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KZ-Gedenkstätten auf TikTok „Was hat das mit mir zu tun?”

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Aktiv auf TikTok, um über den Holocaust aufzuklären: Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme. (Quelle: Screenshot TikTok)

Zum morgigen Holocaust-Gedenktag, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945, werden 11 Museen und Gedenkstätten aus Deutschland und Österreich anfangen, TikTok für die Vermittlung von Geschichtswissen zu nutzen oder ihre Arbeit auf der Plattform intensivieren. Die Plattform unterstützt diese Bemühungen zur „TikTok Shoah Education and Commemoration“. Weil Gedenkstättenmitarbeiter:innen nicht automatische TikTok-Influencer:innen sind, wurden sie geschult, angeleitet und beraten, und das sowohl inhaltlich von der Hebrew University Jerusalem und dem American Jewish Committee (AJC), das auch Sponsor des Projektes ist, als auch praktisch durch Social Media-Agenturen oder TikTok-Creator:innen, die bei der Videoproduktion halfen. Im Zentrum stand die Frage: Wie lässt sich komplexe Geschichte in kurzen Videoformaten beleuchten? Wer guckt sich das an? Und was ist mit dem antisemitischen Hass auf der Plattform?

„Es ist eine Herausforderung“

Denn zumindest im deutschsprachigen Raum ist Geschichtsvermittlung über TikTok noch ein Experimentierfeld, während der Antisemitismus auf der Plattform bereits in Deutschland wie auch international vielfach beschrieben wurde. Passend meint Daniel Botmann vom Zentralrat der Juden in Deutschland zur Eröffnungs-Pressekonferenz der Gedenkstätten-Aktion: „Wer große Reichweiten ermöglicht, muss auch große Verantwortung tragen.“ Insofern sieht er Holocaust-Erziehung auf TikTok, unterstützt von der Plattform, als ein wichtiges Zeichen, der Shoah-Leugunung und –Relativierung etwas entgegenzusetzen. Ähnlich argumentiert Remko Lemmhuis vom American Jewish Committee in Berlin: „Es ist eine Herausforderung, die Geschichte der Shoah an die nächste Generation zu vermitteln. Die Pandemie verschärft die Situation. Deshalb müssen Bildungsangebote dahin gehen, wo die jungen Menschen sind.“

Zeit wird es, denn „die jungen Menschen“ interessieren sich für Geschichte. 2020 waren dann nachgespielte Videos von Holocaust-Opfern unter Jugendlichen beliebt – wurden aber von Expert:innen oder Angehörigen der Opfer als respektlos und unangemessen kritisiert, auch wenn sie von den Jugendlichen durchaus mit einem Empathie-Gedanken gemeint waren. Ähnlich wie bei Selfies im Holocaust-Mahnmal oder Balancier-Fotos in KZ-Gedenkstätten galt auch hier: Nicht alles, was nicht böse gemeint ist, ist auch gut (gemacht).

„Eine wertvolle Zeit haben“

Tobias Henning, General Manager von TikTok Deutschland, möchte deshalb die „TikTok Shoah Education and Commemoration“ als Kontrapunkt setzen. Er beschreibt die Plattform als „Ort des kreativen Austausches und der Unterhaltung“, negiert aber nicht, „dass die Menschen hier auch Informationen, Bildung und Gedenken suchen.“ Hass und Falschinformationen stünden dem entgegen und sollten keinen Platz haben, weshalb die Plattform nicht nur moderiere, um Communitys zu schützen, sondern eben auch Bildungsprojekte unterstütze: „Damit unsere Nutzer:innen eine wertvolle Zeit auf TikTok haben können.“

Zu der sollen nun also auch Gedenkstätten beitragen. Beraten hat sie dabei Tobias Ebbrecht-Hartmann von der Hebrew University Jerusalem. Da im internationalen Kontext bereits länger Holocaust-Education auf Social Media erprobt wird, kann er Kenntnisse vermitteln, wie die Geschichtsvermittlung im Kurzvideoformat gelingen kann: „Auf TikTok haben wir es viel mit der Generation Z zu tun, die wollen wir erreichen. Aus der Forschung ist bekannt: Junge Menschen wollen keine Botschaften vorgesetzt bekommen, sie wollen Dinge selbst erkunden, sich mit konkreten Aspekten beschäftigen.“ Generation Z, das sind Menschen zwischen 16 und 24 Jahren, die auf TikTok besonders aktiv sind. Gerade die Interaktivität der Plattform – in den Kommentarspalten, aber auch über Reaktions-Formate wie Stitches oder Duetts ermögliche ein Lernen im Dialog, und rund 70 Prozent der Gedenkstätten, die Vermittlungsarbeit über TikTok machen, empfänden diese als sinnvoll.

