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Jahresrückblick 2021 Nordrhein-Westfalen – „Schwurbler“ und „Rechte Irrlichter“

Dieser Nazi ist tot: Der Dortmunder "SS-Siggi" Siegfried Borchert stirbt 2021 mit 67. (Quelle: picture alliance / dpa)

Es war eine bizarre Inszenierung, die am Nachmittag des 9. Oktober 2021 in der Dortmunder Innenstadt aufgeführt wurde. Rund 500 aus ganz Deutschland, aber auch aus anderen europäischen Ländern angereiste Neonazis formierten sich am Hauptbahnhof ausstaffiert mit schwarzen Fahnen hinter einem Transparent mit der Aufschrift „Siggi – Legenden sterben nie“ zu einem Demonstrationszug. Aus dem Lautsprecherwagen schallte Musik von Richard Wagner, die aber stellenweise vom lautstarken Protest antifaschistischer Gegendemonstrant:innen übertönt wurde, die sich entlang des Aufmarschweges postiert hatten. Flankiert von einem Großaufgebot der Polizei zog die braune Truppe in den Stadtteil Dorstfeld, um dort, in unmittelbarer Nähe seines Wohnhauses, Siegfried Borchardt zu ehren, der einige Tage zuvor im Alter von 67 Jahren verstorben war.

Legenden sterben doch – Tod eines Neonazis

Der von seinen Kamerad*innen zur „Legende“ deklarierte „Siggi“, der seit den 1980er Jahren in der extremen Rechten wie auch in den Medien als „SS-Siggi“ firmierte, war vor allem eins: Ein mehrfach verurteilter Gewalttäter, mit einer Jahrzehntelangen Karriere im neonazistischen Spektrum, die von der Gründung der extrem rechten Hooligangruppierung „Borussenfront“ im Jahr 1982, über die „Aktionsfront Nationaler Sozialisten“ und die 1995 verbotene „Freiheitliche Arbeiterpartei“ (FAP), als deren nordrhein-westfälischer Landesvorsitzender er zwischenzeitlich amtierte, bis hin zur 2012 gegründeten Partei „Die Rechte“ reichte, als deren Dortmunder Kreisvorsitzender er zeitweise fungierte und für die er im Jahr 2014 in den Rat der Stadt Dortmund eingezogen war, ohne freilich sein Mandat längerfristig wahrzunehmen.

Obgleich Borchardt seit Jahren keine tragende Rolle mehr in der Neonaziszene der Ruhrgebietsmetropole spielte, knüpfte sich an dessen Tod in der lokalen Politik und in den Medien teilweise die Erwartung, dass sich der vermeintlich zu beobachtende Niedergang der militanten Rechten in der Stadt weiter beschleunigen werde.

Tatsächlich befindet sich in Folge des Wegzugs maßgeblicher Aktivisten, staatlicher Repression sowie kontinuierlichem zivilgesellschaftlichen und antifaschistischen Engagement, die über Jahrzehnte gewachsene Dortmunder Neonaziszene im Umbruch und hat erkennbar sowohl an Anziehungskraft als auch an Mobilsierungsfähigkeit eingebüßt. Bildete Dortmund lange Zeit den auch medial stark beachteten Kristallisationspunkt des Neonazismus in NRW, scheint sich nunmehr dieser exponierte Status zu relativieren. Die vereinzelt zu vernehmenden Abgesänge auf die Dortmunder Szene, die sich um den aus dem 2021 verbotenen „Nationalen Widerstand Dortmund“ hervorgegangenen Kreisverband der Partei „Die Rechte“ gruppiert, sind indessen voreilig und unangebracht. So betont auch Leroy Böthel, von der „Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Arnsberg“, dass unabhängig vom Tod Siegfried Borchardts, der zuletzt vorwiegend nur noch auf symbolischer Ebene als generationenübergreifende „Identifikationsfigur“ eine Rolle gespielt habe, nach wie vor ein neonazistisches Milieu bestehe, „das sich über Jahre so verfestigt“ habe, dass „von ihm weiterhin ein großes Gefahrenpotential ausgeht.“

