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Eine Befragung von Berliner Jugend(sozial)arbeiter*innen Die Verbreitung von Verschwörungserzählungen unter jungen Menschen

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Symbolbild Jugendliche. (Quelle: Matheus Bertelli / Pexels)

Eine Verschwörungserzählung ist der Versuch, politische, ökonomische oder natürliche Ereignisse, wie aktuell die Corona-Pandemie, als ein Geschehen darzustellen, das von „bösen Mächten“ verursacht und gesteuert wird, um der „einfachen Bevölkerung“ zu schaden und sich selbst daran zu bereichern. So wird etwa die Erzählung verbreitet, Microsoft-Gründer Bill Gates habe das Corona-Virus in die Welt gesetzt, um sich am Verkauf von Impfstoffen zu bereichern, den Menschen bei der Impfung Mikrochips einzupflanzen und sie dadurch vollkommen beherrschen zu können. Doch sind solche Verschwörungserzählungen auch unter jungen Menschen verbreitet? Ein Schlaglicht auf die Situation in Berlin wirft eine online-Befragung der ju:an-Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit in Kooperation mit der Alice Salomon Hochschule.

Wie verbreitet Verschwörungserzählungen rund um die Coronavirus-Pandemie unter Erwachsenen sind, illustriert die im Auftrag der Friedrich Ebert Stiftung im Juni 2021 erschienene Studie „Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21“. Der auch Mitte-Studie genannten Langzeitbeobachtung zufolge glaubt etwa jede:r fünfte Erwachsene (22,9 Prozent) an geheime Organisationen, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen hätten. Ebenfalls jede:r Fünfte stimmt der Aussage zu, „Politiker:innen und andere Führungspersönlichkeiten seien nur Marionetten dahinterstehender Mächte (20,5 %) oder finden, Medien und Politik steckten unter einer Decke (24,2 %)“, so die Autor:innen des Kapitels „Gefährliche Mythen: Verschwörungserzählungen als Bedrohung für die Gesellschaft“, Pia Lamberty und Jonas H. Rees.[1] Knapp ein Drittel (32,3 Prozent) der Befragten vertreten eine wissenschaftsfeindliche Haltung und geben an, dass sie „ihren Gefühlen mehr vertrauten als sogenannten Expert_innen.“[2]

Verschwörungserzählungen: Tief verankert und kein Jugendproblem

Ein anderes Bild ergibt sich laut Mitte-Studie bei den Zustimmungswerten von jüngeren Menschen im Alter zwischen 16 und 30 Jahren. Hier glauben nur 14,4 Prozent an Verschwörungen. Bei Erwachsenen zwischen 31 und 60 Jahren liegt der Wert dagegen bei 26,6 Prozent und bei älteren Erwachsenen bei 24,8 Prozent (ebd. S. 290).

Darüber hinaus fehlt es bisher an validem empirischen Datenmaterial zur Verbreitung von Verschwörungsdenken unter jungen Menschen. Es gibt die JIM-Studie 2020, die zu dem Ergebnis kommt, dass von den 1.200 befragten Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren 43 Prozent mit „Verschwörungstheorien“ online in Kontakt kommen. Diese wie auch die DAK-Studie 2020 zu „Gaming, Social-Media & Corona“ zeigen, dass Jugendliche während der Corona-Pandemie wesentlich mehr Zeit im Internet verbracht haben und verbringen. Die Wahrscheinlichkeit, mit fragwürdigen „konspirativen“ Narrativen über die Corona-Pandemie via Social Media, Chat-Gruppen oder Gaming-Plattformen in Berührung zu kommen, steigt somit allein schon durch die höhere Nutzungsdauer.

Die ju:an-Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit führte in Zusammenarbeit mit der Alice Salomon Hochschule Berlin im Frühjahr 2021 eine explorative Online-Umfrage unter Berliner Fachkräften der Kinder- und Jugend(sozial)arbeit durch. Leitend war dabei das Interesse, einen Einblick zu erhalten, ob und wie ihrer Wahrnehmung nach Verschwörungsdenken unter Kindern und Jugendlichen in Berlin eine Rolle spielt. An der Umfrage teilgenommen haben 139 (Jugend)sozialarbeit:innen aus allen zwölf Berliner Bezirken. Neben einigen wenigen Fachkräften aus der Schulsozial- und mobilen Jugend(sozial)arbeit, ist die Mehrheit der Befragten im Feld der Kinder- und Jugendarbeit tätig. Insgesamt gibt es in Berlin etwa knapp über 400 Kinder- und Jugendeinrichtungen (Stand 2018). Befragt werden konnte also nur ein kleiner Teil der vermutlich mehreren Tausend Berliner Jugendarbeiter:innen. Die meisten Teilnehmenden arbeiten mit jungen Menschen im Alter zwischen elf und 16 Jahren, wenige auch mit Kindern ab sechs Jahren oder jungen Erwachsenen bis 27 Jahren. Einige Fragen beinhalteten die Möglichkeit, eigene Antworten zu verfassen; die Mehrzahl stellen eine skalenhaften Vorauswahl zur Verfügung. Die Befragung wurde von Februar bis Ende März 2021 durchgeführt.

