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Fundamentale Christinnen Abtreibungsgegner:innen ziehen Samstag mit ihrem „Marsch für das Leben“ durch Berlin

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Der "Marsch für das Leben" in Berlin im Jahr 2016. Am Samstag gehen die sogenannten "Lebensschützer_innen" wieder auf die Straße. (Quelle: Friedensdemo Watch)

Jedes Jahr im September wiederholt sich in Berlin ein groteskes Schauspiel: Mehrere tausend Menschen ziehen schweigend in einem langen Prozessionszug durch den Stadtteil Mitte. Die Männer und Frauen, von denen sich viele als strenggläubige Christ:innen verstehen, tragen weiße Holzkreuze in den Händen. Manche der sich selbst „Lebensschützer:innen“ Nennenden bewegt die Lippen zum stillen Gebet. Mit polarisierenden Aktionen versucht die religiöse Rechte, ihre Themen und Weltanschauungen ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung zu rücken. Unterstützung erhält sie aus der neurechten Szene und von der AfD.

Der umstrittene „Marsch für das Leben“ ist die wichtigste Veranstaltung der Anti-Abtreibungsbewegung in Deutschland. Die Demo findet dieses Jahr am Samstag den 18. September ab 12 Uhr in Mitte statt. Folgende Rute ist abgekündigt:  Platz des 18. März/Straße des 17. Juni – Ebertstraße – Potsdamer Platz – Leipziger Platz – Leipziger Straße – Friedrichstraße – Unter den Linden – Wilhelmstraße – Dorotheenstraße – Ebertstraße – Platz des 18. März/Straße des 17. Juni.

Was ist der „Marsch für das Leben“?

Die selbsterklärten „Lebensschützer:innen“ verstehen ihren Schweigemarsch als Trauerzug für die im Laufe des Jahres durch Abtreibungen „ermordeten“ Kinder. Die bizarre Veranstaltung fand erstmals 2002 in Berlin statt, seit 2008 wird sie jährlich durchgeführt. Vorbild ist die US-amerikanische Massendemonstration „March for Life“, zu der jedes Jahr im Januar mehrere hunderttausend Menschen, vor allem ultrakonservative Christ:innen, nach Washington D.C. reisen.

Innerhalb der Kirchen ist die Demonstration äußerst umstritten. Die Deutsche Bischofkonferenz der katholischen Kirche unterstützt sie offiziell, der Vorsitzende Bischof Dr. Georg Bätzing richtete sich auch in diesem Jahr im Vorfeld mit einem Grußwort an die Abtreibungsgegner:innen. Die evangelische Kirche steht insgesamt eher auf der Seite der Kritiker:innen der Veranstaltung. Die Landeskirche von Berlin und Brandenburg hat sich bereits 2014 wegen „inhaltlicher Differenzen“ abgewandt, auch auf Bundesebene gibt es keine Unterstützung.

„Bundesverband Lebensrecht e.V.“ 

Der „Marsch“ wird vom „Bundesverband Lebensrecht e.V. (BVL)“ organisiert. Vorsitzende ist Alexandra Linder, eine langjährige Szene-Veteranin und Autorin. In ihrem Buch „Geschäft Abtreibung“ behauptet Linder, eine nebulöse „Lobby für Kindstötung“ würde Frauen aus bloßer Profitgier zu Abtreibungen drängen. Die Pharmaindustrie, Krankenkassen und skrupellose Ärzte machen ein „Milliardengeschäft“ mit „Kinderleichen“. Die Eingriffe finden Linders Ansicht nach vor allem aus einem Grund statt: Abtreibungskliniken wollen die Föten für medizinische Experimente an Labors verkaufen. Soweit die einigermaßen schräge Verschwörungstheorie.