„Weiterhin großes Gefahrenpotential“ – Die Partei „Die Rechte“

Dies verdeutlichte nicht zuletzt der „Trauermarsch“ für Siegfried Borchardt, zu dem mit einer Vorlaufzeit von nur wenigen Tagen mobilisiert worden war, der gleichwohl aber mit 500 Teilnehmenden das größte neonazistische Demonstrationsevent des Jahres 2021 in NRW darstellte. Ebenso zeigte sich anlässlich des maßgeblich von Alexander Deptolla, NRW-Landesvorsitzer der Partei „Die Rechte“ organisierten Aufmarsches die weiterhin bestehende nationale und internationale Vernetzung der Dortmunder Szene, waren doch neben den langjährigen bundesdeutschen Neonaziaktivisten Thomas Wulff, Christian Worch und Thorsten Heise auch William Browning, Europa-Chef des militant-neonazistischen Netzwerks „Combat 18“ (C18) und Stanley Röske, Führer des deutschen C18-Ablegers erschienen.

Bildete der „Trauermarsch“ im Oktober den Höhepunkt extrem rechter Straßenpolitik in Dortmund im Jahr 2021, veranstaltete „Die Rechte“ zudem eine Reihe kleinerer Kundgebungen, zu denen sie allerdings meist nur Teilnehmende in einer zweistelligen Größenordnung mobilisieren konnte. Eine Ausnahme bildete hier lediglich der 1. Mai, an dem „Die Rechte“ gemeinsam mit der NPD nacheinander in Dortmund, Essen und Düsseldorf aufmarschierte. Ansonsten beteiligten sich Aktivist:innen der Dortmunder Neonaziszene an Demonstrationen und Kundgebungen, die aus dem Spektrum der Pandemieleugner:innen organisiert wurden.

Die unverkennbare Gewaltbereitschaft zeigte sich etwa im August 2021 als Neonazis eine antifaschistische Demonstration mit Böllern und Steinen attackierten. Ferner tritt seit diesem Jahr eine Gruppierung unter dem Namen „Frontline Skinheads Dortmund-Dorstfeld“ in Erscheinung, die Verbindungen zu „Die Rechte“ unterhält, aus der vormaligen „Skinheadfront Dortmund-Dorstfeld“ hervorgegangen ist und sich im ebenso klassischen wie martialischen Bomberjacken- und Springerstiefel-Outfit präsentiert.

Während „Die Rechte“ also weiterhin ihren aktivistischen und organisatorischen Schwerpunkt in Dortmund hat, ist die Partei aber auch vereinzelt in anderen Regionen Nordrhein-Westfalens aktiv. Zu nennen ist hier etwa „Die Rechte Rhein-Erft“, die sich im Kontext der Flutkatastrophe im Juli 2021 als „Kümmerer“ zu inszenieren versuchte und in diesem Zusammenhang das Konto des Kreisverbandes als Spendenkonto bekannt machte. Zudem beteiligte sich „Die Rechte Rhein-Erft“ an mehreren Protestaktionen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Auch andere Ableger der Partei „Die Rechte“, etwa der Kreisverband Gelsenkirchen/Recklinghausen traten im Laufe des Jahres im Rahmen von Aufmärschen und Kundgebungen in Erscheinung, waren aber kaum in der Lage eigenständige Aktivitäten zu entwickeln. Insofern stagnierte in NRW „Die Rechte“, die auch nicht an der Bundestagswahl im September teilnahm.

Neonazismus im Siegerland – „Der III. Weg“

Rege Aktivitäten entfaltete indessen die neonazistische Kleinstpartei „Der III. Weg“, mit ihrem Stützpunkt „Sauerland-Süd“, der vor allem im Sieger- und im Sauerland zu mehreren Versammlungen mobilisierte, die sich gegen die Corona-Schutzmaßnahmen ebenso richteten wie gegen den Christopher-Street-Day in Siegen. Dort rief „Der III. Weg“ am 1. Mai auch zu einer Kundgebung zu einem „Tag der Heimat“ auf. Wenngleich sich die Teilnehmer:innenzahlen regelmäßig im mittleren zweistelligen Bereich bewegten und unter dem Mobilisierungspotential der Partei „Die Rechte“ blieben, scheint das strategische Ziel der offen nationalsozialistisch auftretenden Organisation unverkennbar, sich zumindest regional und in Abgrenzung zu NPD und „Die Rechte“ im bevölkerungsreichsten Bundesland zu verankern. In dieser Hinsicht musste „Der III. Weg“ im Laufe des Jahres jedoch einen Rückschlag verbuchen, da der Mietvertrag für ein von der Partei unterhaltenes Büro in Siegen nicht verlängert wurde. Ob dies Einfluss auf den sich gewaltaffin gebärdenden völkischen Aktivismus des „Stützpunktes“ haben wird, bleibt freilich abzuwarten.