 Welche Verschwörungserzählungen rund um Corona scheinen besonders verbreitet zu sein?

Über 90 Prozent der Befragten beantworteten die Frag „Haben Sie den Eindruck, dass ‚ihre‘ Kinder und Jugendlichen schon einmal in Kontakt mit Verschwörungserzählungen rund um Corona gekommen sind?“ positiv. Diese Zahl bedeutet jedoch nicht, nahezu alle Berliner Jugendlichen würden die Corona-Pandemie verschwörungsideologisch deuten. Sie ist eher ein Verweis darauf, dass sich vor allem diejenigen Jugend(sozial)arbeiter:innen an der Befragung beteiligt haben, die Verschwörungsdenken in ihrem Arbeitskontext beobachten und dieses als Problem wahrnehmen. Über 60 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass es sich dabei „eher um Sprüche“ und weniger um „feste Überzeugungen“ handele. Für „feste Überzeugungen“ votierten nur 30 Prozent. Ein:e Teilnehmer:in beschreibt, dass in ihrer:seiner Einrichtung „sowohl Sprüche, als auch sich langsam verfestigende Überzeugungen“ zu beobachten seien. Ein:e andere Teilnehmer:in vermutet, verschwörungsideologische Inhalte älterer Menschen, zu denen ein Vertrauensverhältnis bestehe (etwa Familie), würden übernommen werden.

70 Prozent der befragten Fachkräfte geben auf die Frage, welche Verschwörungsnarrative unter ihren jungen Klient:innen zu hören seien, die Antwortmöglichkeit „Corona gibt es gar nicht…“ an. Dass Verschwörungserzählungen über die Nicht-Existenz des Virus auch unter jungen Menschen zu finden sind, ist insofern nicht besonders verwunderlich, als diese schon unmittelbar nach Bekanntwerden der Pandemie verbreitet wurden und sich bis heute hartnäckig halten.

An zweiter Stelle, mit knapp 50 Prozent Zustimmung rangiert die Aussage „Wir werden verarscht…“, also Vorstellungen darüber, dass es eine elitäre Gruppe geben muss, die „uns“ nicht die Wahrheit sagt. Prozentual absteigende Zustimmungswerte erhielten darüber hinaus folgende verschwörungsideologische, zum Teil antisemitisch oder rassistisch aufgeladene, Deutungsmuster:

  • „Es geht nur ums Geld…“ (36,7 Prozent)
  • „Zwangsimpfungen sollen durchgesetzt werden…“ (35,3 Prozent)
  • „Die Chinesen…“ (33,8 Prozent)
  • „Israel/die Zionisten/die Juden…“ (23,0 Prozent)
  • „Wir sollen gechippt werden…“. (22,3 Prozent)

„Das Bargeld soll abgeschafft werden“ oder „Kontrolle der Bevölkerung“, sind weitere Formulierungen, die seitens der Kinder und Jugendlichen laut der befragten Fachkräften im Hinblick auf den Corona-Virus geäußert werden. Diese mehr oder weniger spezifischen Erzählungen um „Kontrolle der Bevölkerung“ orientieren sich an „klassischen“ Verschwörungserzählungen, in denen behauptet wird, ein bestimmtes Ereignis diene nur zur Verschleierung der tatsächlichen, aber geheim gehaltenen Absichten „der Mächtigen“.

Andere Fachkräfte hören bei Kindern und Jugendlichen, dass diese aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit nicht glauben, von Corona betroffen zu sein. Ein:e Jugendarbeiter:in gibt an, diese an dem bekannten „Chemtrail“-Verschwörungsglauben anknüpfende Erklärung für Corona gehört zu haben: „Das Virus wird von Tegel aus in Nachtflügen mit leisen Maschinen über Nebelsprühanlagen in der Luft verteilt, das ist ein militärisches Experiment.“

Wo kommen Heranwachsende mit Verschwörungserzählungen in Kontakt?

Neben den sozialen Netzwerken kommen Kinder und Jugendliche laut den Ergebnissen der Befragung vor allem durch ihr soziales Umfeld in Kontakt mit Verschwörungserzählungen. Bei möglicher Mehrfachnennung wurden als Hauptquellen „(Social) Media“ (82 Prozent), „Familie“ (76 Prozent) und „Peergroup“ (63 Prozent) genannt. Mit rund 20 Prozent steht „Schule“ an vierter Stelle, wobei hier in der Antwortmöglichkeit nicht näher zwischen Unterricht oder dem Pausengespräch auf dem Schulhof differenziert wird. Als weitere Quellen werden „Videos, die Familien sich gegenseitig […] aufs Smartphone [zusenden]“ oder „TV-Programme aus anderen Ländern“ vermutet.

Wie reagieren, wenn Kinder und Jugendliche Verschwörungserzählungen reproduzieren?

