In einer zunehmend polarisierten Öffentlichkeit scheint die eigene Haltung zum israelisch-palästinensischen Konflikt zum kulturellen Prüfstein geworden zu sein. Wie der 2024 erschienene Report der Bildungsstätte Anne Frank zu Antisemitismus im Internet nach dem 7. Oktober 2023 zeigt, kursieren auf TikTok seit Jahren stark vereinfachte oder propagandistische Videos zum Nahost-Konflikt. Ähnliche Deutungsmuster herrschen auch auf den großen Konzertbühnen der Welt: Israel gilt als „weiße Siedlerkolonie”, als Aggressor und als Feind, der historischen Verwurzelung von Jüdinnen*Juden in Israel wird kaum Beachtung geschenkt. Statt differenzierter Auseinandersetzungen dominieren verkürzte Narrative, in denen berechtigte Kritik an der israelischen Regierung und offener Antisemitismus miteinander verschwimmen. Jüdische Menschen, die auf diese Problematik hinweisen, sehen sich nicht selten mit Abwehr, Relativierung oder gar Feindseligkeit konfrontiert.
Das aktuell beste Beispiel liefert das britische Rap Duo Bob Vylan mit ihrer Parole „Death, Death to the IDF“, angestimmt vor einem Live-Publikum beim größten Festival Großbritanniens mit 200.000 Besucher*innen. Formal mag sie als Kritik an Israels Militär gerichtet sein, aber in der Realität stellt sie eine gewaltvolle Form antisemitischer Mobilisierung dar. Denn wenig später, nach dem Auftritt der Band beim Glastonbury Festival, taucht die Parole auf vielen antiisraelischen Demonstrationen auf, auf Wänden in verschiedenen Städten oder Mauern von Universitäten wie der Universität der Künste Berlin. Die Wochen nach dem Auftritt des Rap Duos beweisen, dass es nicht bei leeren Worten bleibt. Anfang Juli verübt ein 34-jähriger Mann in Melbourne einen Brandanschlag auf eine Synagoge, indem er die Eingangstür anzündet, während sich ungefähr 20 Personen im Gebäude befinden. Am selben Abend attackieren etwa 20 Demonstrierende ein israelisches Restaurant im Stadtzentrum. Mehrere Gäste werden bedroht und mit Essen beworfen, während die Angreifer*innen „Death, Death to the IDF“ rufen. Solche Ereignisse zeigen: auch wenn sich die Kritik vordergründig gegen das Militär, „Zionisten“ oder „Eliten“ richten mag – in der Wirkung trifft sie Jüdinnen*Juden als konkrete Personen. Dadurch stellt sie eine reale Bedrohung für Jüdinnen*Juden dar.
Die Konsequenzen tragen Jüdinnen*Juden
Die Debatte um den US-Musiker Macklemore steht beispielhaft für die Normalisierung antisemitischer Stereotype im popkulturellen Mainstream. Bereits 2014 wurde ihm Antisemitismus vorgeworfen, nachdem er auf einem seiner Konzerte mit Hakennase, Bart und Pejes (Schläfenlocken) aufritt – ein klassisches antisemitisches Stereotyp. Bis heute bestreitet er die Vorwürfe und twittert im Mai 2014 dazu: „Eine falsche Hexen-Nase, Perücke und Bart = zufälliges Kostüm. Das ist für mich kein Stereotyp von jemandem“. Die Codes, die Macklemore nutzt – ob nun gewollt oder nicht – bedienen ein historisch gewachsenes Repertoire antisemitischer Narrative, die spätestens seit dem Nationalsozialismus kulturell tief verankert sind.
Im Musikvideo von Macklemore zum Song „fucked up“ vergleicht er nicht nur den Gazastreifen mit dem Warschauer Ghetto, sondern suggeriert, dass das US-amerikanische, jüdische Unternehmerpaar Resnick das Wasser kontrolliere. Der Politologe Samuel Stern spricht genau über diese Zeile „The worlds on fire / we don’t own the water y’all / (the Resnicks do)“ in einem Interview: „Das Wasser-Beispiel ist sehr einfach und sehr eindrücklich: Es gibt eine jüdische Familie, die angeblich das Wasser in Kalifornien kontrolliert und die Bekämpfung der Waldbrände verhindert habe. Man kann diesen Missstand ansprechen. Aber man bekämpft ihn nicht, indem man sich antisemitischer Sprachtraditionen bedient.“ Die Resnicks weisen sehr wohl große private Wasserreserven auf, aber genauso der Nestlé-Konzern oder Danone – das ist für Macklemore nicht erwähnenswert. Dass eine „jüdische Elite“ (natürliche) Ressourcen, Geld oder die Medien kontrolliere, geht auf seit dem Mittelalter bestehende Verschwörungsideologien zurück: Antisemitismus par excellence. Die Antisemitismus-Expert*innen Maria Kanitz und analysieren: „Der Rapper will auf Leid und Unrecht aufmerksam machen, erzeugt mit seiner eindimensionalen und verzerrten Sichtweise jedoch ein dämonisierendes Bild, das dem jüdischen Staat die Rolle des Täters, Unterdrückers und alleinigen Aggressors zuweist.“ Dass diese Inhalte von einem breiten Publikum rezipiert werden, offenbart eine gefährliche Leerstelle in der popkulturellen Sensibilisierung gegenüber Antisemitismus. Kanitz und Geck schließen nüchtern: „Es scheint längst nicht mehr um Verständigung oder die friedliche Beilegung des Konflikts zu gehen.“
Trotz dieser Inhalte tourt Macklemore im Sommer 2025 durch Europa, tritt beim Lollapalooza in Paris, beim Deichbrand Festival in Cuxhaven und beim Paléo Festival in Nyon auf.