„Rechte Irrlichter“ – „Neue Stärke“

Ein weiterer neonazistischer Zusammenschluss, der in NRW im Jahr 2021 erstmals in Erscheinung trat, ist die Gruppierung „Neue Stärke“, die im Sommer 2020 in Erfurt von ehemaligen Kadern der Partei „Der III. Weg“ als Verein gegründet wurde und sich im November 2021 als Partei formierte. In ihrer völkisch-rassistischen Propaganda wie auch in ihren Selbstinszenierungspraktiken unterscheidet sich die „Neue Stärke“ kaum von „Der III. Weg“. In NRW verfügt die Partei über einen Ableger in Westfalen, der von Markus Rahmsdorf repräsentiert wird, einem Akteur, der sich im vergangenen Kommunalwahlkampf als Security bei AfD-Wahlkampfständen betätigt hatte und im Juni 2021 als Redner bei einer Kundgebung der extrem rechten Gruppierung „Patriotic Opposition Europe“ (POE) in Münster aufgefallen war. Das Bündnis „Keinen Meter den Nazis in Münster rechnet Rahmsdorf „klar dem Neonazispektrum“ zu. Sein Auftritt wurde dementsprechend von lautstarken Protesten begleitet. Ob sich die „Neue Stärke“ um Markus Rahmsdorf in NRW tatsächlich verankern kann, ist indessen höchst fragwürdig. Eine Mitarbeiterin der „Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Münster“ schätzt ihn als „rechtes Irrlicht“ mit „gefestigter Ideologie“ ein, der jedoch „vermutlich nicht in der Lage“ sei, „Leute zu mobilisieren.“

Ans Licht gezerrt – „Hammerskins“ in NRW

Darauf, dass über die neonazistischen Kleinstparteien „Die Rechte“ und „Der III. Weg“ in NRW jedoch weitere, offenkundig gut vernetzte, schon länger bestehende,  in der Öffentlichkeit aber kaum wahrgenommene Neonazistrukturen existieren, machte im Juli 2021 die antifaschistische Rechecheplattform „Exif mit einem umfassenden Hintergrundbericht über das „Geheime Netzwerk der Hammerskins“ aufmerksam, das in NRW über zwei „Chapter“ („Rheinland“ und „Westfalen“) verfügt und sich als „Elite“ innerhalb des neonazistischen Spektrums begreift. Der Fokus richtete sich hier u.a. auf Hendrik Stiewe, ehemals Verbindungsstudent der Bielefelder Burschenschaft Normania-Nibelungen und Rechtsrockproduzent, um den sich in Bochum eine Hammerskin-Clique formierte, deren Mitglieder nach außen weitgehend ein unauffällig bürgerliches Leben führten, als Aktivisten des Chapters Westfalen aber maßgeblich an der konspirativen Organisation von Rechtsrock-Konzerten beteiligt waren. Für einige „Hammerskins“ hatte die Veröffentlichung der Recherche Folgen: Zwei von ihnen verloren ihre Anstellung bei der Stadt Bochum, ein weiterer wurde mitsamt seiner Partnerin aus einem Sportverein, bei dem er als Jugendtrainer fungiert hatte, ausgeschlossen.

