Der Blick aufs Jahr 2025 ist nicht ganz hoffnungslos. Die antiisraelische Massenmobilisierung könnte an ihr Ende gelangt sein. Mit der Beruhigung der Lage im Nahen Osten dürfte das Thema auch hierzulande an Relevanz verlieren. Der Terroranschlag auf eine Hannukah-Feier in Sydney zeigt aber, wie tödlich weiterhin Antisemitismus ist. Generell gilt: Die antisemitischen Vorfälle haben ein neues Hoch erreicht. Und niemand sollte die rechtsextreme Raumnahme unterschätzen, die in Deutschland immer mit einer Zunahme an Antisemitismus einherging.
Am 13. Oktober 2025 ist es soweit: Nach jüdischem Kalender, auf den Tag genau zwei Jahre nach ihrer Entführung, kommen die noch lebenden israelischen Geiseln an Simchat Thora endlich aus der islamistischen Geiselhaft frei. In Gaza herrscht Waffenruhe. Der Krieg ist offiziell vorbei.
„Wie geht es euch?“, habe ich im Sommer noch Sigmount Königsberg, den Antisemitismusbeauftragten der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, in einem Telefonat gefragt, um die Stimmung innerhalb der jüdischen Communitys besser zu verstehen. „Wir warten“, war seine kurze Antwort, „wir warten darauf, dass die Geiseln endlich freikommen. Das erste Mal seit dem 7. Oktober 2023 ist jetzt, nach der Freilassung, ein erstes Aufatmen unter Jüdinnen*Juden zu vernehmen.
Nikolas Lelle leitet seit 2020 die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus bei der Amadeu Antonio Stiftung. Er beschäftigt sich vornehmlich mit Antisemitismuskritik, Erinnerungskultur und Gesellschaftstheorie. Er hat in Frankfurt am Main und Mainz Philosophie und Soziologie studiert und an der HU Berlin promoviert. Zuletzt erschien von Lelle „,Arbeit macht frei’. Annäherungen an eine NS-Devise“. 2026 kommt „Antisemitismus definieren. Eine Anleitung zum Abgrenzen“ zusammen mit Tom Uhlig.
Ich sitze an diesem Tag in der Amadeu Antonio Stiftung, zusammen mit Kolleg*innen schauen wir uns die Freilassung der Geiseln an. Seit zwei Jahren bewegt uns das Schicksal dieser Menschen. Jetzt sind sie endlich wieder frei. Hoffnung mischt sich unter das Gefühl von Wut und Ohnmacht, das uns so lange begleitet. Wenige Tage zuvor haben wir die Aktionswochen gegen Antisemitismus eröffnet, größer denn je, mit 200 Veranstaltungen in über 60 Städten. Nach zwei Jahren der antisemitischen Eskalation tut es gut zu sehen, wie viele sich deutschlandweit gegen Antisemitismus engagieren. Gegen Vereinzelung und Einsamkeit festigen wir ein 22 Jahre währendes, nachhaltiges Netzwerk von jüdischen und antisemitismuskritischen Akteuren.
Mit dem Ende der Kriegshandlungen in Gaza und der Freilassung der Geiseln drängt sich die Frage auf, wie es jetzt in Deutschland weitergeht? Wird die antiisraelische Szene sich weiter radikalisieren? Kommt es zu Gewalt, zu Terroranschlägen? Während ich diese Zeilen schreibe, erreichen mich die Nachrichten aus Sydney: eine Hannukah-Feier wurde angegriffen, zwei islamistische Attentäter, Vater und Sohn, ermordeten 16 Menschen, verletzten weitere 40 Personen, teils schwer. Dunkelheit legt sich über das Fest des Lichts. Der Demospruch „Globalize the Intifada“ drängt sich auf. Ist so etwas auch in Deutschland denkbar? Es könnte doch auch anders kommen. Mit dem Ende der Kriegshandlungen in Gaza und der Freilassung der Geiseln könnte der antiisraelischen Bewegung Wind aus den Segeln genommen werden? Erleben wir vielleicht den Anfang vom Ende der antiisraelischen Massenbewegung nach dem 7. Oktober? Auch Ende 2025 gibt es keine abschließenden Antworten auf diese Fragen. Es zeichnet sich zwar ab, dass der harte Kern der Szene weitermacht und versucht, das Thema am Laufen zu halten. Ihnen spielt in die Karten, dass Antisemitismus in Form des Antiisraelismus mittlerweile in Mode gekommen ist, also zu einem kulturellen Code wurde. Es bleibt aber zu hoffen, dass die Massenbewegung an ihr Ende gelangt ist.
Erst wenige Wochen vor der Freilassung der Geiseln erlebte sie ihren Höhepunkt: Am 27. September demonstrieren noch Zehntausende in Berlin, gegen Israel, gegen Krieg, gegen einen angeblichen Genozid, angeführt von der Linkspartei. Ich mache mir vor Ort ein Bild. Die Stimmung ist ausgelassen, die Sonne scheint. Für diesen Artikel schaue ich nochmal über meine Fotos. Auf Schildern und Transparenten zeigt sich das breite Spektrum von Narrativen. „The people want the fall of Germany’s Staatsräson“ steht hier ebenso auf Schildern wie „Von Westsahara bis Palästina: Stoppt Siedlerkolonialismus“ und „Es ist alles die Besatzung“; Friedenstauben und Kalashnikovs sollen „antikolonialen Widerstand“ symbolisieren, zur Holocaust-Relativierung im Slogan „Wollt ihr den totalen Völkermord?“ gesellt sich die Behauptung „There is only one Solution: Intifada Revolution“.
