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Ausgeliefert Family & Friends Hamburg

Maja T. sitzt wegen mutmaßlicher Übergriffe auf Neonazis in Ungarn im Gefängnis. Eine Auslieferung aber hätte es gar nicht geben dürfen. Sechs weitere Angeklagte warten derweil hierzulande auf ihren Prozess. Eine Begegnung mit Angehörigen.

 
Anne (Name geändert) ist die Schwester der in U-Haft sitzenden Clara W.. Manfred ist ein enger Freund der Familie. Beide engagieren sich in der Solidaritätsgruppe Family & Friends Hamburg. (Quelle: Kate Kuklinski)

Dieser Artikel ist zuerst im Veto Magazin entschieden.

Meterhohe graue Betonmauern, umgeben von weitläufigen Feldern direkt an der A1: Das ist die Justizvollzugsanstalt Billwerder in Hamburg. An einem Kran weht ein großflächiges Banner mit der Botschaft: „Keine Auslieferung nach Ungarn“. Clara W. sitzt hier seit sechs Monaten in Untersuchungshaft. Ihr und sechs weiteren Personen wird vorgeworfen, im Februar 2023 an Angriffen auf Neonazis in Budapest beteiligt gewesen zu sein. In der ungarischen Hauptstadt gedenken Rechtsextreme jedes Jahr am „Tag der Ehre“ der Waffen-SS. Seitdem waren Clara W. und die anderen untergetaucht. Anfang 2025 stellten sie sich den Behörden.


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An einem sonnigen Tag Anfang Juli haben sich an die 100 Menschen vor der JVA versammelt. Hinter Zäunen, Gestrüpp und dicken Wänden lauscht Clara W. der Kundgebung in ihrer Zelle – das zumindest vermuten befreundete Menschen und auch ihre Familie. Sie alle sind hierher gekommen. „Vom allerhöchsten Stengel, den wir auftreiben konnten, hoffen wir, endlich mal bis zu dir rüber zu dröhnen“, bemerkt eine Rednerin der Solidaritätsgruppe Family & Friends Hamburg. Clara W.s Mutter Birgit ruft hinterher: „Wir vermissen dich sehr, der Austausch, die Umarmungen und das Zusammensein fehlen mir.“

Die Solidaritätsgruppe schreibt an Abgeordnete und versucht, auf den Prozess aufmerksam zu machen. Jeden Monat laden sie zur Kundgebung vor die JVA ein. „Ich muss das, was ihnen vorgeworfen wird, nicht gut finden“, bemerkt Manfred. Er gehört seit Anfang an zur Gruppe, um „der Faschisierung unserer Gesellschaft“ etwas entgegenzuhalten, so beschreibt er seine Motivation. Vor 40 Jahren lernten sich Manfred und Clara W.s Eltern kennen. Sie gehörten zur Anti-AKW-Bewegung, demonstrierten damals gemeinsam für Frieden und die Umwelt, bauten sich in einem Wohnprojekt ein geteiltes Zuhause, in dem Clara W. aufgewachsen ist.

„Clara hat sich schon immer für Gerechtigkeit eingesetzt“, findet ihre ältere Schwester Anne. Bis heute hätten beide eine enge Beziehung zueinander. Auch sie streitet mit der Gruppe für ein rechtsstaatliches Verfahren und genauso darum, die drohende Auslieferung nach Ungarn zu verhindern. „Die Angeklagten werden wie Terroristen behandelt, das ist konstruiert.“

Der Fall Maja T.

Dass dieser Einsatz nötig ist, beweist die Situation von Maja T. Auch T. soll an den Angriffen in Budapest beteiligt gewesen sein. Im Dezember 2023 wird Maja T. in Berlin verhaftet und im Juli 2024 vom Kammergericht schließlich nach Ungarn überstellt. Berichte einer ungarischen NGO rieten nachweislich von einer Auslieferung ab. Am selben Morgen noch reicht der Anwalt eine Verfassungsbeschwerde ein. Das Bundesverfassungsgericht untersagt die „Übergabe an die ungarischen Behörden“ und weist die Generalstaatsanwaltschaft Berlin an, die „Rückführung in die Bundesrepublik Deutschland zu erwirken“.

Mit Bekanntwerden des Beschlusses allerdings sitzt Maja T. bereits im Flieger über Österreich. „Das Kammergericht hat mit seinen Taten wissentlich Fakten geschaffen“, meint Anne. „Ich bin sehr erschüttert, wie leicht dieses Rechtssystem ausgehebelt wurde.“

Wer die deutsche Staatsangehörigkeit hat, den schützt das Grundgesetz grundsätzlich vor der Auslieferung an das Ausland. Ausnahmen sind innerhalb der Europäischen Union möglich, sofern rechtsstaatliche Standards im Zielland gewahrt sind. In Ungarn jedoch bemängelt die EU-Kommission bereits seit Jahren große Rechtsstaatsdefizite. Und genau dort sitzt Maja T. in Isolationshaft, ist als nicht-binäre Person einer rechtspopulistischen, offen queerfeindlichen Regierung ausgeliefert. Es ist die Rede von psychischer Folter: Lichtbelastung, Entzug sozialer Kontakte, würdelose Untersuchungen und weitere Repressionen.