Vigilantismus in Essen – „Steeler Jungs“

An der Vergemeinschaftungsform der „Bruderschaft“ orientieren sich in NRW jedoch nicht nur die „Hammerskins“, sondern auch weniger konspirativ auftretende extrem rechte Zusammenschlüsse aus dem Spektrum der seit 2015 entstandenen vigilantischen Gruppierungen, die als selbsternannte „Bürgerwehren“ in einigen Städten demonstrative „Spaziergänge“ veranstalteten um, Sozialräume in ihrem Sinne zu dominieren. Fragwürdige Prominenz gewannen hier vor allem die „Steeler Jungs“, die mit ihren wöchentlichen Aufmärschen im Essener Stadtteil Steele ein Klima der Einschüchterung zu schaffen versuchten. Die regelmäßigen „Spaziergänge“ finden zwar nicht mehr statt, gleichwohl sind die sich vorwiegend aus Hooligan-, Rocker- und Türsteherszenen rekrutierenden Anhänger*innen der „Steeler Jungs“ weiterhin im Stadtbild präsent. Nach Angaben des BündnissesMut machen – Steele bleibt bunt wurden im Sommer 2021 Menschen, die öffentlich gegen die Gruppierung Position beziehen, bedroht.

Rassistische Instrumentalisierung sexualisierter Gewalt – „Lukreta“

Aber auch andere Spektren der (außerparlamentarischen) extremen Rechten entwickelten im Jahr 2021 in NRW wahrnehmbare Aktivitäten oder setzten ihren bereits bestehenden Aktivismus unter einem modifizierten Label fort. Zu nennen ist hier etwa das maßgeblich von Reinhild Boßdorf betriebene Projekt „Lukreta“, das aus der Mitte 2019 aufgelösten, dem Umfeld der auch in NRW weitgehend brachliegenden „Identitären Bewegung“ entstammenden Gruppierung „120 Dezibel“ hervorgegangen ist und im vergangenen Jahr vor allem im Raum Köln-Bonn Aktivitäten entfaltete.  Wie schon bei „120 Dezibel“ liegt der Schwerpunkt der Agitation von „Lukreta“ auf der rassistischen Instrumentalisierung sexualisierter Gewalt. In diesem Kontext geben deren Aktivist*innen vor, an die Opfer von Femiziden erinnern zu wollen – freilich immer nur dann, wenn nicht-weiße Männer als Tatverdächtige in Betracht kommen. Ferner postulieren sie einen „wahren Feminismus“, vertreten aber ein traditionelles und heteronormatives Frauenbild und sprechen sich gegen Schwangerschaftsabbrüche aus. Aktivistinnen von „Lukreta“ nahmen in Köln an der an der (globalen) Kampagne „One Billion Rising“ teil und versuchten zu diesem Anlass ihre rassistischen Positionen anschlussfähig zu machen.

„Anastasia“ in Ostwestfalen

Um Anschlussfähigkeit bemühten sich im Jahr 2021 offenkundig auch Protagonist:innen eines extrem rechten Spektrums, das bislang in NRW noch nicht verankert war. So wurden im September 2021 die Bemühungen von Anhänger:innen der völkisch-antisemitischen „Anastasia“-Bewegung bekannt, im ostwestfälischen Kreis Lippe Fuß zu fassen. In der „Lebensgemeinschaft Rawaule“ in Dörentrup stehen zumindest Teile der Mitglieder den antimodernen, verschwörungsideologisch geprägten weltanschaulichen Positionen der „Anastasia“-Bewegung nahe, einige von ihnen nahmen 2020 an einer Sonnenwendfeier an den Externsteinen in der Nähe von Detmold teil, die über eine „Anastasia“-Telegramgruppe organisiert wurde. Zudem suchte ein Zusammenhang von fünf Familien aus dem Raum Detmold über Ebay Kleinanzeigen nach einem Gemeinschaftshaus. Illustriert wurde die Anzeige mit dem Cover eines der Bände aus der insgesamt 10-teiligen Reihe der „Anastasia“-Romane des russischen Autors Wladimir Megre. Weitere, zumal erfolgreiche Bemühungen, Grundstücke oder Anwesen zu erwerben, sind bislang allerdings nicht bekannt geworden.

Schwurbeln und Schlagen – Pandemieleugner*innen

Allerdings finden sich positive Bezugnahmen auf die Weltanschauung der „Anastasia“-Bewegung immer wieder in Chatgruppen, in denen Pandemieleugner:innen und Impfgegner:innen miteinander kommunizieren. Im Hinblick auf die massenhafte Verbreitung extrem rechter, antisemitischer und verschwörungsideologischer Positionen stellte dieses soziologisch und organisatorisch äußerst heterogene Spektrum, das in Teilen durch eine zunehmende Gewaltbereitschaft gekennzeichnet ist, eine der zentralen Herausforderungen für zivilgesellschaftliche und antifaschistische Akteur:innen, aber auch für Beratungsstellen in NRW im Jahr 2021 dar, die in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Rassismus und anderen Ungleichwertigkeitsvorstellungen Unterstützung anbieten.

