
Content Note: Rituelle Gewalt, sexueller Missbrauch
Am 24. April 2025 startete die Dokumentation „Blinder Fleck“ von Liz Wieskerstrauch in den Kinos. Im Film geht es um sogenannte rituelle Gewalt. Der Begriff soll den antisemitischen Mythos der Ritualmordlegende wieder diskursfähig und ein Denken in Verschwörungserzählungen gesellschaftsfähig machen.

Der Film gibt sich harmlos, als feministischer Beitrag zur Aufklärung sexualisierter Gewalt. Die Regisseurin betont, dass es ihre Absicht war, Menschen in einem polarisierten Diskurs wieder zusammenzuführen und Lagerdenken zu überwinden. Eine Reihe von weiblichen und nicht-binären Personen, die als Betroffene ritueller Gewalt eingeführt werden, berichten im Film von ihren Erinnerungen. Sie drehen sich um Männer, die schwarze Kutten tragen, manchmal auch um Pfarrer. Diese Männer, meistens als Täter bezeichnet, hätten die Betroffenen zum Teil entführt, vergewaltigt und gefoltert. In einem Fall soll eine Protagonistin sogar dazu gezwungen worden sein, ein junges Kind zu töten.
Expert*innen aus Psychologie, Strafverfolgung und sozialer Arbeit ordnen die Berichte ein und melden ab und zu Zweifel an. Eine detailreich beschriebene Entführung ließe sich etwa nicht plausibel rekonstruieren und zu dem angeblich getöteten Kind ließen sich keine Hinweise außer der Erinnerung der Betroffenen finden. Erklärt werden die Schilderungen einerseits durch die Diagnose Dissoziative Identitätsstörung (DIS), andererseits durch rituelle Gewalt.
Eine DIS wird als Trennung eines Ichs in verschiedene Ich-Anteile, mit einem eigenen Alter, eigenen Namen, Erinnerungen und Vorlieben eingeführt. Eine DIS entstünde durch Konditionierung in Form von ritueller Gewalt in der Kindheit. Durch die Trennung von Ich-Anteilen seien nicht alle Erinnerungen jederzeit gegenwärtig. Viele grausame Rituale würden so erst Jahrzehnte später wieder ins Bewusstsein treten und könnten auch dann, wenn sie etwa von einem anderen Ich-Anteil erlebt wurden, surreal wirken. Der Film klagt insbesondere die Kriminalpsychologie an, die Betroffenen in Glaubwürdigkeitsgutachten, die Plausibilität ihrer Erinnerungen grundsätzlich abspreche und so Kriminalopfern mit DIS den Weg zur Aufklärung ihrer Gewalterfahrungen versperre.
Hintergrund: Satanic Panic
Berichte, wie die in „Blinder Fleck”, sind in ihrer heutigen Form zuerst in der Satanic Panic der 1980er und 1990er Jahre, zunächst vor allem in den USA, aufgetreten. Die christliche Rechte suchte nach Wegen, kulturelle Bedeutung, die sie ihrem Verständnis nach durch den Umbruch in den 1960ern und 1970er Jahren verloren hatte, zurückzugewinnen. Vermeintlich biografische Aussteiger*innenberichte wie „The Satan Seller” oder das Buch „Michelle Remembers”, in dem ein Psychiater und seine Patientin von wiedergewonnenen Erinnerungen an Missbrauch in einem satanistischen Kult berichten, dämonisierten die Gegenkultur. Mit der Day-Care Ritual-Abuse Moral Panic entfaltete die Debatte praktische Konsequenzen. Zahlreiche Kindertagesstätten, Kindergärten und Vorschulen gerieten in den unbegründeten Verdacht des systematischen sexuellen Missbrauchs und des Satanismus. Der größte solche Fall war der Prozess gegen die Mitarbeiter*innen der McMartin-Preschool, in dem der Missbrauch von 360 Kindern im Raum stand. Auch in Deutschland gab es mit dem Wormser Prozess einen entsprechenden Fall. Diese beiden Fälle endeten mit Freisprüchen in allen Anklagepunkten, da sich die Befragungsmethoden der Kinder, die als Zeug*innen und Betroffene aussagten als suggestiv herausstellten und auch sonst keine Beweise gefunden wurden, die eine Verurteilung ermöglicht hätten. In anderen Fällen kam es zum Teil aber auch zu Verurteilungen, die bis heute Kontroversen auslösen.
