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Kommentar Deutsche Gesellschaft ist Expertin im Verdrängen

Für die Aufklärung der NSU-Mordserie wurden Untersuchungsausschüsse eingerichtet. Über den alltäglichen Rassismus wird weiterhin jedoch nicht gesprochen.

 
Anetta Kahane ist Vorsitzende des Vorstands der Amadeu Antonio Stiftung (bis Ende März 2022); Foto: MUT

Bitte fragen Sie mich nie wieder nach dem rechten Auge! Manche Leute tun das immer wieder: Ob der Staat darauf blind sei, wollen sie wissen oder sie stellen fest, dass der Staat darauf blind sei. Nach dem was wir aus den Untersuchungsausschüssen zu den Morden des NSU seit Wochen hören, bin ich zu der Überzeugung gekommen, das rechte Auge ist weder blind noch schwach. Es existiert gar nicht. Dieser Staat ist ein Zyklop, ein Riese mit einem Auge in der Mitte seiner Stirn, mit der er nur wahrzunehmen imstande ist, was er als ernsthafte Herausforderung erkennen kann. Und der Rechtsextremismus gehört eindeutig nicht dazu. Auch nicht in seiner terroristischen Form. Zyklopen leben im Dunklen, gefangen in den Höhlen ihrer Verdammnis. Der deutsche Staat trägt ebenso einen Fluch mit sich herum. Er ist noch immer gefangen in der Idee Deutschsein habe mit deutschem Blute zu tun. Ob trotz der nationalsozialistischen Geschichte oder wegen ihr, noch immer gilt als deutscher Deutscher, wer auch so „aussieht“. Und alle anderen sind die Ausnahme. Die Anderen eben. Sie sagen ein „alter Hut“? Sie haben recht: ein alter Schlapphut sozusagen.

Die deutsche Gesellschaft ist Expertin im Verdrängen. Bei der Aufarbeitung der Pannen um die NSU-Morde werden mit einiger Mühe Details analysiert. Das ist auch richtig und wichtig. Aber das große Ding da, über das niemand reden mag, verschwindet nicht durch Schweigen oder dadurch, dass viel über Pannen, nicht aber über ihre Voraussetzung diskutiert wird. Das Problem heißt Rassismus. Klar. Alter Hut oder neuer, keine westeuropäische Gesellschaft weigert sich so hartnäckig die Existenz von Rassismus wenigstens in Erwägung zu ziehen. Wenn es also Rassismus in Deutschland gar nicht gibt, mit Ausnahme von einigen bösen Neonazis vielleicht, wie kann er dann erkannt werden? Wenn er nicht erkannt wird, wie soll er dann bekämpft werden?! Schlimmer noch als ein Problem selbst ist sein komplettes Verschwinden aus der Wahrnehmung. Ein Tabu ist, wenn sein Gegenstand – also in dem Fall der Rassismus – unsichtbar wird, nicht da ist, einfach keinerlei Erwähnung wert ist. Also auch keine Herausforderung für den Zyklopen bedeuten kann! Denn er hat nur dieses eine Auge und wer weiß schon, was das zu sehen imstande ist.

Wir brauchen die Debatte über den Grundkonsens unseres Zusammenlebens

Rassismus, strukturell und individuell, ist die Grundlage für das, was wir heute am Bespiel des NSU-Debakels sehen können. Und was geschieht? Es wird über Versagen, über Kommunikation der Dienste, über Sicherheitsarchitektur geredet. Uns bleibt der Mund offen stehen, wenn wir von den V-Mann Affären hören oder dass eine gemeinsame Datei der Behörden nun ein Grund zum Feiern sein soll. Dabei entgeht dem erstaunten Publikum, wie parallel zu diesen Aufregern noch immer von Integration der „Zuwanderer“ geredet wird oder von Menschen „mit Migrationshintergrund“. Das heißt, wie Tag für Tag immerzu und ganz selbstverständlich in dieser oder jener Weise ethnisiert wird. Das Eine, rechtsextremer Terror, der zu einer exotischen Figur gerät, wird vom Anderen, der Selbstverständlichkeit mit der in Deutschland Rassismus praktiziert und gleichzeitig geleugnet wird, vollkommen abgetrennt. Da darf es keine Zusammenhänge geben! Denn das hieße ein Thema zuzulassen, das mindestens so groß ist wie der Zyklop selber.

In Großbritannien hat der rassistische Mord an Steven Lawrence eine Bewegung ausgelöst, in deren Verlauf durch alle Behörden hindurch Rassismus zum Thema gemacht wurde. Auch und gerade bei der Polizei. In einer harten und langen Auseinandersetzung innerhalb der britischen Gesellschaft wurde Rassismus in all seinen Formen und Auswüchsen diskutiert. Niemand wäre auf die Idee gekommen, selbst vor dem Mord an dem jungen Mann, zu behaupten, es gebe gar keinen Rassismus im Lande. Wie er jedoch aussieht, wo er sich manifest zeigt und welche Folgen das hat, wurde während dieser landesweiten Diskussion ganz klar. Und klar wurde auch der britische Konsens, dass Rassismus weder für die Gegenwart noch für die Zukunft eine Option ist, an der sich Werte orientieren. Der Fall Steven Lawrence hat das Land mit der Unterstützung vieler, sehr engagierter Bürger*innen und einiger Medien bewegt und für klare Standards des britischen Selbstverständnisses gesorgt. Gewiss, auch diese Gesellschaft ist noch weit davon entfernt, mit dem Rassismus abgeschlossen zu haben, doch ignoriert sie ihn nicht.

Wenn die Morde der Nazis etwas hervorbringen sollten, dann sind es Diskussionen über Rassismus. Neben allen architektonischen oder zuständigkeitstheoretischen Analysen, brauchen wir eine Debatte über den Grundkonsens unseres Zusammenlebens. Bitte, lassen Sie nicht zu, dass diese Chance vertan wird. Das sind wir den Opfern und uns selbst schuldig. Wir brauchen den einäugigen Zyklopen dafür nicht!

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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