Die Zahl der – meist beim Messengerdienst Telegram angesiedelten – Chatgruppen nahm dabei ebenso zu, wie der Aktivismus auf der Straße, der in Form von „Mahnwachen“, Kundgebungen, Autokorsi, Demonstrationen oder demonstrativen „Spaziergängen“ zum Ausdruck kam. Allein im ostwestfälischen Regierungsbezirk Detmold registrierte die dortige „Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus“ bis zum Ende des Jahres über 250 Aktionen von Pandemieleugner:innen und Impfgegner:innen, die meisten davon allerdings mit eher niedriger zweistelliger Teilnehmendenzahl, wobei die Resonanz dieser Veranstaltungen in den vergangenen Wochen landesweit deutlich wuchs, wie etwa die Protestaktionen Mitte Dezember in Düsseldorf (6000 Teilnehmende), Münster (1300  Teilnehmende) oder Bielefeld (2000 Teilnehmende) und weiteren Städten zeigten.

Im Rahmen dieser Versammlungen wurden durchweg verschwörungsideologische und geschichtsrevisionistische Parolen verbreitet, die die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie mit dem Terror des NS-Regimes gleichsetzen. In Bielefeld beteiligten sich an „Mahnwachen“ gegen die Corona-Politik auch Akteur:innen, die in den Jahren 2018/2019 gegen die Inhaftierung der notorischen Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck protestiert hatten. Die vollkommene Distanzlosigkeit zu erkennbar extrem rechten, mithin neonazistischen Akteur:innen und Positionen kennzeichnete aber auch die Proteste von Pandemieleugner:innen an nahezu allen anderen Orten in NRW.

Damit einher ging eine zunehmende Gewaltbereitschaft innerhalb dieses Spektrums, die sich etwa in (Brand)anschlägen auf Corona-Test-Stationen, beispielsweise in Bergkamen, Ahaus und Gronau spiegelte. Im sauerländischen Meschede erhielten zwei Bundestagsabgeordnete Morddrohungen, die im Deutschen Bundestag für das neue Infektionsschutzgesetz gestimmt hatten. Auf das Auto des mittlerweile als Bundesgesundheitsminister amtierenden SPD-Politikers Karl Lauterbach wurde eine Farbanschlag verübt. Zudem wurde seine Privatadresse in einer Telegram-Gruppe von Pandemieleugner:innen geleakt. Nicht zuletzt gab es im vergangenen Jahr zahlreiche gewalttätige Übergriffe auf Personen, die auf die Einhaltung der Maskenpflicht aufmerksam gemacht hatten.

Partei der „Querdenker:innen“ – „dieBasis“

Indessen ist die Szene der „Querdenker*innen“, Pandemieleugner*innen und Impfgegner*innen in NRW bislang kaum durch organisatorische Geschlossenheit gekennzeichnet. Vielmehr kam es im Laufe des Jahres immer wieder zu Spaltungen und internen Verwerfungen innerhalb des Milieus, wie etwa bei den „Corona-Rebellen Düsseldorf“, die noch im Jahr 2020 maßgeblich an der Organisation von Protesten beteiligt gewesen waren. Andernorts kam es zu internen Spannungen, da ein Teil der Szene offenbar die Verbreitung gefälschter Impfausweise postulierte, während andere jegliche Impfnachweise – auch gefälschte – verweigerten.  Gleichzeitig entstehen immer wieder neue, wenngleich nicht selten kurzlebige Zusammenschlüsse, die die Entwicklungen dieses fluiden Spektrums unübersichtlich machen.

Indessen gelang es der „Querdenker:innen“-Partei „dieBasis“ anlässlich der Bundestagswahl im September 2021 mit Wahlwerbung, aber auch mit Direktkandidat:innen relativ flächendeckend in NRW präsent zu sein. Mit 1 Prozent der Zweitstimmen (98.951 Wähler:innen) erzielte sie ein Ergebnis, das knapp unter dem bundesweiten Wahlergebnis von 1,4 Prozent lag.

