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Frankreich Wie Rechtsextreme versuchen, ihre „Dämonen” loszuwerden

Ein Gespräch über die „Entdämonisierung“ des Rassemblement National (RN), einen Kandidaten ohne Eigenschaften und Antisemitismus als rechtsextremer Konstante. 

 
Jordan Bardella, seit 2022 Vorsitzender des rechtsextremen Rassemblement National (Quelle: picture alliance / SIPA | Alain ROBERT)

Pierre-Stéphane Fort, ein französischer Dokumentarfilmer und Journalist, hat ein Jahr lang Jordan Bardella begleitet, seit 2022 Vorsitzender des rechtsextremen Rassemblement National (RN), und Gespräche mit prominenten Figuren wie Marine Le Pen und Florian Philippot geführt. 2024 veröffentlichte er die erste umfassende kritische Biografie des heute 29-jährigen Bardellas.

In den letzten zehn Jahren hat der Rassemblement National (RN) unter der Führung Le Pen eine konsequente „Entdämonisierungs“-Strategie (französisch: dédiabolisation) verfolgt, mit dem Ziel, das rassistische und antisemitische Image der Partei, das eng mit dem Gründer Jean-Marie Le Pen verbunden war, abzulegen und immer gesellschaftsfähiger zu werden.

Darüber, ob das funktioniert, die eigentliche Ideologie von Bardella und Antisemitismus als rechtsextremer Konstante hat Ornella Guyet mit Pierre-Stéphane Fort für Belltower.News gesprochen.

Belltower.News: Jordan Bardella präsentiert ein „sauberes“ und glattes Image, manche würden sagen, der „ideale Schwiegersohn“. Sie sagen, dass sein Hintergrund diesem Bild widerspricht, genauso wie der „Normalisierung“ des Rassemblement National (RN). Warum?
Pierre-Stéphane Fort: Jordan Bardella trat dem Front National von Saint-Denis, einem sehr kleinen Verband, im Alter von 16 Jahren bei. Zu dieser Zeit bewegte er sich in einer relativ radikalen Welt. Er wuchs dort politisch mit Leuten wie Pierre-Claude Pailhoux auf, einem alten Aktivisten des Front National, der damals antisemitische und homophobe Tweets verbreitete, zum Beispiel zur Legalisierung der Abtreibung. Mit 18 übernahm er die Führung des Verbandes, trat dann 2015 mit 20 dem Regionalrat der Île-de-France bei. Zu diesem Zeitpunkt war er auf den Zug von Florent Philippot aufgesprungen, also eher auf einer „sozialgaullistischen“ Linie [extrem konservativ bis reaktionär, aber für einen starken Sozialstaat. Anm. d. Redaktion]. Er machte eine Kehrtwende, als sich das Machtgefüge innerhalb der Partei änderte und schloss sich der wesentlich identitäreren Linie von Jean-Lin Lacapelle an, einem der besten Freunde von Frédéric Chatillon. Mit dessen Tochter, Kerridwen Chatillon, war er liiert. Dies trug dazu bei, seinen Aufstieg in der Partei zu starten.

Wer ist Frédéric Chatillon?
Er ist ein notorischer Antisemit und der ehemalige Chef der Groupe Union Défense (GUD), einer rechtsextremen Jugendorganisation, die den Sicherheitsdienst für die Prozesse des Holocaustleugners Robert Faurisson stellte. Er hat dieses Engagement nie, absolut nie, aufgegeben! Selbst heute noch stellt Chatillon eine Art moralische Autorität für die radikalste extreme Rechte dar: Wenn junge Militante die GUD neu gründen wollen, bitten sie ihn um Erlaubnis. Er war zwei Jahre lang, zwischen 2016 und 2017, Jordan Bardellas Fast-Schwiegervater. Damals war Chatillon wirklich auf dem Höhepunkt seines Einflusses bei Marine Le Pen, da er ihre gesamte Kommunikation während des Präsidentschaftswahlkampfs managte, was ihm über seine Firma e-Politics mehrere Millionen Euro einbrachte. Tatsächlich war es damals eine echte Chance, von Chatillon gefördert zu werden, um in den inneren Kreis der Parteichefin zu gelangen. Damals wurde Le Pen auf Bardella aufmerksam, und den Berichten zufolge, die ich sammeln konnte, war das der Startschuss für seine Karriere, denn wenige Tage nachdem sich Le Pen, Bardella und Kerridwen Chatillon auf dem Parteitag 2017 trafen, ernannte sie ihn zum nationalen Sprecher.

