich überrascht und kündigte Aufklärung an.In der Verhandlung wurden acht Fotos gezeigt, die belastendes NS-Material aus dem Haus des Täters zeigen: unter anderem Hitlers Mein Kampf, NSDAP-Materialien sowie Bücher über Hermann Göring und dessen Frau, auf den der Befehl zur Auslöschung der europäischen Juden von 1941 zurückgeht. Dazu kommen Tonbandaufnahmen mit Reden Hitlers und Görings. Die Fotos wurden bei der Hausdurchsuchung aufgenommen, jedoch aus der Akte herausgehalten.Auch andere Versäumnisse wurden offensichtlich: Beweismittel wurden ohne Handschuhe fotografiert, Fingerabdrücke offenbar nicht gesichert, und wichtige Fundstücke nicht protokolliert – wie eine Tabakdose der gleichen Marke, die bei der Tat als Behälter für den Brandbeschleuniger benutzt wurde.

Verharmlosung durch die Verteidigung – und fragwürdige Ermittlungen

Ohlinger, der Rechtsanwalt von Daniel S., war nicht nur der Anwalt von einem der vier rechtsextremen Mörder des Solinger Anschlags von 1993, sondern vertrat auch denjenigen Täter vor Gericht, der 2021 ebenfalls in Solingen einen Brandanschlag mit einem Molotovcocktail auf eine Familie mit Migrationsgeschichte verübte. Im aktuellen Prozess zweifelte Ohlinger die Eigentümerschaft des NS-Materials an: Seiner Auffassung nach habe Daniel S. keinen Zugang zum durchsuchten Dachgeschoss gehabt, sodass sein Vater oder dessen Lebensgefährtin womöglich verantwortich seien. Der Staatsschutz stufte den Vater trotz des Materials als „nicht dem rechtsextremen Spektrum zugehörig“ ein, sondern sprach lediglich von einer möglichen „rechten Weltoffenheit“, da der Besitz von NS-Materialien schließlich nicht strafbar sei. Auf Nachfrage von Başay-Yıldız wurde deutlich: Auch weitere extremistische Fundstücke, die neben den Benzinkanistern und Brandbeschleunigern in der Garage des Paares vorlagen, wurden im bisherigen Prozess kaum beachtet – am prominentesten das „Lied eines Asylsuchenden“, das seit 1992 in der rechtsextremen Szene kursiert und als volksverhetzerisch eingestuft ist.

Zahlreiche Indizien für ein politisches Motiv bei mangelnder digitaler Spurensicherung

Başay-Yıldız stellte einen 20-seitigen Antrag auf vollständige Akteneinsicht und Zugriff auf alle Bilddateien. Sie warf den Behörden vor, ein mögliches politisches Tatmotiv auszublenden. Kurz vor der Tat hatte der Täter mit seinem Handy die Videos „Dorf-Disco formuliert Forderung #Remigration“ sowie „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus“ angesehen, die vom rechtsextremen Kanal Compact TV veröffentlicht wurden. Darüber hinaus wurden wiederholt Wehrmachtslieder und Marschbefehle angehört. Dies wurde von der Polizei ebensowenig ausgewertet wie die Schallplatten mit Tonaufnahmen Hitlers und Görings. Başay-Yıldız gibt weiter an, dass ihre Recherchen zu Daniel S. Googlekonto ergaben, dass er wenige Tage vor dem Anschlag zu Mord und Strafe recherchiert hat. Das Handy konnte bisher nicht aufgefunden werden. Başay-Yıldız fordert ein kriminaltechnisches Gutachten und eine datenforensische Untersuchung.

„Linke Lebensgefährtin“ als Schutzschild? – Staatsschutz ignoriert rechtsextreme Inhalte

Was besonders fragwürdig ist: Eine Festplatte mit 166 zutiefst rassistischen Inhalten wurde der laut Staatsschutz „eher linken“ Lebensgefährtin des Täters zugeordnet. Başay-Yıldız trägt einige Auszüge der Festplatte im Gerichtssaal vor: Ein Bild von einem Marsriegel mit Staub darauf und der Überschrift „Ein Jude auf dem Mars“, ein Bild von Barack Obama mit dem Schriftzug „Give the n***** some chicken“, Wehrmachtsverehrung, rassistische Karikaturen, teilweise mit Fotos und Zitaten von Adolf Hitler, sowie ein Bild mit der Überschrift „Ein Türke hat sich angezündet, wir sammeln für die Hinterbliebenen, 90 Liter Benzin haben wir schon zusammen“ sowie weitere Inhalte, die gegen Muslime und Menschen mit Fluchtgeschichte hetzen und ihnen „Asylbetrug“ unterstellen.

Zugleich wurde vom zweiten befragten Staatsschutzbeamten argumentiert, dass der Täter nicht rechts sein könne, da eine Beziehung zwischen der „eher linken“ Lebensgefährtin und dem Täter auf Dauer nicht funktionieren könne, wenn dieser rechts eingestellt sei. Darüber hinaus gibt die Staatsanwaltschaft zu Protokoll, dass die Festplatten samt Inhalten irrelevant seien, da nicht zuzuordnen sei, wer in den letzten Jahren Dateien hinzugefügt oder gelöscht habe. Richter Kötter gab sich nach der Befragung der Staatsschutzbeamten darüber verwundert, dass normalerweise minutiös dokumentiert würde, was bei Hausdurchsuchungen gefunden wird, während das bei den zurückgehaltenen rechtsextremen Fotos und Inhalten nicht der Fall gewesen sei.

Nach Schließung der Sitzung kam es zu einer unschönen Auseinandersetzung: Ein Justizangestellter konfrontierte zwei Journalist*innen aggressiv wegen der Handy- und Laptopnutzung im Gerichtssaal. Er drohte an, dass es bei dem nächsten Prozesstermin „ganz anders“ laufe und ging daraufhin noch zwei weitere Personen aus dem Umkreis des Unterstützer*innenkreises der Betroffenen an.

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