Verschwörungsdenken und antifeministische Agitation – die AfD

Mit Polemiken gegen die gesundheitspolitischen Maßnahmen im Kontext der Corona-Pandemie versuchte auch die AfD in Nordrhein-Westfalen nicht nur im Hinblick auf die Bundestagswahl zu punkten. In manchen Regionen war die Partei bemüht, sich gleichsam als Speerspitze der Proteste zu inszenieren. So firmierte beispielsweise im ostwestfälischen Minden in den meisten Fällen die AfD als Veranstalterin der Corona-Proteste und bediente sich dabei regelmäßig einschlägiger verschwörungsideologischer Rhetorik, etwa wenn sich bei einer von der AfD organisierten „Freiheits-Demonstration“ am 1. Mai in Bad Oeynhausen, die Vorsitzende des AfD-Kreisverbandes Lippe hinter einem Transparent mit der Aufschrift „Stoppt den Great Reset“ postierte.

Zudem versuchte sich die AfD mit dezidiert antifeministischer Agitation und reaktionären familienpolitischen Postulaten inhaltlich zu profilieren und diese in gewohnter Weise mit ihren rassistischen Grundpositionen zu verknüpfen. Exemplarisch ist hier der so genannte „Kinderkongress“ zu nennen, der im August 2021 in den Räumen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in Münster von der AfD-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag, deren Mitglieder sich zu großen Teilen auch eingefunden hatten, veranstaltet wurde. Dabei wurde bereits in der Mobilisierung für den „Kongress“ das Thema „Kinderschutz“ als Vehikel für eigene ethnisierende oder coronaverharmlosende Aussagen genutzt.

Letztendlich handelte es sich bei der groß inszenierten Veranstaltung um ein überschaubares Hearing der AfD-Landtagsfraktion, das von Video- und Grußbotschaften führender Personalien der AfD und der „Jungen Alternative“ wie beispielsweise Björn Höcke, Daniel Haselhoff oder Marie-Thérèse Kaiser garniert wurde. Die schon genannte Gruppierung „Lukreta“ unterstützte den vermeintlichen Kongress ebenso wie die YouTube-Aktivistin Naomi Seibt aus Münster. Inhaltlich deckte die Veranstaltung ein breites Repertoire an extrem rechten und antifeministischen Argumentationslinien ab: In den Fokus der Polemik gerieten Schwangerschaftsabbrüche, gewarnt wurde vor der vermeintlichen Gefahr sexualisierter Gewaltstraftaten nicht-deutscher Täter, die Corona-Maßnahmen und Impfangebote der letzten Monate erschienen in der Sichtweise der Teilnehmenden als „Kindeswohlgefährdung“.

Die AfD und das „freundliche Gesicht des NS“

Auch andere AfD-Veranstaltungen im Vorfeld der Bundestagswahl, bei denen gegen „Armutszuwanderung“ (Horn-Bad Meinberg) oder „Migrantengewalt“ (Hennef) agitiert wurde, konnten meist allenfalls die Kernanhänger:innenschaft der Partei mobilisieren, so dass die Teilnehmendenzahlen sich in der Regel im niedrigen zweistelligen Bereich bewegten. Selbst Björn Höcke erwies sich mit knapp 200 Zuhörer:innen bei seinem Auftritt in Paderborn im September nur als mäßiges Zugpferd. Das Ergebnis der Bundestagswahl fiel für die AfD in Nordrhein-Westfalen mit 7,3 Prozent der Zweitstimmen – 2,2 Prozent weniger als 2017 – eher durchwachsen aus. Gleichwohl verfügt die Partei auch im bevölkerungsreichsten Bundesland offenkundig über eine feste Stammwähler:innenschaft, die ihr ungeachtet der zahllosen parteiinternen Querelen und Verwerfungen den sicheren Einzug in die Parlamente zu garantieren scheint. Die Hochburgen der AfD in NRW liegen dabei im Ruhrgebiet, wo sie in Gelsenkirchen 12,8 Prozent, im Wahlkreis Duisburg II 12,2 Prozent und im Wahlkreis Essen II 11,0 Prozent erzielen konnte.