Bardella ist sehr präsent in den sozialen Netzwerken und folgt einer Strategie, die bei allen europäischen rechtsextremen Gruppen zu beobachten ist.
Das Prinzip ist einfach: Wenn es Ihnen gelingt, einen Wähler zu verführen, der gerade dabei ist, seine politische Identität zu entwickeln, stehen die Chancen gut, dass Sie ihn für die nächsten drei Jahrzehnte zu einem loyalen Wähler machen. Und im Fall von Bardellas RN geschieht dies mit der Firma e-Politic. Daran ist nichts Spontanes: Die kleinen Sofa-Videos, Backstage-Videos, die scheinbar seine Tür für die Öffentlichkeit öffnen, werden von Kommunikationsprofis gemacht, die das Material dann in den sozialen Netzwerken verbreiten. Die Liste, die er bei den Europawahlen anführte, schnitt bei jungen Wähler*innen und Frauen sehr gut ab, zwei der Kernzielgruppen des RN.

In diesen Netzwerken verwendet er eine umweltfreundliche, feministische und sogar antikapitalistische Rhetorik, die im Gegensatz zu seinen Entscheidungen als gewählter Amtsträger steht.
Manche Leute weisen gerne darauf hin, dass Bardella und der RN nicht die Einzigen sind, die nicht tun, was sie sagen. Das ist nicht unbedingt falsch, aber bei ihnen ist das eine Lebensweise. Bardella verbringt seine Zeit damit, in den Netzwerken „Weiß“ zu sagen, um junge Leute oder Frauen für sich zu gewinnen, und stimmt dann im Europäischen Parlament „Schwarz“.

Aber hat er wirklich irgendwelche echten Überzeugungen zu irgendetwas?
Er ist ein Opportunist, ohne ideologisches Rückgrat, Fremdenfeindlichkeit genügt dafür nicht. Ich nenne ihn ein „Chamäleon“. Er ändert seine Melodie je nachdem, was die Leute hören wollen. Er ist ein reines Marketingprodukt. Bei seinen ersten Medienauftritten 2016-2017, als er nationaler Sprecher war, war er sehr steif und unbeholfen: Das Gegenteil von dem, was er heute ist. Diese Metamorphose ist kein Wunder, sondern das Ergebnis langer und geduldiger Medientrainings und Storytelling-Arbeit, die mit Pascal Humeau durchgeführt wurde, einem ehemaligen Journalisten und Fernsehmoderator, der zum Hardcore-Rechtsaußen-Spin-Doktor wurde. Ziel war es, ihn zur Projektonsfläche für Wähler*innen zu machen. In meinem Buch transkribiere ich Humeaus Aussagen: „Jordan Bardella war eine leere Hülle. Er las nicht, er informierte sich nicht, und wir mussten ihm alles beibringen: Wie man herzlich ist, wie man in Debatten bissig ist… Die Mission, die Marine Le Pen mir gegeben hatte, war, ihn in einen sympathischen Faschisten zu verwandeln!“ Tatsächlich war es Marine Le Pen, die sein Potenzial schnell erkannte. Zunächst einmal heißt er Jordan, was eine sehr proletarische Konnotation hat. Und Bardella ist ein Name, der aus der italienischen Einwanderung stammt. Das ist das Gegenteil von dem, was sie selbst ist, eine Frau aus der Mittelschicht, die in finanziellem Wohlstand lebt. Sie ergänzen sich extrem gut.

Seit dem 7. Oktober 2023 versucht der RN die jüdische Community in Frankreich für sich zu gewinnen. Wie ist das Verhältnis zwischen Jüdinnen*Juden und der rechtsextremen Partei?
Es gibt einen Teil der jüdischen Bevölkerung, der dafür empfänglich ist, dass der RN seit dem 7. Oktober ständig eine pro-jüdische und pro-israelische Linie gegen den radikalen Islamismus vertritt. Ich verstehe, dass dies auf den schrecklichen Hamas-Angriff zurückgeht, das ist offensichtlich. Aber löscht das über 50 Jahre Geschichte einer Partei aus, die mit Unterstützung ehemaliger Waffen-SS-Männer gegründet wurde? Löscht das die andauernde finanzielle Verbindung zwischen der Partei und den Unternehmen ehemaliger antisemitischer GUD-Kader aus? Meiner Meinung nach nein. Die Verträge laufen weiter. e-Politic arbeitet immer noch mit dem RN zusammen. Wir müssen die Aufrichtigkeit dieser pro-jüdischen und pro-israelischen Haltung klar in Frage stellen.