Der Umstand, dass solch ein Künstler weiterhin auf renommierten Festivals auftritt, signalisiert Jüdinnen*Juden, dass ihr Schutz und ihre Perspektiven zweitrangig sind. Wer sich antisemitisch äußert, muss kaum mit Konsequenzen rechnen. Lia*, eine jüdische Studentin, war bis vor kurzem begeisterte Festivalbesucherin. Seit diesem Jahr achtet sie besonders auf das Line-up und welchen Künstler*innen eine Bühne geboten wird, erzählt sie im Gespräch: „Meine Freund*innen meinen, ich übertreibe, aber inzwischen fühle ich mich einfach nicht mehr wohl auf Festivals. Teilweise geht das so weit, dass ich vor vielen auch nicht sage, dass ich jüdisch bin. Ich würde gerne einfach die Musik genießen, so wie andere, kann es in solchen Situationen aber nicht.“
Auch Ron Dekel, Präsident der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands, erzählt von ähnlichen Erlebnissen: „Es ist ein ständiges Abwägen: Sage ich etwas, wenn ich Antisemitismus höre? Rede ich darüber, dass ich jüdisch bin? Trage ich meine Kette offen? Halte ich mich von gewissen Ständen oder Gruppen lieber fern? Es geht nicht um Panik, sondern um ein realistisches Gefühl für Gefahr.“
Blinde Flecken in emanzipatorischen Kreisen
Progressive, linke Szenen nehmen für sich in Anspruch, besonders wachsam gegenüber Diskriminierung, Machtasymmetrien und struktureller Gewalt zu sein. Doch diese Selbstverortung ignoriert, dass auch in vermeintlich „emanzipatorischen“ Milieus antisemitische Denkmuster bestehen. Die Fusion ist ein seit 1997 stattfindendes, durch den Verein Kulturkosmos organisiertes Festival. Es gilt als eines der bedeutendsten Treffpunkte für linke und autonome Gruppen, neben zahlreichen musikalischen Acts finden stets politische Workshops, Diskussionen und Referate während des Festivals statt. Das Fusion Festival ist damit auch ein explizit politischer Freiraum. Nach anfänglicher Solidarität mit Jüdinnen*Juden nach dem 07. Oktober seitens der Veranstalter*innen, mündet dies nach und nach in die Befeuerung antisemitischer Inhalte. Als Reaktion gründet sich kurz vor Festivalbeginn 2024 das Bündnis „Fusionistas against Antisemitism & Antizionism“. Als das Bündnis 2024 antisemitische Vorfälle auf der Fusion dokumentierte, stieß das beim Kulturkosmos auf eine Mauer des Schweigens.
2025 untersagt der Verein den Informationsstand der Fusionistas: „Das Verbot unseres Standes war einerseits für uns frustrierend und steht exemplarisch für den Umgang mit unserer Arbeit. Anstatt sich Gedanken um Aufarbeitung und Prävention zu machen, wurde unsere Arbeit auf zutiefst autoritäre Weise verunmöglicht,“ heißt es in einem Statement der Gruppe. Der Ausschluss der Fusionistas against Antisemitism & Antizionism verdeutlicht damit ein strukturelles Problem: Kritik an Antisemitismus wird in linken Räumen nicht selten als störend, spaltend oder politisch unpassend abgetan, während antisemitische Positionen geduldet werden und sendet laut dem Bündnis „eine verhängnisvolle Botschaft. Antisemit*innen dürften sich bestätigt fühlen, während von Antisemitismus Betroffene allein gelassen werden. Somit waren die erneuten antisemitischen Ausfälle von Gästen, Mitarbeitenden und Künstler:innen keine Einzelfälle, sondern Konsequenz eben dieser Haltung.“
Kunst ist frei – doch nicht von Verantwortung!
Der Ruf nach universeller Solidarität ist in linken und popkulturellen Milieus allgegenwärtig. Doch echte Solidarität zeichnet sich nicht durch ideologische Vereinfachung aus, sondern durch Auseinandersetzung mit Ambivalenzen und der Bereitschaft, auch für die eigene Meinung „unbequeme” Perspektiven ernst zu nehmen. Kunstfreiheit ist ein hohes Gut, doch sie entbindet nicht von Verantwortung. Wer auf Bühnen steht, Festivals organisiert und dabei ein Millionenpublikum erreicht, gestaltet kulturelle und politische Diskurse mit. Wenn diese auch noch antisemitische Narrative reproduzieren oder dulden, so handeln sie aktiv gegen die Sicherheit jüdischer Personen. Auch Ron Dekel spricht sich für klare Regelungen aus: „Antisemitische Inhalte und Parolen müssen so behandelt werden wie jede andere Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit – mit Hausverbot, Ausschluss, deutlicher Abgrenzung.“ Die Verteidigung solcher Äußerungen mit Hinweis auf „Meinungsfreiheit“ zeugt von einem verkürzten Freiheitsverständnis, das strukturelle Machtverhältnisse auch noch legitimiert. Eine Solidarität, die nur bestimmten Gruppen gilt, während andere bewusst ignoriert oder gar ausgegrenzt werden, ist nicht solidarisch, sondern verhält sich strukturell ausgrenzend. Wer sich progressiv nennt, muss auch klare Haltung zeigen. Solidarität, die auf der Unsichtbarmachung anderer beruht, ist keine.
*Name geändert