Somit kann die nordrhein-westfälische AfD zwölf Abgeordnete (alles Männer) in den Deutschen Bundestag entsenden – wobei mit Matthias Helferich ein Mandatsträger inzwischen aus der Bundestagsfraktion ausgeschlossen wurde. Der aus Dortmund stammende enge Vertraute, des sich als gemäßigt national-konservativ inszenierenden Landesvorsitzenden Rüdiger Lucassen hatte sich in internen Chats, die im Sommer 2021 geleakt worden waren, als „das freundliche Gesicht des NS“ und als „demokratischer Freisler“ bezeichnet – ein Parteiausschlussverfahren fand indessen im Parteivorstand keine Mehrheit.

Es ist davon auszugehen, dass sich die Machtkämpfe innerhalb der NRW-AfD auch im kommenden Jahr fortsetzen werden – welche Auswirkungen diese für das Ergebnis der Rechtsaußenpartei bei der Landtagswahl im Mai 2022 haben werden, ist freilich offen. Insgesamt ist jedoch davon auszugehen, dass die bevorstehenden Wahlen den extrem rechten Aktivismus in den unterschiedlichen Spektren eher verstärken werden.

Perspektiven – Erinnern heißt Handeln

In der Rückschau auf das Jahr 2021 ist allerdings auch hervorzuheben, dass an vielen Orten extrem rechte Aktivitäten nicht unwidersprochen blieben und häufig auf mal mehr, mal weniger stark ausgeprägten Gegenprotest stießen. Zivilgesellschaftliches, antifaschistisches und rassismuskritisches Engagement war jedoch nicht nur reaktiv. Nicht erst im Zusammenhang mit dem zehnten Jahrestag der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 rücken verschiedene Initiativen die Erinnerung an die vielfach vergessenen oder von der Dominanzgesellschaft häufig gar nicht erst zur Kenntnis genommenen oder sogar negierten Opfer rechter Gewalt in NRW in den Fokus der Öffentlichkeit.  Sie machen darauf aufmerksam, dass rechte Gewalt auch in NRW immer schon zum Alltag gehörte und immer noch gehört. Sie fordern Aufklärung von vielfach bislang unaufgeklärten Taten sowie die Anerkennung der Opfer.

Zu nennen ist hier etwa das Bündnis „Tag der Solidarität – Kein Schlussstrich in Dortmund, das im April 2021 zum neunten Mal eine Gedenkkundgebung für Mehmet Kubaşık organisierte, der am 4. April 2006 in seinem Kiosk in der Dortmunder Nordstadt vom NSU ermordet worden war. Die Initiative Duisburg 1984 erinnert wiederum an die sieben Mitglieder der Familie Satır, die bei einem rassistischen Brandanschlag in Duisburg-Wannheimerort in der Nacht vom 26. auf den 27. August 1984 ums Leben gekommen waren. Der rassistische Charakter der Tat wurde erst durch die Recherchen und öffentlichen Interventionen der Initiative zur Kenntnis genommen. In Bochum nahmen im Oktober 2021 rund 70 Menschen an einer Demonstration in Erinnerung an Josef Anton Gera teil, der am 17. Oktober 1997 in Folge eines homofeindlichen Übergriffs in einem Krankenhaus verstarb. Anlässlich seines 25. Todestages forderten die Demonstrant:innen die Stadt Bochum u.a. auf, einen Platz in der Innenstadt nach Josef Anton Gera zu benennen und ein „Mahnmal gegen rechte Gewalt, soziale Ausgrenzung und Homophobie“ zu errichten.

Indes: Kritisches Erinnern an die Opfer Rechten Terrors vor und nach 1945 ist weiterhin mit Anfeindungen und Angriffen konfrontiert. Im vergangenen Jahr wurden in verschiedenen Orten, etwa in Herzogenrath, Stolpersteine und andere Erinnerungszeichen für die Opfer des Nationalsozialismus beschädigt. In Köln-Rodenkirchen zerstörten Unbekannte den Gedenkort für die Ermordeten des rassistischen Anschlags von Hanau. In Castrop-Rauxel wurde im August 2021 das Mahnmal für die Opfer des NSU geschändet. Es gibt also viel zu tun im Jahr 2022.

 

Mehr zu der Situation im Bundesland finden Sie bei der Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus NRW:

 

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