Jugendliche Freiwillige führen virtuell durch die Gedenkstätten

Im deutschsprachigen Raum können sich Interessierte bisher vor allem auf dem Account der KZ-Gedenkstätte Neuengamme ansehen, wie das praktisch aussehen kann. Denn @neuengamme.memorial veröffentlicht seit November 2021 Videos, inzwischen sind es fast 40. Der Account hat fast 10.000 Follower:innen auf TikTok und 92.000 Likes. Hier lässt sich auch gut erkennen, wo das Potenzial der Gedenkstätten liegt: Sie haben junge Mitarbeiter:innen, Student:innen oder Ehrenamtliche, die als „Peer-to-peer“-Ansprechpersonen fungieren können. Und wenn diese vielleicht auch keine TikTok-Influencer:innen sind, haben sie Erfahrung in pädagogischer Geschichtsvermittlung, denn sie machen ja bereits Führungen über das Gelände der Camps – ohne Pandemie vor Ort, nun aber auch auf TikTok. Das Konzept geht auf: Junge Volunteers berichten über Aspekte, die ihnen relevant erscheinen – und bekommen eine Menge Reaktionen von Nutzer:innen. Manche Videos haben über 200 Kommentare. Menschen stellen Fragen, berichten von der Geschichte ihrer Familien, haben auch kritische Anmerkungen zur Gestaltung mancher Videos, wenn sie etwa TikTok-Challenge-Styles annehmen. „Könnt ihr auch ein Video zu den Symbolen auf den Gefängnisuniformen machen?“ „Was heißt das, die Gefangenen wurden unterschiedlich behandelt?“ „Da fahren wir in 2 Wochen hin.“ „Das ist einfach 10 Minuten von mir entfernt.“

Der Dialog sieht sehr konstruktiv aus, und Iris Groschek, Social Media-Leiterin der Gedenkstätte Neuengamme, sieht darin auch den größten Gewinn: „Es ist dialogische Vermittlung! Und genau das wollen wir ja auch.“ Sie gibt aber auch zu, dass nicht nur in den Videos, sondern auch in der Moderation viel Arbeit steckt: „Anfangs gab es schon viele unangemessene Kommentare, Holocaustleugnungen und Beleidigungen. Aber wir haben gelernt, blocken antisemitische Buzzwords, schalten die Kommentare erst frei, wenn wir sie gelesen haben. So geht es gut.“

„Was hat die Geschichte mit mir zu tun?“

Auch Marlene Wöckinger, Pädagogin der österreichischen KZ-Gedenkstätte Mauthausen, ist für diese bereits auf TikTok aktiv: „Wir wollen ja auch in der KZ-Gedenkstätte Denkanstöße geben: Was hat die Geschichte mit mir zu tun? So entsteht ein intensiver, persönlicher Dialog. Das geht auch auf TikTok.“ Zugleich sei aber ein reflektierter Umgang mit dem Medium nötig. Die Plattform TikTok macht ihr weniger aufgrund der Kürze der Videos Kopfzerbrechen, sondern vor allem in ihrer Emotionalisierung: „In der Schnelllebigkeit der Plattform brauche ich gute Aufhänger, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer:innen zu erlangen – aber ich will natürlich nicht manipulieren oder Emotionen unangemessen ausnutzen.“ Dafür startet der @mauthausenmemorial Account mit ihrer Erklärung, warum sie es so sinnvoll findet, in einer KZ-Gedenkstätte zu arbeiten. Und das so engagiert, dass es persönlich ansprechend ist und neugierig macht, ohne zu überwältigen.

Sowohl Neuengamme als auch Mauthausen haben sich für einen internationalen Ansatz entschieden für ihre TikTok-Arbeit: Ihre Videos sind auf Englisch. Andere Gedenkstätten, die morgen starten, werden aber auch auf Deutsch Videos veröffentlichen. Unter dem Hashtag #gedenkenbildet werden die Videos zu finden sein. Dabei sind u.a. die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen, die KZ-Gedenkstätte Dachau, der Geschichtsort Villa ten Hompel und das Jüdische Museum Berlin.

Daneben beteiligen sich auch Medien wie Der Standard und Creator:innen, die auf der Kurzvideoplattform über Geschichte und gesellschaftliche Themen aufklären. Die Creator*innen Leonie Schöler (heeyleonie) und Frau Löwenherz steuerten zuletzt Beiträge zum Gedenken, Social Media-Umgang in Gedenkstätten und jüdischen Widerstandskämpfer:innen bei. Auch der Account der Shoahüberlebenden Lily Ebert und ihrem Urenkel zeigt, wie soziale Medien dabei helfen können, über den Holocaust aufzuklären. Seit einem Jahr beantwortet die Überlebende Fragen ihrer jungen Community. Ihre Videos zeigen, dass auch in kurzen Formaten eine Vermittlung von komplexen Inhalten gelingen kann.

#Gedenkenbildet auf TikTok:

Beiträge:

Die Holocaustüberlebende Lily Ebert berichtet von ihren Erfahrungen auf TikTok:

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