Das zentrale Anliegen der „Lebensschutzbewegung“ seit den 1970er Jahren ist die Forderung nach einem vollständigen Verbot aller Schwangerschaftsabbrüche. Doch das Themenspektrum ist breiter geworden. Inzwischen beklagen die Lebensschützer:innen auch zum Beispiel medizinische Frühuntersuchungen von Föten, mit denen Behinderungen erkannt werden können. So unterschiedliche Dinge wie Verhütungsmittel und Sterbehilfe sind für die Fundamentalist:innen zwei Aspekte desselben Problems. Denn sie stehen für eine „Kultur des Todes“, die unsere Gesellschaft im Griff hält.

Auch in diesem Jahr veranstaltet der BVL am Vortag der Demonstration eine sogenannte Fachtagung. Diesmal mit dem Titel: „Der Mensch als Produkt. Reproduktionsmedizin – Fortschritt oder Irrweg?“.

Das Abendland wird im Ehebett verteidigt

Der „Marsch für das Leben“ gibt sich betont überparteilich, doch die AfD unterstützt die Bewegung aktiv. Vor wenigen Tagen sandte der gesamte Bundesvorstand der AfD ein Grußwort an die selbsterklärten „Lebensschützer:innen“. Sie raunen hier von bestimmten „Lobbygruppen“, vor denen sich die anderen Parteien in Hinblick auf die „demographische Krise“ wegducken würden. Sie, die AfD, will eine „Willkommenskultur für Kinder! Und zwar für alle Kinder!“ – wirklich für alle?

Die AfD inszeniert sich auch gerne als Partei vermeintlich „christlicher“ Werte, nicht zuletzt, weil sie auf diese Weise enttäuschte CDU-Wähler:innen gewinnen will. Doch während die meisten Anhänger:innen der religiösen Rechten die Familienpolitik und die Pro-Life-Haltung der AfD begrüßen, ist ihr Rassismus durchaus umstritten. Zwar treten einige Evangelikale und Ultrakatholik:innen selbst rassistisch und islamfeindlich auf. Andere jedoch setzen mehr auf das Gebot der Nächstenliebe und engagieren sich beispielsweise in der Flüchtlingshilfe.

Das letzte Aufgebot Gottes

Im Gegensatz zu stärker religiös geprägten Ländern wie Polen oder Italien gibt es in Deutschland keine erhitzte Debatte um das Thema des Rechts auf Abtreibung mehr. Die religiöse Rechte möchte Themen wie die Finanzierung von Gender Studies oder die Einführung der Ehe für Alle auf die Tagesordnung setzen und nutzt dazu das Mittel der Provokation. Die Gegenproteste gelten der Szene sogar als Bestätigung ihrer von Verschwörungsglauben geprägten Weltsicht: Die Gesellschaft hat ihre Werte verloren, vor allem junge Menschen in den Städten sind hedonistisch und eigennützig. Deshalb geben sie sich verantwortungslos sexuellen Ausschweifungen hin, anstatt Kinder in die Welt zu setzen. Hinter der um sich greifenden Dekadenz steckten die Interessen von globalen Eliten und Großkonzernen, die den Verfall gezielt vorantrieben. Auf der anderen Seite stehend sehen die Lebens- und Familienschützer:innen sich selbst als heroische Retter:innen von Christentum und Tradition, die für ihre Aufrichtigkeit attackiert würden. Die Proteste dieser radikalen Minderheit von Fundamentalist:innen richten sich zwar gegen konkrete Gesetze oder medizinische Verfahren, doch das Feindbild dahinter ist der gesellschaftliche Wandel insgesamt und letztlich jede Form der Liberalisierung.

Protest gegen den „Marsch für das Leben“

Auch an diesem Wochenende hat sich Protest gegen die christlichen Fundamentalist:innen organisiert: Unter dem Motto „Blut, Kot und Glitzer“ ruft das queerfeministische Bündnis „What the fuck“ für Freitag und Samstag dazu auf, gegen den „Marsch für das Leben“ zu protestieren.

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2014-09-18-lebensschuetzer

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