Um auf die prekäre Lage aufmerksam zu machen, trat Maja T. Anfang Juni in den Hungerstreik und sagte: „Ich bin lebendig in einer Gefängniszelle begraben.“ Wegen schwerer körperlicher Folgen wurde Maja T. in ein Haftkrankenhaus überstellt. Die Bundesregierung hatte zu all dem lange öffentlich geschwiegen. Außenminister Johann Wadephul (CDU) erklärte nun, „in dieser Sache erneut in Ungarn vorstellig zu werden“.

Maja T. pausierte zudem den Hungerstreik nach inzwischen mehr als fünf Wochen, in den T. rund 14 Kilogramm abgenommen habe. Die Herzfrequenz sei zeitweise auf 30 gesunken. In einer Erklärung schreibt Maja T. dazu: „Ich wollte es nie so weit kommen lassen, hoffte naiv darauf, dass ein so radikaler Schritt wie der Hungerstreik endlich Bewusstsein schafft, dass sie handeln, nach einem Jahr Beschwichtigungen, Lächeln und Ignoranz.“ Betroffene Eltern fordern mit einer Petition die Rückkehr – diese zählt bereits über 100 000 Unterschriften.

Vorverurteilung

Knapp zwei Wochen vorher verabreden sich Manfred und Anne vor einem Backsteinhaus im vorstädtischen Hamburg. Bis zur Justizvollzugsanstalt sind es neun Kilometer. „Ich habe seit meinem Erwachsenenleben nie so nah an meiner Schwester gewohnt wie jetzt“, erklärt Anne. Der Kontakt zu Clara W. ist auf zwei Stunden im Monat begrenzt. Besuch darf sie ohnehin nur in Anwesenheit des LKA empfangen. Kommt die Vertretung der Behörde zu spät, wird die wenige gemeinsame Zeit noch kürzer. „Das macht mürbe und ist nicht gerecht“, sagt Anne.

Verhandelt werden sollen die Vorwürfe zu den Angriffen in Budapest am Oberlandesgericht Düsseldorf, obwohl die sechs Angeklagten aus Jena und Leipzig stammen. Wer die Prozesse begleiten will, muss also weit reisen. „Es scheint so“, mutmaßt Anne, „als sei es unerwünscht, dass jemand aus dem direkten Umfeld in der Nähe ist.“ Auch die Inhaftierten werteten die Entscheidung als weiteren Schritt, „um solidarische Umfelder zu brechen und zu vereinzeln“.

Die Länge der Untersuchungshaft sorgt bei Angehörigen der Inhaftierten für Enttäuschung und Entsetzen. „Viele haben schon ein vorgefertigtes, endgültiges Bild im Kopf, obwohl noch kein Prozess stattgefunden hat und bis dahin die Unschuldsvermutung gilt“, meint Anne. Der Vorwurf des Generalbundesanwalts: versuchter Mord. Eine besondere Schwere der Schuld, die selbst in der ungarischen Anklage nicht so benannt wird. Von der Gruppe heißt es dazu: „Die gegenwärtige antifaschistische Bewegung ist nicht darauf ausgerichtet, Nazis zu töten.“

Zudem geht es um den Verdacht der Bildung einer kriminellen Vereinigung. „Da wird etwas zusammengezimmert, um den Begriff Terrorismus verwenden zu dürfen“, kritisiert Manfred. „Das ist durch nichts, was den Angeklagten vorgeworfen wird, zu rechtfertigen.“ Die Gruppe erkennt darin ein Muster: Während Hunderte gewaltbereite Neonazis untertauchen, würden antifaschistische Personen maximale Repression erleben.

Schon in vorangegangenen Prozessen – oft als „Antifa-Ost-Verfahren“ zusammengefasst – unterstellten Behörden linken Bekanntschaften eine kriminelle Struktur. Die „Soko Linx“ der sächsischen Polizei beispielsweise nutzte als Beleg Material eines NPD-Politikers. „Wenn das Aufzeigen von Missständen und allein die antifaschistische Haltung kriminalisiert wird, läuft etwas schief im Land. Was da passiert, ist die Verurteilung einer ganzen Bewegung.“

Polizei hört mit

Medien des Springer-Verlags veröffentlichten zudem unverpixelte Fotos und Klarnamen der Beschuldigten – ein Verstoß gegen den Pressekodex. Die Tagesschau übernahm den Namen einer Organisation, der unterstellt, die Angeklagten gehörten einer kriminellen Vereinigung an. In rechtsextremen Blogs wurde zu Gewalt aufgerufen. „Du beschäftigst dich dann schon mit dem Schutz der eigenen Familie und Identität“, sagt Anne, die eigentlich anders heißt.