Das Material an Verschwörungsmythen, auf die die Satanic Panic zurückgreift, speist sich aus bekannten antisemitischen Erzählungen wie der Ritualmordlegende, die Jüdinnen*Juden seit Jahrhunderten unterstellt, christliche Kinder zu entführen, um aus ihrem Blut Matze zu backen. Aber auch aus altem und neuem Hexenglauben sowie einer kolonialen Dämonisierung nicht-christlicher Formen von Religiosität. Berichtet wird von Blut-, Tier- und Menschenopfern, von schwarzen Messen, von einer Gegenkirche des Bösen und von Sexualmagie. Eine besondere Rolle kommt dabei einem vermeintlich systematischen Missbrauch von Kindern in Orgien und für die Produktion von Kinderpornographie zu. Durch Konditionierung im Sinne der behavioristischen Psychologie oder durch Mindcontrol im Sinne des gescheiterten MK ULTRA-Programms, in dem die CIA von 1953 bis in die 1970er Jahre versuchte Wege der Bewusstseinskontrolle durch halluzinogene Drogen zu entwickeln, seien Satanist*innen dazu in der Lage, Besitz von Betroffenen zu ergreifen und sie fernzusteuern.
Der amerikanische Wahlkampf von 2016 verhalf solchen Verschwörungserzählungen zu einem neuen Höhepunkt. Mit der Pizzagate-Erzählung geriet die gesamte Spitze der demokratischen Partei in den unbelegten Verdacht des systematischen Kindesmissbrauchs. Figuren wie der 4chan-Account „Q”, der selbsterklärte Prophet, auf den die QAnon Bewegung zurückgeht, entwickelten die Erzählung weiter und verhalfen ihr zu zunehmender Massenwirksamkeit.
Zahlreiche einzelne Narrative der Verschwörungsideologie wurden von Journalist*innen eindeutig widerlegt. Eine nachhaltige Entradikalisierung konnte damit bislang nicht erreicht werden. Die schockierende Wirkung einzelner realer Skandale, wie des gescheiterten MK-ULTRA-Programms oder des Fall Epsteins, stellten immer wieder neues Material bereit, in dem sich alte Verschwörungserzählungen reproduzieren konnten.
Zurück zum Ritualmord
Nach Deutschland kam die Satanic Panic im Zuge der Auseinandersetzung mit Sekten, insbesondere mit Scientology. Es entstand ein Netzwerk von Therapeut*innen, Sozialarbeiter*innen und Beratungsstellen, die die Narrative unkritisch aufgriffen. In der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen” beschäftigte sich auch der Bundestag mit dem Thema. Der Begriff rituelle Gewalt fand so auch in Deutschland eine breite Verwendung.
Auch wenn es einige Definitionen des Begriffs gibt, bleibt er in der Regel relativ vage. Eine übliche Definition ist, dass es sich um eine systematische Anwendung von Gewalt handelt, die eine ideologische Motivation hat. Viele Fälle, die nach dieser Definition rituelle Gewalt sein könnten, werden aber nicht als solche behandelt, während andere so genannt werden, auch wenn sie nicht wirklich zur Definition passen. Entscheidend scheint in der Praxis vor allem eine Identifikation mit entsprechenden Verschwörungserzählungen zu sein. In „Blinder Fleck” berichtet etwa eine Expertin, wie sie im Laufe ihrer Auseinandersetzung mit ritueller Gewalt angefangen habe, Zusammenhänge zu sehen, die sich ein normaler Mensch nicht vorstellen könne und ihre anfängliche Skepsis abgelegt habe. Eine Rolle spielt dabei auch eine problematische Verwendung des Begriffs Täter*innen-Netzwerk. Der Begriff lässt sich zum einen zur Beschreibung gesellschaftlicher Milieus und Knotenpunkte nutzen, die sexualisierte Gewalt und andere Formen der Ausbeutung begünstigen. Er lässt sich aber auch als intentionale Verschwörung deuten. Rituelle Gewalt wird so als Glaubensfrage verhandelt, die eine Gruppenidentität durch Abgrenzung von anderen Menschen ermöglicht.
