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Liebeserklärung an den ländlichen Raum

Der „ländliche Raum“ erscheint in aktuellen Diskussionen oft als Hort von Ausgrenzung und Demokratieschwäche. Es geht aber auch anders, wie Hasnain Kazim aus Hollern-Twielenfleth beschreibt.

 

Es hat sich herumgesprochen: der ländliche Raum war über Jahre eine vernachlässigtes Thema in den Debatten zur Qualität der demokratischen Kultur. Das ändert sich derzeit und das ist auch gut so. Nun scheint es jedoch, dass vor allem die Gefährdungen der Demokratie im ländlichen Raum in den Diskursen vorherrschend betont werden. Anlass dafür sind sowohl die zahlreichen Beispiele rechtsextremer Geländegewinne in verschiedenen Dörfern, die Beschreibungen der rechtsextremen Modellregionen in Vorpommern und der sächsischen Schweiz als auch die Analysen rechtsextremer Wahlerfolge, die z. B. in Mecklenburg-Vorpommern zeigen: Je kleiner der Ort, desto größer die Chancen der NPD. Das alles gehört diskutiert und ausgewertet. Nur darf dadurch nicht ein Bild entstehen, das den ländlichen Raum per se in ein schlechtes Licht stellt. Es ist Zeit, auch die positiven Perspektiven zu beschreiben. Ein Buch von Hasnain Kazim kann dazu einen Beitrag leisten.

Kazim beschreibt die Geschichte einer Einwanderung seiner Familie nach Deutschland in einer Zeit, als das Wort ?Einwanderungsland? noch verpönt war. Das Buch beginnt mit der Beschreibung seiner Familie, die sich in Zeiten der Teilung Indiens aufmacht, im neuen Staat Pakistan Fuß zu fassen. Kazims Mutter kommt somit aus einer Wanderung geprüften Familie. Schon früh regt sich in der Frau der Wunsch, den traditionellen Weg zu verlassen und im Westen eine neue Welt zu erfahren und zu erkunden. Amerika oder Großbritannien waren die Ziele. Bis Hollern-Twielenfleth im Alten Land etwa 50km vor den Toren Hamburgs an der Unterelbe gelegen sollten sie es schaffen.

Kazims Mutter wird nach Familientradition mit einem Mann verheiratet, der zur See fahren wird und seine Mutter in ihrem Wunsch nach Auswanderung unterstützt. Die Wahl auf Hollern-Twielenfleth ist dabei völlig zufällig. Kazims Vater arbeitet für eine deutsche Firma und muss zu seiner beruflichen Qualifikation auf eine Seemannsschule. Einen freien Platz bekommt er im ?Alten Land? und eine günstige Wohnung im Ortsteil Hollern. Mit Baby und Familie wird eine Wohnung gefunden und eine neue Heimat entdeckt.
Das Alte Land lebt vom Obstbau. Traditionell arbeiten dort in der Ernte Menschen aus verschiedenen Ländern. Sie kommen, um zu gehen.

Kazims hingegen wollen irgendwann bleiben. Oft heißt es, dass Zuwanderer kaum Chancen haben, ins Dorfleben integriert zu werden, da die dörflichen Netzwerke mit ihren In- und Outgroups ausgrenzenden Charakter haben. Das greift in Hollern in Bezug auf die Kazims nur begrenzt. Besonders der Mutter gelingt es über zahlreiche kulturelle Differenzen hinweg, Anschluss an die Dorfgemeinschaft zu finden. Sie wird Teil von ihr, ist aufgeschlossen. Sie passen sich ein, ohne sich selbst untreu zu werden. Sie verbinden, wie der Buchtitel sagt, Curry und Grünkohl miteinander und bemühen sich um finanzielle Unabhängigkeit. Die Integration der Familie wird hier ein Prozess des Aufeinanderzugehens, des Kennenlernens und der Neugierde auf das Neue, ohne dass das Alte grundsätzlich in Frage gestellt wurde.

Ein spannender Teil des Buches ist der Kampf der Familie um einen dauerhaften Aufenthalt. Die Ausländerbehörde in Stade setzt alle Hebel in Gang, um die Familie abschieben zu können. Über Jahre kämpft die Familie so wie viele andere gegen bürokratische Hürden, einwanderungsfeindliche Gesetze und selbstherrliche Beamte, die ihre Ermessenspielräume nicht zugunsten von Kindern und Familie nutzen. Doch sie kämpft nicht alleine und das unterscheidet diese Geschichte von anderen: Der Dorfarzt schreibt Atteste zugunsten der Familie. Nachbarn der Familie sammeln im Dorf Unterschriften zum Bleiben der Familie. Die Gemeinde leiht der Familie zinslos Geld und der Pfarrer der Gemeinde hantiert mit zwei Telefonen gleichzeitig, um alle Drähte zu Verwaltungen, Politik und Regierung zu nutzen. Die Dorfgesellschaft kämpft um ihre Einwanderer. Am Ende sogar erfolgreich.

Die spannende Frage ist, warum die Integration in diesem Beispiel glückt. Was unterscheidet dieses Dorf von denen, in denen Unterschriften gegen die Zuwanderer gesammelt werden, in denen offen rassistisch argumentiert und gehandelt wird? Das Buch gibt darauf keine direkten Antworten und will es auch nicht. Deutlich ist jedoch, dass sich die Stärke der Dorfgesellschaft, ihre Nähe der Mitglieder und das enge Miteinander, hier nicht gegen die Zuwanderer, sondern zu ihren Nutzen wenden. Die Einwanderer stellen dabei die örtliche Gesellschaft und Verfasstheit nicht grundsätzlich in Frage, sondern passen sich ein; aber nicht um sich aufzugeben, sondern die Kulturen für sich im Kleinen zu verbinden.

Vielleicht ist dies der Schlüssel zur Beantwortung der Frage. Möglicherweise ist die Antwort aber auch komplexer. Ein noch genauerer Blick nach Hollern-Twielenfleth könnte sich auch für die Wissenschaft lohnen, wenn wir verstehen wollen, welche Kräfte der ländliche Raum jenseits aller Katastrophenmeldungen in sich birgt.

Buchtipp:

Hasnain Kazim (2009): Grünkohl und Curry. Die Geschichte einer Einwanderung, München, dtv Verlag, 24.90 Euro

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