Viele der befragten Fachkräfte schätzen sich selbst über die gängigen pädagogischen Interventionsmöglichkeiten zum Umgang mit Verschwörungserzählungen als „gut informiert“ ein. Sie legen dar, dass eine gute Beziehung zwischen Pädagog:in und Zielgruppe die entscheidende Basis für eine gemeinsame kritische Auseinandersetzung mit verschwörungsideologischen Tendenzen ist. Neben „Zuhören“, „Nachfragen“ und „in den Dialog gehen“ als wichtige Voraussetzungen werden als weitere notwendige Schritte die „gemeinsame Online-Recherche und Medienanalyse“, vor allem aber auch „sich selbst informieren“, „im Dialog bleiben“ und sich innerhalb der Einrichtung oder des Trägers selbst proaktiv mit der Problematik auseinandersetzen als Strategien benannt. Einige der Aussagen spiegeln ein tieferes Verständnis darüber wider, welche Funktionen Verschwörungserzählungen im Zusammenhang mit Corona bei Kindern und Jugendlichen übernehmen können, etwa der Ausgleich von Unsicherheit oder einem Gefühl des Kontrollverlustes.

Bedarfe der Jugendarbeiter*innen: „Leicht verständliches Material und ‚coole‘ Aufklärungsflyer“

Die Bedarfe und Unterstützungsnotwendigkeiten werden seitens der Fachkräfte unterschiedlich eingeschätzt und reichen von allgemeinen Überlegungen zur prekären Situation der Jugendarbeit insgesamt und daraus resultierenden jugend(arbeits)politischen Forderungen bis hin zu konkreten Wünschen für vor allem niedrigschwellige und leicht zugängliche Angebote und Materialien für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.

Genannt wird etwa der Wunsch nach „Handwerkszeug, Methoden, Fachaustausch“, um „mehr Verständnis und Wissen über Entstehen und Hintergründe verschwörungstheoretischer Sprüche bei Kindern und Jugendlichen“ und auf diese Weise mehr Handlungssicherheit in der täglichen Arbeit zu erlangen. Mehrere Fachkräfte wünschen sich eine „Link-Sammlung mit seriösen Quellen (und der Begründung, warum diese seriös sind) in relativ einfacher Sprache“. Oder auch einen „Handlungsleitfaden, Ideen zur Gesprächsführung besonders Eltern gegenüber“ als Teil von familienbezogener Kinder- und Jugendarbeit. Der Wunsch, auch stärker in die Familien hineinwirken zu können, drückt sich in ähnlicher Weise aus: „Aufklärungsmaterial zum Weiterleiten an die Jugendlichen und ihre Familien in verschiedenen Sprachen (Türkisch, Arabisch, Kurdisch, Serbisch, Bulgarisch etc.)“. Das wiederholt geäußerte Bedürfnis, sich auch selbst fortzubilden und auf dem aktuellen Stand der gesellschaftlichen und pädagogischen Diskussion zu bleiben, aber auch die damit verbundenen Schwierigkeiten drückt ein:e Teilnehmer:in so aus: „Es ist wichtig, immer über die aktuelle Lage informiert zu bleiben. Das ist manchmal sehr herausfordernd.“

Die Befragung wirft ein aufschlussreiches Schlaglicht auf die Situation der Berliner Jugend(sozial)arbeit in der Auseinandersetzung mit Verschwörungsdenken rund um die Corona-Pandemie. Sie gibt Anhaltspunkte für eine repräsentative Studie, die anderen zu überlassen ist. Erhellend ist, dass manche Fachkräfte durchaus mit Verschwörungserzählungen unter Kindern und Jugendlichen konfrontieren werden und diesen bereits aktiv begegnen, es hier aber auch weiteren Handlungsbedarf gibt.

 

Tipps und Materialien für die Jugendarbeit:

„2×6 Punkte gegen Verschwörungsdenken“

 

Taschen-Flyer von ju:an-Praxisstelle und Gangway e.V.

 

Tipps zum Umgang mit Verschwörungserzählungen in Social Media

 

Materialien der Amamdeu Antonio Stiftung:

„Down the rabbit hole. Verschwörungsideologien: Basiswissen und Handlungsstrategien“

„Wissen, was wirklich gespielt wird… Widerlegungen für gängige Verschwörungstheorien“

„Umgang mit Verschwörungsideologien im Unterricht und in der Schule“

FAQ Verschwörungsideologien

 

Empirische Studien aus der Einstellungsforschung:

Hurrelmann, Klaus et al.: 18. Shell Jugendstudie. Jugend 2019. Eine Generation meldet sich zu Wort. Weinheim 2019.

Elmar Brähler/Oliver Decker (Hrsg.): Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität (=Leipziger Autoritarismus-Studie 2020). Gießen 2020.

Andreas Zick/Beate Küpper (Hrsg.): Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21, Bonn 2021.

 

[1] Pia Lamberty/Jonas H. Rees, Gefährliche Mythen: Verschwörungserzählungen als Bedrohung für die Gesellschaft, in: Andreas Zick/Beate Küpper (Hrsg.), Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21, Bonn 2021, S. 289.

[2] Ebd.

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