Bereits 2001 entstand auch ein Film von Liz Wieskerstrauch zum Thema. In der zweiteiligen Fernsehdokumentation „Höllenleben” berichtet eine Betroffene von ritueller Gewalt, in einem Kult, der sie auf der schwarzen Sonne im Obergruppenführersaal der Wewelsburg, dem ehemaligen Hauptquartier der SS, missbraucht hätte. Auch hier wird von einer Tötung von Kindern, aber etwa auch vom rituellen Verspeisen von Föten berichtet.
In den deutschen Varianten der Erzählung spielt der Nationalsozialismus häufig eine größere Rolle: Betroffene identifizieren sich als Überlebende und vergleichen sich mit Überlebenden des Holocausts. Methoden der rituellen Gewalt werden auch im neuen Film Wieskerstrauchs mit Foltermethoden in KZs und mit dem KZ-Arzt Mengele assoziiert. Immer wieder werden die Nazis als Erfinder der Technik beschrieben, mit der die DIS herbeigeführt werden könne.
Für die bundespolitische Arbeit zu ritueller Gewalt ist inzwischen die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs verantwortlich. 2021 veröffentlichte die Kommission einen Bericht zu ihrem Forschungsprojekt „Sexueller Kindesmissbrauch in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen”. Darin werden als Tätergruppen, die in den Erzählungen von Betroffenen genannt werden, neben “satanischen Kulten” auch “rassistische/faschistische/rechte Gruppen” und “germanische Kulte”, aber auch “Kabbala-Kulte”, also Gruppen jüdischer Mystiker*innen, erwähnt. Auch hier zeigt sich eine Tendenz, zur Identifikation als verspätetes Opfer des Nationalsozialismus, neben einem offenen Antisemitismus.
Eine bunte Koalition
Bereits in den 80er und 90ern gab es Bemühungen, Fälle vermeintlicher ritueller Gewalt vor Gericht zu bringen. Dabei entstand eine Koalition zwischen der christlichen Rechten und Teilen der Frauenbewegung. Während sich die christliche Rechte für eine Verfolgung von vermeintlichen Satanist*innen interessiert, sowie für Zeug*innenberichte, die das Wirken des Teufels in der Welt belegen sollen, ging es der Frauenbewegung um Urteile in Fällen sexualisierter Gewalt und um ein gesellschaftliches Vertrauen in die Aussagen von Betroffenen. Glaubwürdigkeitsgutachten werden, nicht zu völlig unberechtigt, mit dem Stigma des hysterischen Weibs in Verbindung gebracht.
Eine neuere Gruppe in der Koalition um das Thema rituelle Gewalt stellt das Neurodiversity Movement dar. Dabei handelt es sich um eine vor allem online auftretende Bewegung von Personen mit psychiatrischen Diagnosen, die sich für ihre Rechte und für Inklusion einsetzen. Zentral ist der Bewegung eine Anerkennung psychologischer Vielfalt. In Deutschland gibt es eine Reihe von Influencer*innen aus diesem Umfeld, die sich mit dem Thema rituelle Gewalt und DIS beschäftigen. Mit Bonnie Lebens „Eine Bonnie kommt niemals allein” gelangte das Buch einer Person mit DIS auf Platz 1 der Spiegel-Bestseller. In „Blinder Fleck?” tritt die kleinere nicht-binäre Influencer*in und YouTuber*in Toki Nirik aka dis.obey als Betroffene auf.
Rituelle Gewalt kann auf diese Weise als Brückenideologie dienen. Durch Kooperationen mit jüngeren, säkulareren und progressiveren Strömungen, sowie durch ein Aufgreifen legitimer Argumente, gelingt es der christlichen Rechten Raum für Diskurse zu schaffen, die anders inakzeptabel wären. Um dieser Strategie entgegenzuwirken, muss eine Polarisierung der Debatte vermieden werden. Legitime Argumente wie die Kritik am Stigma der Hysterie müssen diskutiert werden. Wenn solche Argumente aber als Schutzschild benutzt werden, um krude Verschwörungserzählungen zu relativieren, muss auch das benannt werden. Hilfreich wäre für die Debatte auch eine Auseinandersetzung mit dem Thema des geistlichen Missbrauchs. Geistlicher Missbrauch findet in den Amtskirchen statt, kann allerdings genauso gut in unseriösen Therapien stattfinden, die sich als Alternativen zu ihnen präsentieren. Die Debatte um rituelle Gewalt ist vor allem ein Symptom der mangelnden Aufarbeitung dieser Probleme.
Nephthys Morgenstern ist Teil des Recherchekollektivs von FundiWatch.