Während Zehntausende mit moralischer Selbstgewissheit Einigkeit demonstrieren, stehen auf der Handvoll Gegenkundgebungen entlang der Route nur wenige Menschen. Das Zahlenverhältnis zeigt eindrücklich die Lage im Herbst 2025. Solidarität mit von Antisemitismus Betroffenen zeigen die Wenigsten. Die Mehrheit der Demonstrierenden hat kein Problem damit, mit oder neben antisemitischen Parolen und islamistischen Symbolen durch die Stadt zu ziehen. „Shame on you“, rufen sie den Teilnehmer*innen einer israelsolidarischen und antisemitismuskritischen Kundgebung im Berliner Lustgarten zu.
Viele scheinen noch kurz vor dem Ende auf die richtige Seite wechseln zu wollen. Influencer*innen und Aktivist*innen haben in den Tagen vor der Demo Videos veröffentlicht, in denen sie bekennen, sie hätten zum angeblichen Genozid zu lange geschwiegen, seien aber jetzt endlich aufgewacht. Auf der Demonstration selbst wird vom Lautsprecherwagen verkündet, es sei nicht schlimm, wenn es die erste Demo gegen Israel sei, die man besuche; schlimm sei bloß, wenn es die letzte bleibe. An diesem Samstag hat die Mobilisierung funktioniert. Unter den Demonstrant*innen sind sicherlich viele, die es gut meinen, die gegen Ungerechtigkeiten auf die Straße gehen wollen. Diese Geisterfahrer des guten Willens bilden hier die Masse für antiisraelische und antisemitische Agitation.
Für Jüdinnen*Juden war die Demonstration der schlagende Beweis, dass ihr Schicksal auch zwei Jahre nach dem 7. Oktober nicht allzu viele Menschen in diesem Land interessiert. Dabei ist die Lage katastrophal. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Das Bundeskriminalamt hat 2025 6.236 Straftaten dokumentiert, die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) 8.627 antisemitische Vorfälle. Die Gedenkstätten berichten von zunehmenden Sachbeschädigungen und Übergriffen, jüdische Studierende skandalisieren die weiterhin desolate Lage an deutschen Hochschulen, der Zentralrat der Juden in Deutschland prangert an, wo er nur kann: Es nutzt alles nichts. Der Antisemitismus grassiert und wird doch kleingeredet. In der Chronik antisemitischer Vorfälle gibt die Amadeu Antonio Stiftung einen fast tagesaktuellen Eindruck. Mehr als 300 Vorfälle wurden hier dieses Jahr dokumentiert. Eine Auswahl:
Kurz nach Silvester wird in Apolda an einem jüdischen Erinnerungsort ein Schweinekopf abgelegt. Im Februar wird auf einer Demonstration in Berlin gefordert, Juden zu erschießen. In Köln werden Anfang April 23 Stolpersteine unkenntlich gemacht. In Hamburg hat im Mai jemand versucht, ein Auto von der Fahrbahn abzudrängen, aus dem hebräische Musik zu hören war. In Kleinmachnow verbietet eine Schneiderei im Juni via Facebook-Post Israelis und Juden den Zutritt. In Frankfurt am Main attackieren Aktivist*innen im August während eines Klima-Camps Mitglieder der Jüdischen Gemeinde mit Farbe und in Göttingen steht Anfang September am Universitätsgebäude „ZIONISTEN TÖTEN“. Am 9. November wird in Hamburg eine ältere Dame attackiert, während sie Stolpersteine putzt und Ende November ein Rabbiner in Offenbach auf offener Straße beleidigt. Das ist die neue Normalität. Jeden Tag passieren im Schnitt mehr als 20 solcher Vorfälle.
Nicht übersehen werden dürfen die rechtsextremen Alltagskulturen und parlamentarischen Raumgewinne in diesem Land, die Schlussstrichrufe ebenso mit sich bringen wie Verschwörungsideologien. Der Leiter einer KZ-Gedenkstätte berichtete mir im Sommer, dass fast täglich Jugendliche, die mit ihren Schulklassen durch die Gedenkstätte geführt werden, durch neonazistische Marken oder Symbole auffallen. Die Höckesche „erinnerungspolitische Wende“ wird praktisch umgesetzt und zeigt sich auch in antisemitischen Vorfällen wie beschmierten Gedenkorten, geschändeten Grabstätten oder herausgerissenen Stolpersteinen. Aus den Landtagswahlen 2026 könnte die sogenannte Alternative für Deutschland als Gewinnerin hervorgehen.
Die Beruhigung im Nahen Osten, die sich womöglich darin übersetzt, dass die antiisraelische Massenbewegung an ihr Ende gelangt, wird Antisemitismus aber nicht verschwinden lassen. Aus antisemitismuskritischer Perspektive bleibt das Motto für die nächsten Jahre daher: weitermachen.