Wie analysieren Sie vor diesem Hintergrund Jordan Bardellas Reise nach Israel mit Marion Maréchal-Le Pen?
Ich sage nicht, dass Jordan Bardella selbst antisemitisch ist, aber stelle andererseits fest, dass er sein ganzes Leben lang, seine ganze Karriere lang, von der Bekanntschaft mit bestimmten Antisemiten zu profitieren wusste und dass dies für ihn nie ein Problem war. Neben Chatillon und Rachline vertrat Jean-François Jalkh, sein allererster Arbeitgeber im Europäischen Parlament, im Jahr 2000 die Ansicht, dass Zyklon B nicht zur Durchführung des Holocaust hätte verwendet werden können, da es aus technischer Sicht nicht funktioniert hätte. Gilles Pennelle, der bis letztes Jahr Generaldirektor des Rassemblement National war, stand vor etwa zwanzig Jahren den Neuheiden sehr nahe. Er feierte die „Kristallnacht” mit seinen Neonazi-Kumpels. Antisemitismus ist sehr real im Rassemblement National. Wenn man also Jordan Bardella durch Israel und zur Gedenkstätte für die Opfer der Shoah spazieren sieht, kann man nicht umhin, eine riesige Kluft zwischen seinem Hintergrund und diesem Besuch festzustellen.

Geht der Bruch des Bündnisses mit der AfD im Europäischen Parlament in die gleiche Richtung?
RN und AfD waren jahrelang Verbündete im Europäischen Parlament in der ID-Fraktion. Als Maximilian Krah im Mai 2024 sagte, ein SS-Mann sei „nicht automatisch ein Verbrecher“, schien die RN-Führung plötzlich zu entdecken, dass es Neonazi-Sympathien in der AfD gibt. Das ist ein Witz! Jeder wusste davon! Es verursachte einen solchen Skandal, dass Bardella gezwungen war, Krah drei Wochen vor den Europawahlen aufzufordern, die Fraktion zu verlassen.

In Ihrem Buch zeigen Sie, dass Bardella und der RN trotz gegenteiliger Aussagen immer noch Sympathien für Wladimir Putins Russland hegen.
Bardella war Mitglied des Cercle Pouchkine, des „jungen“ Gegenstücks zum Dialogue Franco-Russe, einem prorussischen Einflussgremiums, das von Pierre Gentillet unter der Führung von Thierry Mariani gegründet wurde, einem ehemaligen Abgeordneten der Mitte-Rechts-Partei Les Républicains, der zum RN wechselte und ein entschiedener Unterstützer der Regime von Putin und Baschar al-Assad ist. Gentillet war 2024 immer noch Kandidat für die Parlamentswahlen und bleibt einer der engsten Freunde des Parteivorsitzenden. Selbst nach dem Maidan, selbst nach der Invasion der Krim, blieb Bardella prorussisch und pro-Putin. Als er im Februar 2023 sagte, „Patriot und Souveränist zu sein bedeutet, sich für die Verteidigung der territorialen Integrität der Ukraine einzusetzen“, denke ich mir, dass er entweder seine Meinung geändert hatte oder, was wahrscheinlicher ist, es opportunistisch war: Er wusste, dass der russische Klotz am Bein den RN daran hinderte, an die Macht zu kommen. Er schlug vor, die Parteilinie zu ändern, im Stil von Giorgia Meloni aus Italien, die mehr für die Ukraine und Selenskyj ist. Aber wenn man sich seine Abstimmungen und die seiner RN-Kollegen im Europäischen Parlament zur Frage der Unterstützung der Ukraine ansieht, stimmt er entweder dagegen, enthält sich oder ist abwesend. In allen Fällen weigert er sich, Russland zu verurteilen. Der RN und Putin sind politische Verbündete.

Wegen Veruntreuung von EU-Geldern darf Le Pen fünf Jahre lang nicht für ein politisches Amt kandidieren, so urteilte ein Gericht im März 2025. Die darauf folgenden Angriffe auf die Richter haben die Grenzen der „Entdämonisierung“ oder Normalisierung des RN gezeigt. Hat das dem Image der Partei geschadet?
Der Lack der Pseudo-Entdämonisierung bekam für einige Tage Risse. Die antisystemische und antirepublikanische Natur des RN tauchte wieder auf, insbesondere durch die Angriffe auf die Justiz, eine der Säulen der französischen Demokratie. Das ist ein Zeichen der rechtsextremen Gesinnung. Sie haben sich schnell wieder gefasst, da sie nicht riskieren wollten, 10 Jahre „Entdämonisierungs“-Strategie über Bord zu werfen. Heute sind sie diskreter.

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