Als nach ihren Kindern gefahndet wurde, fanden die betroffenen Eltern zueinander. Heute sitzen sie regelmäßig zusammen, um Erklärungen zu entwerfen. Das geht nicht immer ohne Differenzen. „Wenn es zwei konträre Vorstellungen dazu gibt, wie ich mein Kind rette, ist das hochemotional“, beschreibt Anne. „Am Anfang waren wir in Schockstarre, wir wussten nicht, ob wir überhaupt an die Öffentlichkeit gehen sollen.“ Der Kontakt zu den Untergetauchten war abgebrochen. „Wir mussten lernen, mit dieser Ungewissheit zu leben.“

Familie und Freundeskreis erdulden regelmäßige Überwachungen und Abhörungen. Seit 2024 wird die Solidaritätsgruppe vom Verfassungsschutz beobachtet. Vor Annes Haus fuhren eines Nachts mehrere Autos vor. Wenig später stürmten bewaffnete Polizeikräfte durch die Tür. „Die standen mit Knarren in der Küche neben unseren minderjährigen Kindern“, erzählt Anne. „Ich hätte nicht geglaubt, dass sowas in Deutschland möglich ist.“ Seit Clara in Untersuchungshaft sitzt, habe sich einiges geändert, ergänzt Manfred. „Zu wissen, wo sie ist, ist erleichternd. Sie den Behörden zu überlassen, das tut allerdings niemand gerne.“

Das Rechtssystem zu kritisieren, Forderungen öffentlich zu machen, sei anstrengend, merkt Anne. „Das bedeutet, Gelerntes und eigene Werte massiv in Frage zu stellen.“ Manfred teilt diese Wahrnehmung. Auf der Brust seines T-Shirts prangt der Schriftzug „Selbstverständlich antifaschistisch“. Beinahe alle Mitglieder der Gruppe tragen es auf der Kundgebung. „Unsere Arbeitskleidung“, lacht er. Sie wollen ausdrücken, dass antifaschistischer Widerstand gelebt werden müsse, egal wie streitbar Aktionsformen sein mögen. Manfred betont: „Ich finde es beeindruckend und mutig, wie Clara und ihre Mitangeklagten zu ihrer Haltung stehen.“

Freiheitskampf

Für mindestens 17 Personen liegt seit den Angriffen 2023 ein ungarischer Haftbefehl vor. Die Erfahrungen bei Prozessen weichen voneinander ab. In Frankreich klagte ein Beschuldigter gegen eine Auslieferung. Auch seine albanischen Wurzeln waren dabei kein Hindernis. Anders sieht es die Bundesrepublik Deutschland im Fall Zaid A., der zusammen mit Clara W. angeklagt ist. Zaid A. ist Syrer, 21, in Nürnberg aufgewachsen und haftverschont. Der Freiheitsentzug ist also vorläufig nicht vollstreckt worden. Deshalb hält er weiterhin Reden über seine Situation und die seiner Mitangeklagten. Ein Gerichtsverfahren wird ihm in Deutschland verwehrt und er muss fürchten, vom Kammergericht Berlin nach Ungarn ausgeliefert zu werden.

Cuno Tarfusser, langjähriger Richter und Vizepräsident am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, verhinderte die Auslieferung eines italienischen Angeklagten. Seine Einschätzung: Ungarns Haftbefehl könne er „nicht ernst nehmen als Grundlage für eine Überstellung.“ Auch die Hamburger Gruppe holte sich juristischen Rat bei ihm. „Es kommt oft zu kurz, was für eine immense finanzielle Belastung ein Verfahren für die Familien und für alle Soli-Strukturen ist“, erklärt Anne. Um einen Diskurs zu führen, organisierte die Gruppe eine Podiumsdiskussion an der Universität Hamburg. Dazu eingeladen war auch Cuno Tarfusser, der mit den Worten begann: „Auch die Eltern sind Opfer dieses Vorfalls – immer, wenn Kindern etwas zustößt.“

Vor der Justizvollzugsanstalt reichen alte und junge Hände Apfelsaftflaschen und Postkarten weiter. Hunde schlummern auf dem Bordstein zwischen Fahrrädern und Demonstrierenden. Golden leuchten durcheinander gewirbelte Blütenpollen in der Luft. Sie wehen nach Südwest – und der Schall schafft es mit ihnen über die Betonmauer. Clara kann alles mitanhören. Eine Woche später wird sie berichten, wie sie sich mit anderen Inhaftierten darüber gefreut hatte.

Vater Herrmann steht vor den metallenen Zäunen. Aus dem großen Lautsprecher dröhnt ein Kinderlied, das sich seine inhaftierte Tochter gewünscht hat: „Kein Grund zum Traurigsein, es ist noch nicht vorbei. Jeder für jeden, jeder für alle und keiner allein.“ Auf den Flaggen und Plakaten wechseln sich die Namen ab: Clara, Maja, Zaid. Und auf allen die Hoffnung: „Free.“

Der Artikel ist am 15.07.2025 im Veto Magazin erschienen. 

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